Die Beziehung zwischen Italien und Libyen ist eng. Das hat nicht nur mit der geografischen Nähe der beiden Länder zu tun, nur knapp 290 Kilometer Mittelmeer trennen sie an der engsten Stelle. Ihre besondere Beziehung fußt auf einer grausamen Geschichte.
"Die Geschichte des europäischen Kolonialismus hat 500 Jahre gedauert. Sie begann 1415 und endete Ende des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1800 und 1900 fand ein Wettlauf um die Gebiete statt, die noch nicht kolonisiert worden waren, der so genannte Scramble for Africa. Italien hat an diesem Wettlauf teilgenommen."
Der Historiker Nicola Labanca lehrt als Professor an der Universität von Siena und hat etliche Werke über den italienischen Kolonialismus geschrieben.
1892 brachten die Italiener Eritrea und Somalia unter ihre Kontrolle. Ihr Angriff auf Äthiopien wurde aber von den Truppen des Kaisers Menelik abgewehrt. Sie fügten den Italienern am 1. März 1896 eine bittere Niederlage zu. Die Schlacht von Adua, einer Stadt an der eritreisch-äthiopischen Grenze, brannte sich in das kollektive Gedächtnis als nationale Schmach ein.
"Nach der Niederlage von Adua strebte Italien weiterhin nach Eroberungen am Mittelmeer. Anders als die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien zeigte das Osmanische Reich Anzeichen von Schwäche – darin sah Italien eine Chance. Es wollte sich Libyen unter den Nagel reißen, wie es Frankreich mit Algerien und Großbritannien mit Ägypten getan hatte. Mit diesen Mächten wurden diplomatische Vereinbarungen getroffen, nach denen Italien das Osmanische Reich herausfordern durfte."
Krieg gegen das Osmanische Reich
Am 4. Oktober 1911 landeten italienische Marineeinheiten in Tobruk, einen Tag später zogen sie in Tripolis ein. Die osmanischen Truppen zogen sich nach wenigen Feuergefechten ins Hinterland zurück und begannen, libysche Widerstandskämpfer auszubilden.
"Nach einem Monat holten die osmanisch-libyschen Truppen zu einem wohl überlegten Gegenschlag aus. In einer Gegend am Rande von Tripolis, die Sciara Sciat heißt, überraschten sie einige hundert italienische Soldaten und töteten sie. Daraufhin übten die Italiener grausame Rache. Sie durchkämmten Tripolis und erschossen auf der Stelle jeden, der eine Waffe besaß. Es gab tausende Opfer – in einer Stadt, die damals ungefähr 30.000 Einwohner hatte."
Etwa fünf- bis sechstausend Libyer wurden auf italienische Strafinseln deportiert. Erst der Angriff der italienischen Marine auf die Dodekanes Inseln in der Ägäis zwang das Osmanische Reich zu Friedensverhandlungen. Der im Oktober 1912 unterzeichnete Friedensvertrag von Lausanne sah vor, dass die Osmanen ihre Truppen aus Libyen zurückzogen, aber die religiöse Oberhoheit im Land behielten. Im Sommer 1913, als die osmanischen Soldaten Libyen tatsächlich verließen, ging der türkisch-italienische Krieg zu Ende. Der libysch-italienische Krieg begann.
1922 wurde Benito Mussolini Italiens Ministerpräsident. Drei Jahre später verwandelte er den italienischen Staat, eine konstitutionelle Monarchie, in eine faschistische Diktatur – ein militaristisches, nationalistisches, rassistisches Regime, sagt Historiker Nicola Labanca, das Unmenschlichkeit mit der angeblichen Überlegenheit der weißen Rasse rechtfertigte.
"Der Befehl lautete: Alles einnehmen, und zwar schnell. Zwischen 1922 und 1928 besetzte die italienische Armee immer größere Gebiete. Sie siegte in Tripolitanien und Fezzan. Aber in der Kyrenaika, wo der Senussi-Orden seine Hochburgen hatte, stieß sie auf erbitterten Widerstand."
Libyen war ursprünglich kein einheitliches Gebiet, sondern in drei Regionen aufgeteilt: die Kyrenaika im Osten, Tripolitanien im Westen und Fezzan im Süden. Ebenso zersplittert war die libysche Gesellschaft: Sie bestand aus Sippen, die über die jeweils eigene Region walteten. Um den Einmarsch der Italiener aufzuhalten, gingen sie ein Bündnis ein. Die Sanusya-Bruderschaft führte das Bündnis an. Das Kommando hatte Omar al-Mukhtar, ein charismatischer Anführer, der die Guerilla äußerst geschickt organisierte.
Faschistisches Italien betrieb grausame Konzentrationslager
Er brachte die italienischen Truppen dermaßen in Bedrängnis, dass Gouverneur Pietro Badoglio den Einsatz von Senfgas vorschlug, einem chemischen Kampfstoff, der die Haut verätzt, die Bronchien angreift und zum Erstickungstod führt. Es ist inzwischen bewiesen, dass die italienische Armee in Libyen mehrmals Giftgas einsetzte – nicht nur gegen libysche Kämpfer, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung. Da sie die Rebellen unterstützten, wurden auch Zivilisten von den Italienern als Feinde betrachtet. Nicola Labanca:
"Das faschistische Italien versetzte dem libyschen Widerstand den letzten Stoß, indem es zwischen 1928 und 1933 zu drastischen Maßnahmen griff, wie etwa die Errichtung einiger Konzentrationslager. Ein Großteil der halbnomadischen Bevölkerung der Kyrenaika wurde in diese Lager deportiert."
"Die Regierung ist bereit, die Bevölkerung auszuhungern, wenn sie sich nicht vollständig unterwirft."
Schrieb Rodolfo Graziani, ab 1930 Vizegouverneur der Kyrenaika und für die Planung der Lager und Durchführung der Deportationen verantwortlich.
"Rodolfo Graziani organisierte äußerst effiziente Konzentrationslager. Er vollzog mit größter Brutalität die Politik seiner Zeit. Er war der Schlächter, aber es war die faschistische Politik, die Massaker vorsah."
Um die 100.000 Libyer wurden in den Lagern zusammengepfercht. 40.000 von ihnen verloren dort ihr Leben. Was in den Lagern geschah, darüber haben Überlebende erst viel später berichtet. Reth Belgassem war einer von ihnen. Vom Alltag in italienischen Konzentrationslagern erzählte er:
"Die Gefangenen bekamen ein Hungermahl: 100 Gramm Reis pro Tag. Wer zu fliehen versuchte, ob jung, alt oder noch ein Kind, wurde gefangen und ins Zentrum des Lagers gebracht. Dort wurde er mit Benzin begossen und angezündet."
Im Januar 1931 befahl Graziani die Bombardierung der Cufra-Oase, des Zentrums der Senusiya, um den übrig gebliebenen Aufständischen auch die Handelswege nach Ägypten zu versperren, ließ Graziani die Grenze mit einem 270 Kilometer langen Wall aus Stacheldraht schließen. Omar Al-Mukhtars letzte Kämpfer hatten keinen Fluchtweg mehr. Am 11. September 1931 wurde der legendäre Rebellenführer gefangen genommen und fünf Tage später erhängt.
Einsatz von Senfgas gegen die Zivilbevölkerung
Zwischen 1935 und 1937 führte das faschistische Italien Krieg gegen das Kaiserreich Abessinien, das heutige Äthiopien. Und auch dort setzten die Italiener Senfgas ein – schätzungsweise 300 bis 500 Tonnen. Oberbefehlshaber Pietro Badoglio ließ sogar Lazarette des Roten Kreuzes und Rettungswagen bombardieren. Nachdem er am 5. Mai Addis Abeba eingenommen hatte, wurde auch Äthiopien zur italienischen Kolonie, und das Horn von Afrika – mit Ausnahme von Britisch-Somaliland –zu Italienisch-Ostafrika erklärt. Zum Vize-König der gesamten Kolonie befördert, errichtete Graziani das, was Mussolini wünschte: ein Terror- und Vernichtungsregime. Weder Badoglio noch Graziani mussten sich nach 1945 für ihre in Afrika begangenen Verbrechen verantworten.
"Nach dem Krieg gab es kein Tribunal, das die Kriegsverbrecher des italienischen Faschismus unter Anklage stellte. Das lag unter anderem daran, dass Italien 1943 die Seiten wechselte und sich mit den Alliierten verbündete. Diese hatten dann Schwierigkeiten, in Italien Prozesse wie in Nürnberg oder Tokio auszurichten."
Libyen wurde 1943 von Briten und Franzosen besetzt. 1952 entließen die Vereinten Nationen das Land in die Unabhängigkeit und erklärten es zur Monarchie.
"Ziemlich lange wurden die libyschen Geschicke von Amerikanern und Briten gelenkt, den Siegern des Zweiten Weltkriegs. Italien war aus dem Spiel."
Sagt Arturo Varvelli, Leiter des European Council on Foreign Relations Rome.
"Nach dem Krieg wollte Italien die Kolonien zunächst behalten, aber die damalige politische Führung begriff schnell, dass dies unmöglich war. Sie orientierte dann ihre Politik an realistischeren, auch demokratischeren Zielen. Durch den Verzicht auf die Kolonien konnte Italien jenen Ländern, die sich von den Kolonialherren befreien wollten, als gleichrangiger Akteur gegenübertreten."
Beginn eines guten Verhältnisses zu Libyen
Das half – auch im Verhältnis zu Libyen. Ende 1956 trafen beide Länder eine Vereinbarung zur ökonomischen Kooperation. Den größten Beitrag zur Versöhnung beider Länder leistete Enrico Mattei, der Gründer von Italiens staatlichem Energiekonzern ENI. Mattei bot Erdöl produzierenden Ländern rund 75 Prozent ihrer Erträge, wenn sie bei ENI einstiegen. Das war wesentlich mehr als die sonst üblichen 50 Prozent.
"Enrico Mattei wurde von den internationalen Ölkartellen als Feind betrachtet, weil er die Fähigkeit besaß, mit den ehemals kolonisierten Ländern Verhältnisse auf Augenhöhe aufzubauen."
ENI stieg zum Hauptplayer in der Erdöl- und Gasförderung auf libyschem Boden auf. Auch verpflichtete sich der Konzern, mit dem Bau von Infrastruktur zur wirtschaftlichen Entwicklung Libyens beizutragen.
1969 wurde Aldo Moro Außenminister: ein Christdemokrat, der auf die arabische Welt ein besonderes Augenmerk richtete. Im gleichen Jahr stürzte ein selbsternannter "Bund freier Offiziere", vom Hauptmann Muammar Al-Gaddafi angeführt, König Idris und putschte sich an die Macht.
"Das erste offizielle Eingeständnis der Schuld Italiens für die Verbrechen der Kolonialzeit leistete Außenminister Lamberto Dini 1999. Aber schon davor hatten sich die Beziehungen zwischen Italien und Libyen allmählich verbessert und vertieft. Dazu trug Aldo Moro entscheidend bei. Er war der erste Politiker, der eine gute Beziehung zu Gaddafi aufbaute. 1974 fädelte er das erste italienisch-libysche Abkommen zur ökonomischen Kooperation ein. In den 1980ern wurde das Verhältnis zwischen Italien und Libyen dank Ministerpräsident Giulio Andreotti immer enger."
Umwerben von Diktator Gaddafi
Neben ENI tätigten auch andere italienische Konzerne Investitionen in Libyen oder erhielten Aufträge von Gaddafis Staat. Umgekehrt kauften die Libyan Arab Foreign Bank und die Libyan Foreign Investment Company – beide von Gaddafi kontrolliert – Anteile an italienischen Unternehmen: an ENI, dem Autokonzern Fiat, dem Luftfahrt- und Rüstungskonzern Finmeccanica und den Banken Unicredit und Mediobanca. Nicola Labanca:
"1994 wurde der Unternehmer Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten Italiens gewählt. Aber nach 1996 stellten linke, progressive Kräfte die Regierungsmehrheit. Sie schlossen mit Libyen einige Abkommen zur Wiedergutmachung der kolonialen Vergangenheit ab. 1998 gab Italien Libyen einige wichtige Kunstwerke zurück. Das geschah viel früher und dank ganz anderer politischer Kräfte als dem Zutun von Silvio Berlusconi."
Der "Vertrag für Freundschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit", den Silvio Berlusconi 2008 mit Gaddafi abschloss, wurde medial als Coup des Ministerpräsidenten inszeniert. Der Mussolini-Bewunderer Berlusconi tat so, als wäre er der erste italienische Regierungschef, der sich für die Verbrechen der Kolonialzeit bei den Libyern entschuldigte. Für Berlusconi löste der Freundschaftsvertrag ein Problem, das immer drängender wurde für die italienische Politik: die steigende Zahl an Flüchtlingen, die übers Mittelmeer die italienischen Küsten erreichten.
Im Freundschaftsvertrag verpflichtete sich Libyen, die eigenen Hoheitsgewässer von der Küstenwache patrouillieren zu lassen und Flüchtlingsboote nach Afrika zurückzuführen. Italien trainierte die libysche Küstenwache und lieferte Kontrollboote. Dass in den libyschen Lagern Flüchtlinge misshandelt oder sogar getötet wurden, interessierte die italienische Öffentlichkeit kaum, genau so wenig wie die EU.
Al Jazeera News am 23. Januar 2011. Die Bilder zeigen junge Tunesier, die lautstark den Rücktritt der Regierung fordern, der Auftakt des so genannten Arabischen Frühlings: Die arabische Jugend begehrte gegen korrupte Despoten auf, die seit Jahrzehnten die Zügel in der Hand hielten und ihre Länder ausbeuteten. Der Aufstand erreichte Libyen im Februar 2011. Gaddafi reagierte auf die Proteste mit Schüssen und Raketen gegen die Demonstranten.
Zunächst weiter Unterstützung von Gaddafi
Die UN verhängte Sanktionen, eine Flugverbotszone wurde eingerichtet. Der französische Präsident Sarkozy drängte auf ein Eingreifen der NATO. Der damalige US-Präsident Barack Obama sei damals gar nicht erpicht gewesen, die Führung der Intervention zu übernehmen.
An den folgenden Luftangriffen gegen Gaddafi und zur Unterstützung der Rebellen beteiligten sich zunächst Frankreich, Großbritannien und die USA. Schließlich fiel die Operation unter das Kommando der NATO. Muammar al-Gaddafi wurde am 20. Oktober 2011 von den Rebellen gefangen genommen, gefoltert und getötet. Und welche Rolle spielte Italien in diesem Kontext?
"Italien wollte weder Libyen bombardieren, noch Gaddafi stürzen. Es konnte aber dann nicht umhin, an der NATO-Operation teilzunehmen. Denn es war klar, dass sich Gaddafi nicht lange an der Macht würde halten können, wenn die NATO eingriff."
Mattia Gianpaolo forscht am italienischen Institut CESPI, dem Zentrum für internationale Politik, über den Mittleren Osten. Nach Gaddafis Tod versank Libyen im Chaos.
Unter der Ägide der UN kam 2015 ein Friedensabkommen zwischen den zwei wichtigsten libyschen Kriegsparteien zustande. Eine Einheitsregierung mit Sitz in Tripolis und Fayez Al-Sarraj an der Spitze wurde installiert. 2017 vereinbarte die italienische Regierung ein Memorandum of Understanding mit Sarraj – faktisch eine Neuauflage des Vertrags, den Berlusconi mit Gaddafi abgeschlossen hatte. Trotz aller Berichte über Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in libyschen Aufnahmelagern wurde das Memorandum Ende 2019 verlängert. Mattia Gianpaolo:
"Italien hat in Libyen an Einfluss verloren in dem Moment, als es die Immigrationsabwehr ins Zentrum seiner Libyenpolitik rückte. Die italienischen Regierungen haben die libysche Krise so behandelt, als handelte es sich um eine Frage der inneren Sicherheit. Die Außenpolitik wurde von Innenministern und nicht von Außenministern betrieben."
Seit 2014 macht der Warlord Khalifa Haftar der Einheitsregierung von Fayez al-Sarraj die Macht streitig. Haftars ist sehr Geschick darin Allianzen zu schmieden. Der Bürgerkrieg ist längst ein Stellvertreterkrieg geworden, der mit Waffenlieferungen aus dem Ausland geschürt wird. Denn Ägypten, Jordanien, die Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Russland und auch Frankreich unterstützen Haftar.
Abkehr von Sarraj
"In den letzten zwei Jahren hat Italien Sarraj allmählich fallen gelassen. Denn man dachte, nun würde Haftar der neue Machthaber werden. Auf diese Weise hat die italienische Regierung die Gunst Haftars nicht gewonnen, aber den Einfluss, den sie auf Tripolis hatte, verloren. Denn Sarraj hat sich verraten gefühlt."
In das Vakuum, das Italien hinterlassen hat, ist ein anderer Akteur vorgestoßen: die Türkei Recep Tayyip Erdoğans. Zur Unterstützung Sarrajs hat der türkische Autokrat Anfang 2020 syrische Söldner nach Libyen entsandt
Für den Historiker Nicola Labanca hat das türkische Engagement in Libyen noch eine andere Bedeutung:
"Mit der türkischen Präsenz in Libyen kommt ein neuer, aber altbekannter Akteur ins Spiel. Die Türkei ist der historische Erbe des Osmanischen Reichs, der nach Libyen zurückkehrt. Ich glaube, dass Erdogans Entscheidung, nach Libyen Truppen zu entsenden, für die Türken einen Nachhall aus sehr alten Zeiten hat, den im Westen nur wenige wahrnehmen."