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Ivan Calbérac: "Der Sommer mit Pauline"
Eine Reise mitten ins Herz

Zwei Welten treffen aufeinander: Émile und Pauline. Der Junge aus der Mittelschicht entdeckt durch die Begegnung mit Pauline die glitzernde Welt der Reichen und Privilegierten. Und Émile? Verleugnet seine Herkunft. Kann das Versteckspiel gut gehen?

Von Ursula Nowak |
Buchcover: Ivan Calbérac: „Der Sommer mit Pauline“
Buchcover: Ivan Calbérac: „Der Sommer mit Pauline“ (Buchcover: Blumenbar/Aufbau Verlag; Hintergrundfoto: imago/Sven-Sebastian Sajak)
Émile ist zum ersten Mal richtig verliebt. Seine Angebetete heißt Pauline. Wenn sie lächelt, geht für Émile die Sonne auf. Als Pauline Émile anspricht und ihm kurze Zeit später ein Treffen bei sich zuhause vorschlägt, ist er überglücklich. Er hätte das Mädchen niemals zu sich eingeladen, denn er lebt mit seinen Eltern in einem Wohnwagen, es ist eine Übergangslösung bis das eigene Haus gebaut ist. Aber das ist nicht der einzige Grund. Émile schämt sich in jeder Hinsicht für seine Eltern.
"Mein Vater hat einen komischen Beruf, eher von der peinlichen Sorte, er ist Vertreter. […] Wenn wir zu Beginn des Schuljahres den Beruf unserer Eltern auf die Auskunftbögen schreiben müssen, ist mir das V-Wort jedesmal peinlich. Die reinste Demütigung…. Ich würde gerne 'Arzt' auf das Blatt schreiben, 'Anwalt' oder 'Französichlehrer', einen echten Beruf, würdevoll und ehrenhaft, nicht so einen Abzockerjob, so einen Schmarotzer, der dir irgendeinen Schrott andreht. Dabei leben wir von diesem Schrott, ich auch."
"Familie ist Schicksal"
Ivan Calbérac erzählt in "Der Sommer mit Pauline" aus der Perspektive des 15-jährigen Émile. Treffsicher gelingt es dem französisc hen Autor, mit der Sprache eines Jugendlichen die emotionale Achterbahn der ersten großen Liebe zu beschreiben. Émile ist ständig gestresst, weil er sich vor Pauline für seine Herkunft schämt und deswegen ständig Lügen erfindet. Auch die Mutter von Émile akzeptiert nicht, was ist. Sie will aus ihrem Sohn einen Jungen nach eigener Vorstellung machen und färbt ihm monatlich die Haare blond, weil das nach ihrer Meinung einfach besser aussieht.
Ivan Calbérac: "Das ist eine Geschichte, die zugleich autobiographisch ist, weil meine Eltern mir wirklich auch die Haare blondiert haben, als ich klein war. Ich kenne diese Sachen, meine Mutter hat das Gleiche mit mir getan, und ich fühlte mich fremd. Die Mutter von Émile akzeptiert ihren Sohn nicht wie er ist, sondern will, dass er einer gewissen Norm gleicht, und deswegen bleicht sie ihm die Haare blond. Das ist in der Tat hart, sie ist eine brutale Frau."
Émile lässt das Procedere des Haarebleichens über sich ergehen. Er hofft nur inständig, dass es niemals jemand in der Schule bemerkt. Zuhause ist Émile ein braver Junge, widerspricht selten und folgt den Forderungen seiner Mutter. Seine Gefühle vertraut er seinem Tagebuch an. Es sind feinsinnige Beobachtungen, die manchmal etwas altklug für einen Teenager daher kommen. Der Roman überzeugt mit seinem Humor und den Beschreibungen des Grotesken, wenn Émile seine Herkunft verleugnet. Als er zum ersten Mal Pauline besucht, macht er eine grauenvolle Entdeckung.
"Ich zog meine Schuhe aus. Oh nein, was war das denn? Ein Loch in meinem Strumpf! Dabei hatte ich am Morgen bestimmt zwei Stunden mit der Suche nach gleichfarbigen Socken verbracht, die halbwegs vorzeigbar waren, doch dann hatte mich mein linker Fuß wohl auf dem Rad im Stich gelassen, und der Nagel meines großen Zehs lugte fast komplett hervor. Eine durchlöcherte Socke in diesem Palast, das ging gar nicht, ich wollte alles, nur nicht unangenehm auffallen."
Soziale Unterschiede beeinflussen die Liebesbeziehung
Der Roman erzählt von einem sozialen Klassenschock. Es geht um eine Liebe zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten. Émile kommt aus der Mittelschicht, Pauline dagegen lebt in einem riesigen Haus, der Vater ist Chef des Orchesters, Pauline ist offensichtlich privilegiert. Émile schämt sich für alles, was mit seinen Eltern zusammenhängt. Das finde ich immer sehr interessant, diese Liebesverhältnisse sind aufregend durch die sozialen Unterschiede, sie haben Einfluss auf die Liebe, nicht direkt, aber unterschwellig. Es geht um soziale Scham und die ist in beiden Familien ein bisschen verschieden. Émile hat Schwierigkeiten, das zu akzeptieren.
Als Émile von Pauline zu ihrem Konzert nach Venedig eingeladen wird, schwebt er im Glück. Doch anstatt des erhofften Bahntickets, beschließt seine Familie, gemeinsam mit ihm nach Venedig zu reisen und zwar wie üblich mit dem Wohnwagen auf einen Campingplatz. Das will Émile auf keinen Fall Pauline erzählen, stattdessen erfindet er Cousins, bei denen er in Venedig wohnen könne. Émile hofft inständig, dass Pauline niemals die Wahrheit erfährt und er sie nach dem Konzert alleine in Venedig treffen kann. Der Titel der französischen Originalausgabe des Buches heißt ebenso wie das gleichnamige Theaterstück "Venise n’est pas en Italie", zu deutsch: "Venedig ist nicht in Italien" und basiert auf einem Chanson von Serge Reggiani. Zwei Strophen daraus sind dem Roman vorangestellt.
Ivan Calbérac: "'Venedig ist nicht in Italien, nein, Venedig ist, wo immer du bist…' Es geht um eine bescheidene Familie, die von Venedig träumt und nie dahin kommt. Das ist ein sehr schönes Lied. Der Titel hat mich inspiriert für mein Buch, weil es darum geht, dass die Dinge nicht immer da sind, wo man glaubt, dass sie sind."
Jede Reise ist eine innere und eine äußere Reise
Ivan Calbérac beschreibt in seinem Jugendroman "Der Sommer mit Pauline" die letzten Minuten bis zur Ankunft in Venedig wie in einem aufregenden "Road Movie". Man erkennt deutlich, dass hier ein Autor mit der Kenntnis eines Filmregisseurs schreibt.
Parallelgeschichten laufen in geschickt aufgebauter Dramaturgie auf den Höhepunkt zu, aber keinesfalls auf ein Happy End. Denn Pauline kann das verabredete Treffen mit Émile nach dem Konzert nicht einhalten. Sie muss ihren Vater zu einem langweiligen Abendessen begleiten. Als sie sich schließlich auf den Weg macht und Émile in der Stadt sucht und findet, werden Émiles Lügen in einem grandiosen Szenario entlarvt.
"Es ist eine äußere und innere Reise, die Émile hilft, seine Herkunft zu akzeptieren. Er wird viele Sachen verstehen, vor allem, dass die Welt von Pauline nicht besser ist als seine. Émile wird nicht mehr neidisch sein auf die Familie von Pauline. Auch weil er spürt, dass Pauline ihn und seine Familie akzeptieren. Émile erkennt, dass ihre Familie nicht besser oder schlechter ist als seine eigene Familie. Für ihn ist das eine großartige Entdeckung."
Nach der Reise ist Émile ein anderer. Der französische Begriff "voyage initiatique" steht für die Initialzündung einer Entwicklung. Ivan Calbérac beschreibt mit viel Herz und gutem Humor den schmerzlichen Prozess des Erwachsenwerdens. Mit einem großartigen dramaturgischem Aufbau und gelungenen Dialogen steht diese Reise als Metapher für einen ungewöhnlichen Entwicklungsroman.
Ivan Calbérac: "Der Sommer mit Pauline"
aus dem Französischen von Anne Maya Schneider
Blumenbar Verlag, Berlin. 240 Seiten, 20 Euro, ab 13 Jahren.