Am 30. März 1856 beendeten Russland auf der einen und Frankreich, Großbritannien und das Osmanische Reich auf der anderen Seite mit dem Pariser Friedensvertrag den Krimkrieg. "Krimkrieg" - das klingt nicht übermäßig bedeutsam, aber der Krimkrieg war beinahe ein Weltkrieg, der wichtigste Krieg des 19.Jahrhunderts und der erste mit industriellen Methoden geführte Krieg der Moderne. Für Russland war die Niederlage eine enorme Erniedrigung, sie erschütterte das Land bis ins Mark. Jeder, auch der neue Zar Alexander II, wusste: so wie es ist, kann Russland nicht bleiben. Fünf Jahre später begann mit der Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft das sogenannte Zeitalter der großen Reformen, die Russland zu einem wettbewerbsfähigen, modernen Staat machen sollten.
Ziemlich genau in der Mitte zwischen diesen beiden für die Geschichte Russlands fundamentalen Ereignissen, im Sommer 1859, spielt Iwan Turgenjews Roman "Väter und Söhne". Die Handlung führt uns in die tiefste russische Provinz. Die europäischen Hauptstädte, ihre gekrönten Häupter und Premierminister sind weit weg, der Krimkrieg wird mit keinem Wort erwähnt. Trotzdem war schon den Zeitgenossen sofort klar, dass der Geist der Zeit und die Probleme, vor denen Russland stand, die Kräfte sind, die "Väter und Söhne" antreiben. Kein Wunder darum, dass der Roman selbst nicht nur als Reflexion der Gegenwart betrachtet wurde, sondern selbst Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen wurde.
Ein ruppiger Bursche mit vielen Talenten sucht seinen Platz
Im Original heißt der Roman "Väter und Kinder", aber auch der noch von Turgenjew autorisierte deutsche Titel gibt die Richtung vor: ein Generationenkonflikt steht auf dem Programm und Turgenjew verliert keine Zeit. Auf der ersten Seite des Romans treffen wir den Gutsbesitzer Nikolai Petrowitsch Kirsanow und seinen Diener Pjotr vor einem Landgasthof. Die beiden warten seit ein paar Stunden schon auf den jungen Kirsanow, Arkadij. Der hat gerade das Studium in St. Petersburg abgeschlossen und soll nun zum ersten Mal seit langer Zeit den Sommer auf dem Landgut des Vaters verbringen. Als Arkadis Kutsche endlich heranrollt ist die Überraschung groß: Arkadi hat einen Freund mitgebracht:
"Sein Vater wandte sich rasch zu dem Tarantas, dem gerade ein hochgewachsener Mann im langen, weiten Bauernmantel mit Troddeln entstiegen war, und drückte fest die bloße rote Hand, die der Ankömmling ihm nicht gleich gereicht hatte. "Ich freue mich von Herzen", begann er, "und danke Ihnen für die freundliche Absicht, uns zu besuchen; ich hoffe Herr, darf ich ihren Vor- und Vaternamen erfahren?"
"Jewgeni Wassiljew", antwortete Basarow mit schleppender, aber männlicher Stimme, schlug den Mantelkragen zurück und enthüllte sein ganzes Gesicht: lang und schmal, breite Stirn, die Nase oben platt und unten spitz zulaufend, große grüne Augen und ein sandfarbener, herabhängender Backenbart. Belebt von einem ruhigen Lächeln strahlte es Klugheit und Selbstbewusstsein aus.
Mit großer Geste enthüllt eine der unvergesslichen Gestalten der Weltliteratur ihr Gesicht, ein Mann, der bis heute die Leser fasziniert, abstößt und verwirrt: Jewgeni Basarow. Den Boden für die andauernde Faszination hat Turgenjew, Meisterschriftsteller der er ist, hier in wenigen Worten bereitet: Basarow ist ein schöner Mann und klug. Er ist aber auch unfreundlich, bekommt einen Hang zur Müdigkeit nie in den Griff und neigt zur Überheblichkeit. Auf den nächsten 200 Seiten hält Turgenjew diese Ambivalenz sorgsam aufrecht. Er selbst lässt in kleinen Kommentaren kaum eine Gelegenheit aus, Basarow in ein schlechtes Licht zu rücken. Basarow redet nicht, er "knurrt" meistens, "fragt widerwillig", "unterbricht", verlangt Champagner, widerspricht, bemerkt kühl, gähnt häufig in Gegenwart anderer und verachtet Frauen. Doch steht nie in Frage, dass sich hinter der ruppigen Fassade ein aufrechter junger Mann von einigem Talent verbirgt, dem die Welt - und das ist das Wichtigste - nicht egal ist. Die meisten Figuren in "Väter und Söhne" sind darum von Basarows rabiaten Charme, seiner Klugheit und seiner Modernität zumindest anfänglich fasziniert. Nur Arkadis Onkel Pawel, ein Aristokrat alter Schule, hat Zweifel:
"Und der junge Herr Basarow, was ist er eigentlich?" fragte er betont langsam.
"Was Basarow ist?" Arkadi lachte. "Soll ich dir sagen, Onkel, was er eigentlich ist?"
"Sei so gut, lieber Neffe."
"Er ist Nihilist".
"Wie?", fragte Nikolai Kirsanow, und sein Bruder erstarrte, ein Messer mit etwas Butter an der Spitze in der Hand.
"Er ist Nihilist", wiederholte Arkadi.
"Nihilist", murmelte der Vater. "Das kommt vom lateinischen nihil nichts, soweit ich das beurteilen kann; das Wort bezeichnet also einen Menschen, der … nichts anerkennt?!"
"Sag lieber: der vor nichts Achtung hat", fiel der Onkel ein und widmete sich wieder der Butter.
Russland retten oder ein Herz erobern?
Im Laufe des Sommers schickt Turgenjew seine beiden Helden per Kutsche und Pferd kreuz und quer durch die Provinz. Von Gutshof zu Gutshof, in die Kreisstadt und wieder zurück. Ganz ähnlich wie zwanzig Jahre zuvor Nikolaj Gogol seinen Pawel Tschitschikow in den "Toten Seelen". Anders als Tschitschikow treffen Arkadi und Basarow aber nicht nur auf eine Galerie mehr oder weniger korrupter Gutsbesitzer und Beamter, sondern auch auf Frauen. Wenig überraschend, schließlich stammt "Väter und Söhne" von Iwan Turgenjew, einem Schriftsteller, der über die Jahre in seinen Romanen und Erzählungen eine ganze Galerie starker, kluger Frauengestalten erschaffen hat. Vorzugsweise sehr junge. "Turgenjews junge Frauen" - turgenjewskie devochki - ist ein feststehender Begriff in der russischen Literaturgeschichte. Hier sind in erster Linie die beiden Schwestern Anna und Katja, die den jungen Herren binnen kurzem gehörig die Köpfe verdrehen. Die Liebesverwirrungen ziehen dem Roman aber nicht nur eine unverzichtbare zweite Ebene ein, sie sorgen auch dafür dass der Nihilismus, der Streit um die Zukunft Russlands, die Differenzen zwischen den Generationen und Basarows prätentiöse Ideale bald in ganz anderem Licht dastehen. Sogar für Basarow selbst. Und das liegt nicht nur daran, dass die Liebe auch den klügsten Kopf aus der Bahn werfen kann. Es liegt daran, dass Turgenjews Frauen nicht nur schön sind, sondern klug.
Manchmal genügt ihnen eine einzige kleine Frage, geschickt begleitet von einer charmanten Geste, um ein sorgsam gepflegtes Ideengebäude zum Einsturz zu bringen. Anna Odinzewa führt es vor:
"Aber Sie haben keinerlei Sinn für die Kunst?", fragte sie, stützte die Ellbogen auf den Tisch und näherte so ihr Gesicht dem Basarows. "Wie kommen sie ohne ihn aus?"
"Wozu ist er denn nötig, wenn ich fragen darf?"
"Zum Beispiel dazu, die Menschen zu erkennen und zu studieren."
Russland hätte ihn brauchen können
Basarow lächelt noch spöttisch, als er das hört, aber der Leser weiß schon: Es ist aus mit seiner unerschütterlichen Überlegenheit. Turgenjew hat durchaus Sympathie, sogar Mitleid mit seinem Helden, aber er lässt Basarow aus der selbstgestellten Lebensfalle nicht entkommen. In mancher Hinsicht ist das schade: Man hätte gern gesehen, wie der junge Mann einen Ausweg findet, die jugendliche Zwangs-Renitenz hinter sich lässt und aus seinen reichen Talenten ein gelungenes Leben schmiedet. Für sich und für Russland. Aber wahrscheinlich wusste Turgenjew: Die Verhältnisse, sie sind nicht so. In der Realität wurden junge Männer wie Basarow, deren Talente das Land so dringend gebraucht hätte, schon bald mit dem Begriff "lishnie ljudi" bezeichnet: überflüssige Menschen. Die russische Gesellschaft fand keinen Weg, sie zu integrieren, die Reformen der 1860er kamen zu spät und schon bald wimmelte das Land von jungen Basarows, die im revolutionären Underground für ein neues Russland kämpften.
Ganna-Maria Braungardt hat Iwan Turgenjews Klassiker in ein flüssiges, gut lesbares Deutsch übersetzt und allen eventuellen Unklarheiten mit einem ausführlichen Nachwort samt Anmerkungsapparat einen Riegel vorgeschoben. Manche allzu nah am Russischen gehaltene Formulierungen im Text verwirren den Leser, so wenn davon die Rede ist, dass Arkadi an der Universität den "Grad des Kandidaten" erworben hat. Auch das schon von Nabokov beschriebene Problem der Übertragung des schillernden russischen Begriffes "Poschlost'" konnte Ganna-Maria Braungardt nicht lösen. "Hohlheit" umschreibt die komplexe Mischung aus Niedertracht, ethischer Verkommenheit, niederem Gewinnstreben und schlechtem Geschmack nur unzureichend. Aber das sind Kleinigkeiten. "Väter und Söhne" bleibt auch nach 156 Jahren ein kluger, schöner und zeitloser Roman, den man unbedingt lesen sollte. Ganna-Maria Braungardt hat ihn in ein zeitgemäßes Gewand gebracht.
Iwan Turgenjew: Väter und Söhne
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
dtv, 336 Seiten, 26 Euro
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
dtv, 336 Seiten, 26 Euro