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Italo Calvino
Schwerelose Gebilde, die sich elegant entfalten

Er zählt zu den wichtigsten Schriftstellern der italienischen Moderne und ist längst Teil der Weltliteratur: Italo Calvino - 1923 auf Kuba geboren und 1985 in der Toskana gestorben. Jetzt erst sind seine gesammelten Erzählungen erschienen. "Schwierige Liebschaften" heißt der über 800-seitige Band.

Von Maike Albath |
    Im Winter 1944 wütet in den ligurischen Bergen der Bürgerkrieg. Partisanen und Faschiten liefern sich scharfe Gefechte, die Dörfler sind abgeschnitten von der Stadt, der Hunger wird von Tag zu Tag größer. Aber die jüngeren Männer stehen auf den Todeslisten der Schwarzhemden und können den Abstieg nicht wagen. Schließlich erklärt sich der alte Bisma bereit, hinab zu reiten und Brot zu holen. Bisma, der seinen Spitznamen der Ähnlichkeit mit Bismarck verdankt, weil er einst einen ähnlich imposanten Schnurrbart wie der Reichskanzler besaß, ist beinahe taub. Die Schüsse und Gewehrsalven jagen ihm keine Angst ein. Er hört sie nicht.
    Bei jedem Pfeifen einer Granate spähten die Männer vom Eingang der Höhle auf die Straße und beobachteten die schwankende Figur, die sich da entfernte: das Maultier mit dem Mann rittlings im Sattel, die beide ständig zu wanken und gleich umzufallen schienen. Die Granaten schlugen vor ihnen auf der Straße ein, wirbelten dichte Staubwolken auf, zerschossen den Weg vor den behutsamen Schritten des Maultiers oder dahinter, und Bisma drehte nicht einmal den Kopf. Die Männer hielten bei jedem Krachen und Zischen den Atem an. 'Diesmal trifft’s ihn', sagten sie. Auf einmal war er ganz verschwunden, verhüllt von der Staubwolke.
    Doch der alte Bisma kehrt ins Dorf zurück, das Maultier mit Broten beladen. Am nächsten Morgen tritt er dieselbe Mission an, auch am übernachten, bis das Dorf schließlich geräumt wird und die Bewohner in nahe gelegene Höhlen fliehen. Außer Bisma, der weiter ungerührt zwischen den Häusern herum streift.
    Die Schwarzbrigadisten bogen in eine Gasse ein. Sie kamen zu einem kleinen Platz, man hörte nur das Fließen des Wassers im Brunnen und fernen Geschützdonner. 'In dem Haus da ist bestimmt was zu holen', sagte ein Schwarzbrigadist und zeigte darauf. Es war ein schmächtiger Junge mit einem roten Fleck unter dem Auge. Das Echo zwischen den Häusern um den leeren Platz wiederholte seine Worte, eins nach dem anderen. Der Junge zuckte nervös zusammen. Der mit dem Pinsel schrieb auf eine zerbröckelnde Hauswand: Ehre ist Kampf! Ein offen gelassenes Fenster schlug im Wind und machte mehr Lärm als das ferne Geschütz.
    Die Brigadisten malen weitere Parolen an die kaputten Mauern des verlassenen Dorfes: Rom oder Tod lautet eine, Wir werden siegen! eine andere. So martialisch ihr Gehabe, so kläglich sind ihre Aktionen: Den alten Bisma schießen sie tot, samt seinem klapprigen Maulesel. Nachts holen ihn die Dörfler und begraben ihn, aber das Tier braten sie, denn sie sind hungrig.
    Mit großer Lakonie schildert Italo Calvino in seinen Erzählungen aus den 40er-Jahren die Kriegsgeschehnisse und entlarvt mit wenigen Sätzen die Armseligkeit der faschistischen Kämpfer: Halbe Kinder richten über einen wehrlosen Greis. Doch auch der Widerstand wird nicht glorifiziert, ganz im Gegenteil. Allerdings haben die Partisanen den anderen etwas voraus: eine tiefe Lust am Lebendigsein, einen "rauen Geschmack“ am Leben, wie es in einer anderen Geschichte heißt.
    Und genau diese Erfahrung, die eigene Existenz für die Befreiung seines Landes aufs Spiel gesetzt zu haben, machte in der Nachkriegszeit Italo Calvinos unerschöpfliche Energie aus und schlug sich auch auf seine frühe Prosa nieder, in der eine aufmüpfig-kecke Stimmung herrscht. "Schwierige Liebschaften" lautet der Titel der Sämtlichen Erzählungen aus acht verschiedenen Bänden, die jetzt erstmals in der vom Autor konzipierten Zusammenstellung erscheinen. Im Original zwischen 1948 und 1970 heraus gekommen, liegen einige der Geschichten sogar zum ersten Mal auf Deutsch vor, darunter die des mutigen Brotbeschaffers Bisma, von Burkhart Kroeber mit calvinoscher Nonchalance glänzend übersetzt.
    1923 auf Kuba geboren, wuchs Italo Calvino an der italienischen Riviera in San Remo auf, inmitten üppiger mediterraner Gärten. Seine Eltern waren Botaniker und Agrarwissenschaftler mit internationaler Reputation, die Mutter hatte als erste Frau einen Lehrstuhl für Botanik inne, erzog ihre Söhne streng laizistisch und meldete sie sogar vom Religionsunterricht ab. Er sei von Kindheit an gewohnt gewesen, sich für seine Andersartigkeit verteidigen zu müssen, erklärte Calvino einmal, und vermutlich machte ihm der moralische Rigorismus seines Elternhauses die politische Entscheidung nach der Kapitulation im Sommer 1943 leicht. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder stieß er zu den Partisanen. Nach dem Krieg konnte er sich von den Erwartungen seiner Eltern lösen, sattelte vom Studium der Agrarwissenschaften auf Literatur um, provomierte über Joseph Conrad, belieferte das Feuilleton der Kommunistischen Zeitung L’Unità und trat schließlich in das berühmte Turiner Verlagshaus Einaudi ein, zunächst als Verantwortlicher für die Presse bis er später zum Lektor aufstieg.
    Im Einaudi-Verlag, der wie kaum eine andere Institution die intellektuelle Diskussion nach 1945 bestimmte und mit der Veröffentlichung grundlegender theoretischer und literarischer Texte Kulturgeschichte schrieb, lernte er den Programmleiter und Schriftsteller Cesare Pavese kennen. Pavese ermunterte den jungen Kollegen, über seine Erfahrungen im Widerstand einen Roman zu verfassen. Binnen drei Wochen entstand 1947 Calvinos Debüt "Wo Spinnen ihre Nester bauen", das zu einem Schlüsseltext über den italienischen Befreiungskampf wurde und mit den Formelementen des Märchens und der Fabel spielte, was sich in seinen frühen Prosatexten fortsetzte. Italo Calvinos Geschichten sind schwerelose Gebilde, Luftgespinste, die sich elegant entfalten und mit leichter Hand gezeichnet scheinen. Immer wieder blitzt etwas Phantastisches auf. Tagelöhner, Huren und Kinder legen eine ursprüngliche Gewitztheit an den Tag und wissen das Leben zu nehmen, während Intellektuelle eher lethargisch sind und mit ihren hehren Plänen nicht selten scheitern.
    In der Erzählung "Das Baugeschäft" sehen sich zwei Brüder gezwungen, wegen der Steuerlast einen Teil des prächtigen Anwesens ihrer Mutter zu verkaufen. Quinto und Ampelio lassen sich mit einem Käufer ein, der Caisotti heißt und ein Emporkömmling ist. Ihr Schulfreund, der Rechtsanwalt Canal, soll die Verträge vorbereiten.
    "Oh!“ Canal fuhr hoch, streifte seine Indolenz ab, stützte die Arme auf den Tisch. „Da hast du dir aber einen ausgesucht!“ Kein vielversprechender Anfang! Obwohl Quinto bereits entschlossen war, Caisotti in Schutz zu nehmen, musste er zunächst auf die Argumente der Mutter zurückgreifen. „Nun, was er für ein Kerl ist, das habe ich sofort gemerkt. Man braucht ja nur sein Gesicht anzuschauen. Aber…“ „Es ist nicht das Gesicht. Bei jedem Geschäft, das er abschließt, bei jedem Bauvorhaben, das er ausführt, gibt es Auseinandersetzungen. Ich habe ihn schon in mehreren Streitfällen als Gegner gehabt. Er ist der größte Gauner von allen Unternehmern hier am Ort.“ Je mehr Quinto Schlechtes über ihn hörte, desto besser gefiel er ihm: Das Schöne am Geschäftsleben – das, was er zum ersten Mal zu entdecken glaubte – war eben dieses Eingehen auf Menschen jeden Schlages, war dieses Verhandeln mit Gaunern, bei denen man wusste, dass man es mit Gaunern zu tun hatte, und sich nicht betrügen ließ, ja, die man sogar zu übervorteilen suchte. Was zählte, war das „ökonomische Moment“, nichts weiter.
    Mit diskreter Ironie entlarvt Calvino die Hybris seines Helden, der sich für klüger hält als alle anderen zusammen. Quinto gefällt sich eine Zeit lang in der Rolle des zupackenden, praktischen Sohnes – endlich hat er, der glücklose Zeitschriftenredakteur, eine Aufgabe, endlich gehört er irgendwo dazu. Aber die Brüder hören nicht auf die Ratschläge ihrer erfahreneren Freunde, sie steigen sogar als Partner Caisottis in den Bau des Mietshauses ein. Natürlich kommt es zu Komplikationen, Ungereimtheiten, finanziellen Engpässen: Der Unternehmer zahlt nicht, die Bauarbeiten stocken. Unterdessen vergnügt sich Quintos Bruder Ampelio mit Caisottis hübscher Sekretärin im Bett. Quinto fühlt sich schon bald überfordert und zieht sich resigniert zurück.
    Calvinos Erzählung ist ein kleines, sarkastisches Lehrstück über die Unwägbarkeiten des Kapitalismus, die Passivität des Bürgertums und die neue Spezies der Bauunternehmer, die Italien grundsätzlich verändern sollte. Hellsichtig antizipiert der Schriftsteller diese Umwälzungen, die sich wie der klebrige Staub in der Geschichte "Die Smogwolke" auf unheimliche Weise bemerkbar machen. Die späten 50er und frühen 60er-Jahre sind die Zeit des Wirtschaftswunders und eines ungebremsten Wachstums, als sich das Land zukunftstrunken von einer bäuerlichen Gesellschaft zur Industrienation wandelt. Ob Provinzhonoratioren, Intellektuelle, Widerstandskämpfer oder Industriearbeiter in Norditalien, Calvino nimmt sämtliche Milieus mit neugieriger Gelassenheit in den Blick und präsentiert sie als einen Ausschnitt der unendlich variationsreichen Wirklichkeit. Manchmal gibt es grimmige Pointen. Ein Huhn, das in einer Fabrik herum flattert, wird sofort der politischen Agitation verdächtigt und bekommt den Hals umgedreht. Liebevoll von einem Wachmann gehegt, der an ländlichen Gepflogenheiten festhält, ist es das unberechenbare Element in einem durchrationalisierten Prozess und muss eliminiert werden.
    In den 56 Erzählungen aus "Schwierige Liebschaften" ist von den unterschiedlichsten Ausprägungen der Moderne die Rede: Krieg, Bauspekulation, Wahlbetrug, Luftverschmutzung, Entwurzelung, Entfremdung. Trotz der Bezüge auf zeitgeschichtliche Geschehnisse haben die Erzählungen nichts Antiquiertes, ganz im Gegenteil. Das liegt zum einen an Calvinos Sprache, die durch ihre makellose Klarheit und Leichtigkeit etwas Zeitloses besitzt - leggerezza war nicht umsonst die erste Forderung, die der Schriftsteller in seinen posthum erschienenen Harvard-Vorlesungen an die Literatur stellte. Sein gesamtes literarisches Schaffen könne man als einen Versuch verstehen, Gewicht zu verlieren, erklärte er dort. Aber auch die gestaffelte Syntax verstärkt den Eindruck einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Behutsam und mit viel Gespür für Rhythmus fügt Calvino hier und da bildhafte Vergleiche ein, deren Effekt umso größer ist.
    In der Geschichte "Die Smogwolke" arbeitet der Held als Redakteur in einer unwirtlichen norditalienischen Großstadt, hinter der sich unverkennbar Turin verbirgt. Täglich lagert sich auf sämtlichen Möbeln, Kleidungsstücken und Büchern klebriger, schwarzer Ruß ab. Seine Zeitschrift, von einem der großen, dreckproduzierenden Unternehmen finanziert, heißt ausgerechnet "Die Reinigung" und engagiert sich in homöopathischen Dosen für Umweltschutz. Passend zu seinem derangierten seelischen Zustand, bewohnt der Held ein schäbiges Zimmer zur Untermiete. Dort stöbert ihn seine Freundin auf.
    Von da an begann das Telefon zu den verschiedenen Tages- und Nachtstunden zu klingeln, und die Stimme Claudias, rotblond und buntgesprenkelt, brach in den engen Korridor ein, mit dem ahnungslosen Sprung eines Leoparden, der nicht weiß, dass er sich in eine Falle stürzt, und, da er es nicht weiß, mit einem anderen Sprung, so wie er gekommen ist, den Ausgang findet, um zu fliehen: immer noch ahnungslos. Und ich, zwischen Leiden und Liebe und Freude und Grausamkeit, sah sie sich mit dieser trostlosen, hässlichen Umgebung vermischen.
    Calvino charakterisiert die mondäne Claudia mit einer Synästhesie: Im Motiv der „rotblonden, buntgesprenkelten Stimme“ vermischen sich akustische Sinneseindrücke mit visuellen. Die metaphorische Beschreibung gewinnt durch den Vergleich mit dem Leoparden noch an Intensität. Diese Frau ist eine Raubkatze, verwöhnt und launisch, gleichzeitig wirkt sie auf den graugesichtigen Redakteur äußerst belebend. Obwohl Calvino in dieser Geschichte mit einem Ich-Erzähler arbeitet, fließen auch andere Blickwinkel mit ein, wodurch sich dem Leser die Komplexität des Beziehungsgewebes vermittelt. In seinem Vorwort für die italienische Originalausgabe der Gesammelten Werke Calvinos von 2003 brachte Jean Starobinski diese Art der ironisch-zärtlichen Distanznahme mit einem berühmten autobiographischen Text des Schriftstellers in Verbindung, „Die Straße von San Giovanni“, in dem der Blick auf die schildkrötenähnlichen Dächer einer Stadt geschildert wird, wie er von den terrassierten Hügeln in Ligurien möglich ist. Diese spezielle Vogelperspektive zeichnet Calvinos Poetik aus; auch in späteren Werken ist von der „Unerschöpflichkeit der Oberflächen“ die Rede. So leicht und unangestrengt seine Prosa wirkt, so skrupulös gestaltete sich sein Verhältnis zu seiner Arbeit. 1979 hält er fest:
    Wie gut ich schreiben würde, wenn ich nicht wäre! Wenn zwischen dem weißen Blatt und dem Brodeln der Wörter, Sätze, Geschichten, die da Gestalt annehmen und wieder entschwinden, ohne dass jemand sie schreibt, nicht diese hemmende Trennwand meiner Person wäre! Stil, Geschmack, persönliche Erfahrung, Psychologie, Talent, handwerkliche Kunstgriffe: alles, was irgendwie dazu beiträgt, dass als mein erkennbar wird, was ich schreibe, kommt mir wie ein Käfig vor, der meine Möglichkeiten einengt.
    Die Vielfalt der Wahrnehmungsformen beschäftigte ihn sein Leben lang, und oft arbeitete Calvino an vier verschiedenen Schreibtischen gleichzeitig, um parallel Projekte voran zu treiben, die sich derselben Fragestellung in gegenläufiger Weise annäherten. Von seinen Freunden der französischen Avantgardegruppe Oulipo befeuert, gab er sich Anfang der siebziger Jahre einem Theorietaumel hin: Er begeisterte sich für den Strukturalismus, dachte über Zeichentheorie nach, beschäftigte sich mit der Kombinatorik von Tarockkarten und übersetzte mit Queneau einen Wortführer der Oulipoten ins Italienische. Das Artifizielle an literarischen Gebilden hervorzukehren und zugleich auf dem Erzählen von Geschichten zu insistieren, waren die beiden Triebfedern seiner Arbeit.
    Calvinos große Lust am Katalogisieren und systematischen Erkunden von Erzähltechniken lässt sich auch mit seiner Herkunft aus einer Wissenschaftlerdynastie erklären. Einer seiner schönsten Bände stammt aus dem Jahre 1970 und trägt den Titel, der jetzt auch für die Gesammelten Erzählungen gewählt wurde: Schwierige Liebschaften. Und in der Tat geht es um Beziehungsgeflechte, um Störungen und Irritationen in Liebesverhältnissen. Nicht immer liegt es an den Liebenden selbst und ihren neurotischen Verstrickungen, manchmal sind es äußere Zwänge oder schlichtweg die Umstände, die hinderlich sind. Besonders anrührend ist die Geschichte über das Ehepaar Arturo und Elide, das versetzt im Schichtdienst arbeitet. Wenn Arturo morgens gegen sieben aus der Fabrik nach Hause kommt, steht Elide gerade auf. Während sie tagsüber ihre Schicht absolviert, schläft Arturo. Bevor er wieder aufbricht, bleibt Zeit für ein kurzes gemeinsames Essen. Als sie sich eines Abends hinlegt, bemerkt Elide, dass ihr Mann auf ihrer Seite des Bettes geschlafen hat, um wenigstens ihre zurückgelassene Wärme genießen zu können. Mehr Intimität erlaubt der Rhythmus der Arbeitswelt dem Paar nicht. Zu den ebenso melancholischen wie komischen Geschichten zählt auch das „Abenteuer eines Kurzsichtigen“. Ohne Brille sieht der bedauernswerte Amilcare Carruga alles verschwommen und konturenlos, ihm entgehen die schönsten Frauen, und er flirtet versehentlich mit den hässlichsten.
    Schon das Aufsetzen der Brille war jedes Mal ein Ereignis. Er stand etwa an der Haltestelle einer Straßenbahn, und ihn überkam tiefe Betrübnis, dass alles ringsum, Menschen und Gegenstände, so nebensächlich war, so banal, abgenutzt, und er selbst inmitten einer weichen Welt verschwimmender Formen und fast aufgelöster Farben. Dann setzte er die Brille auf, um die Nummer einer ankommenden Bahn zu erkennen, und schon änderte sich alles; die unbedeutendsten Dinge, selbst ein Telegraphenmast, zeichneten sich mit ganz klaren Linien ab, und die Gesichter, all die unbekannten Gesichter, füllten sich mit kleinen Zeichen, eben hervorsprießenden Bartstoppeln, bewegten Mundwinkeln, Schatten des Ausdrucks, von denen er eben noch nichts geahnt hatte. Und jetzt sah er auch, aus welchem Stoff die Anzüge und Kleider gemacht waren; er ging mit den Augen dem Gewebe nach, entdeckte abgeschabte Ärmel. Das Sehen wurde zu einem Vergnügen, einem Schauspiel – nicht die Betrachtung dieses oder jenes Dinges, sondern das Sehen.
    Aber die Präzision der Wahrnehmung kann auch in Bedrängnis ausarten, zumal Amilcare Carruga die Entdeckung macht, dass ihn mit seinem wuchtigen Brillengestell auf der Nase niemand mehr wieder erkennt. Auf einmal scheint er selbst unsichtbar geworden zu sein: Das Sehen hat seinen Preis. In diese feinsten Verästelungen der Erkenntnis von Wirklichkeit dringen Calvinos Erzählungen vor, ruhig, anmutig und von klassischer Schönheit. Und fast möchte man dem Helden aus der Geschichte „Abenteuer eines Lesers“ rechtgeben, der trotz einer hinreißenden Frau, die am Strand mit ihm anbandelt, nur schwer von seiner Lektüre lassen kann.
    Es war zwecklos, nichts kam der Würze des Lebens gleich, die in den Büchern ist.