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Italien
Streit um Reform des Wahlrechts eskaliert

Das bisherige italienische Wahlrecht ist nicht verfassungsgemäß. Für eine Reform ist Ministerpräsident Matteo Renzi auch auf Stimmen aus dem Berlusconi-Lager angewiesen. Doch der inzwischen verurteilte Ex-Ministerpräsident spielt auf Zeit, weil die Umfragen ihm keine guten Wahlergebnisse voraussagen.

Von Jan Christoph Kitzler |
    Matteo Renzi hält eine Rede und gestikuliert dabei.
    Renzi will das Gesetz noch bis Jahresende ins Parlament bringen (picture alliance / dpa / Fabio Frustaci)
    Reform ist ein Wort, das im derzeitigen Italien fast schon ein wenig inflationär gebraucht wird. Bei allem Reden über Reformen geraten die konkreten Ergebnisse manchmal etwas aus dem Blickfeld.
    Viele Reformen, die die Regierung von Matteo Renzi anpacken will, sind wichtig. Aber an der baldigen Reform des Wahlrechts führt schlichtweg kein Weg vorbei. Mitte Januar dieses Jahres hatte das Verfassungsgericht die alte Regelung weggewischt, die in Italien Porcellum, Schweinerei, genannt wird. Der Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler Fulco Lanchester über die Gründe:
    "Das Verfassungsgericht war der Meinung, dass das Wahlrecht nicht verfassungsgemäß ist. Denn einerseits verhindert es die freie Wahl des Wählers, andererseits ist es nicht proportional, im Sinne, dass es zwischen der Regierbarkeit und Selektivität kein gerechtes Gleichgewicht gibt."
    Renzi braucht eine schnelle Reform
    Für Matteo Renzi hieß das: eine schnelle Reform. Der immer noch nicht 40-jährige Regierungschef will das Gesetz noch bis Jahresende ins Parlament bringen. Er braucht als Druckmittel auch die Option von Neuwahlen – aber eben nur mit einem gültigen Wahlrecht.
    Und deshalb lud er zum Schrecken einiger seiner Parteigenossen drei Tage nach dem Richterspruch im Januar sogar Silvio Berlusconi in die Parteizentrale am römischen Largo Nazareno ein. Seitdem gibt es zumindest in der Theorie das gemeinsame Ziel der Reform, man spricht vom Patto del Nazareno, dem Nazarener-Pakt zwischen Renzi und Berlusconi.
    Doch inzwischen wird deutlich: Wo der junge Premier voranprescht, spielt der langjährige, inzwischen verurteilte Ex-Ministerpräsident auf Zeit. Die Umfragen verheißen Silvio Berlusconi im Falle von Neuwahlen nichts Gutes. Und er will den Preis hochtreiben für die Zustimmung seiner Abgeordneten. In den letzten Wochen reagiert Matteo Renzi zunehmend genervt:
    "Man kann den Nazarener-Pakt nicht aufhalten oder verlangsamen, weil irgendwer Angst hat, mit den Reformen weiter zu machen. Wenn es jemanden gibt, der sagt: 'Wir müssen blocken, anhalten, uns Zeit nehmen, unterbrechen, noch etwas warten', sagen wir: 'Wir machen weiter, auch allein weiter'. Denn es gibt eine gewisse Dringlichkeit bei den Reformen, bei den Spielregeln."
    Streit um Sperrklausel
    Streitpunkt ist zum Beispiel die Sperrklausel für die kleinen Parteien. Berlusconi würde sie gern höher setzen, um selbst die Sitze zu kassieren. Renzi hofft auf mehr Optionen für Regierungsbündnisse. Auch der Bonus für die stärkste Partei ist noch nicht geklärt. Einerseits soll er für stabilere Mehrheiten sorgen, andererseits hatten die Verfassungsrichter kritisiert, dass er das Wahlergebnis verzerre.
    Und dann kommt noch Staatspräsident Napolitano ins Spiel. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der 89-Jährige lieber heute als morgen sein Amt aufgeben würde – aber wohl nur mit einem gültigen Wahlrecht. Derweil werden schon seine möglichen Nachfolger ins Spiel gebracht – und mögliche Deals ausgelotet.
    Formal zuständig in der Regierung ist Maria Elena Boschi, die 33-jährige Ministerin für Verfassungsreformen. Sie hofft immer noch auf ein Einlenken von Forza Italia:
    "Ich hoffe, das Forza Italia weitermacht auf dem Weg der Reformen des Wahlrechts und der Verfassungsreformen zusammen mit der Mehrheit. Aber wir können leider nicht auf Forza Italia warten. Ich hoffe, dass sie das intern klären und die Meinungsverschiedenheiten überwinden, damit wir weiter machen können. Denn wir müssen die Aufgaben lösen, die wir gegenüber den Bürgern haben."
    Dennoch: Ein Ultimatum Renzis hat Berlusconi erst einmal verstreichen lassen. Der Verfassungsrechtler Fulco Lanchester gibt zu bedenken, dass Italiens Politik ein großes Legitimitätsproblem hat. Nicht nur, weil Renzi seit 2011 schon der dritte Premierminister ist, der nicht vom Volk gewählt wurde:
    "Nach dem Richterspruch hätten wir sofort wählen müssen. Denn wenn die Richter sagen: In neun Jahren, seit dieses Wahlrecht in Kraft ist, gab es zwei Wahlen, und ein Parlament, das mit einem nicht legitimen Gesetz gewählt wurde. Also ist das einzige, sich um neue Legitimität zu bemühen. Aber alle haben Angst vor der Wahl."
    So ist die Reform des Wahlrechts tatsächlich eine Art Mutter der Reformen – und gleichzeitig Ausdruck für den fragilen Zustand Italiens.