Ann-Kathrin Büüsker: Seit Freitag ist die wirtschaftliche Lage in der Türkei unübersichtlich. Die Währung ist abgestürzt, auch wenn die Regierung versucht hat, sie zu stabilisieren. Ökonomen warnen jetzt schon vor langfristigen Folgen. Marcel Fratzscher, Chef des DIW, sieht gar den IWF als einzige Möglichkeit, der Türkei wieder auf die Füße zu helfen mit Notkrediten. Über die Lage und die Auswirkungen sowohl für das Land als auch für seine internationalen Beziehungen möchte ich jetzt mit Ludwig Schulz sprechen, Türkeiexperte am Zentrum für Angewandte Politikforschung. Einen schönen guten Morgen!
Ludwig Schulz: Guten Morgen, Frau Büüsker!
Wunde Punkte "nicht effektiv angegangen"
Büüsker: Es gibt jetzt ja Maßnahmen seitens der Regierung, aber Präsident Erdogan weigert sich konsequent, den Leitzins zu erhöhen. Er hält das für falsch. Alle Wirtschaftsexperten sagen aber, genau das wäre nötig. Ist Erdogan schlichtweg überfordert mit solchen wirtschaftlichen Zusammenhängen?
Schulz: Seine Position, dass er gegen Erhöhung von Zinsen ist, das ist nichts Neues. Da hält er eher geradezu stur an seiner Position fest, und man mag vielleicht sogar den Eindruck haben, dass er die Realität nicht wahrnehmen will, dass eben die Erhöhung von Zinsen ja helfen würde, die Inflation zu begrenzen und vieles andere mehr, was die Experten eben vorschlagen. Also diese Sturheit ist eher etwas, was momentan auffällt, obgleich sie eben nicht überrascht.
Büüsker: Wie hat sich die Türkei denn überhaupt in diese Lage gebracht, jetzt mal die Importzölle der USA ausgeklammert? Es stand ja schon vorher auch schlecht um die Wirtschaft.
Schulz: Ja, richtig. Also es wird ja oft gesagt, diese Exportzölle jetzt, die waren eher der Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben gesehen, die Inflation ist immer stärker angewachsen, die Arbeitslosigkeit hat sich verschärft in den vergangenen Jahren, das Leistungsbilanzdefizit, einer der wunden Punkte der türkischen Wirtschaft seit jeher, die mehr importiert als sie eben exportiert, auch dieses Problem ist altbekannt, und das hat die türkische Wirtschaft, aber auch die Regierung gewissermaßen nicht, zumindest nicht effizient angegangen, nicht effektiv angegangen diese Probleme. Sie stand zwar ganz gut da, und sie steht auch immer noch relativ gut da. Also Wachstumszahlen, das Bruttoinlandsprodukt, das läuft eigentlich ganz gut, auch die Geschäftszahlen vieler Unternehmen laufen ganz gut. Auch gibt es immer noch Investitionen aus dem Ausland, die in die Türkei kommen, vielleicht aktuell natürlich gebremst, aber über die vergangenen Jahre hinweg sind diese Investitionen durchaus auch geflossen, wenn auch natürlich langsamer, weil man diese Unsicherheit oder die Investorenunsicherheit gespürt hat angesichts der politischen Lage, angesichts auch des wirtschaftlichen Ausblicks. Ratingagenturen und andere haben ja zunehmend auch davor gewarnt, in der Türkei zu investieren, das gilt auch für die Banken, und umgekehrt, also diese Indikatoren waren alle da. Jetzt ist eben der Moment gekommen, wo es sich für die Regierung auch entscheidet, welchen Weg sie weitergeht.
"Klug wäre, Hilfe im Ausland zu suchen"
Büüsker: Und welcher Weg wäre klug?
Schulz: Klug wäre der Weg, den wahrscheinlich Experten gehen, auf den IWF zu verweisen – Sie haben es ja angesprochen –, Hilfe sozusagen im Ausland zu suchen. Aber das neue politische System in der Türkei, der Präsidentialismus führt dazu, dass alle Entscheidungsbefugnisse beim Präsidenten liegen. Und selbst der Finanzminister, der ja andere Töne anschlägt, sein Schwiegersohn Albayrak, auch der wird sich wohl den Vorgaben seines Schwiegervaters und Präsidenten fügen müssen.
Büüsker: Weil der IWF wahrscheinlich auch Auflagen machen würde, an die Präsident Erdogan sich unter gar keinen Umständen halten wollen würde.
Schulz: Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Ich glaube, dass einerseits diese Auflagen sind ja nicht abwegig vom ökonomischen Gesichtspunkt her, aber es ist vor allem das politische Signal, das damit gesendet wird und das absolut nicht in Erdogans Agenda passt, dass man wieder auf das Ausland, insbesondere den Westen, angewiesen ist. Im Gegenteil, dieser Westen ist im Narrativ Erdogans ja eher dafür verantwortlich für die Schwächer der türkischen Wirtschaft, der Westen will die Türkei ja niederhalten, die ja doch so im Aufstieg unter seiner Herrschaft begriffen ist, und genau dieses Narrativ müsste er durchbrechen, indem er Hilfe aus dem Ausland, vom IWF eben, beantragt. Dazu muss er sich wahnsinnig verbiegen.
"Starke Fragmentierung in der Gesellschaft"
Büüsker: Auf dieses Narrativ und die Beziehung ins Ausland können wir gleich noch mal gemeinsam genauer schauen. Ich würde jetzt gerne noch mal einmal ins Land gucken, und zwar auf die Bürgerinnen und Bürger. Was wird denn diese wirtschaftliche Krise für die bedeuten?
Schulz: Ich glaube, dass wir grundsätzlich eine sehr starke Fragmentierung in der türkischen Gesellschaft haben, sowohl in politischer Hinsicht – das kennen wir, das haben die Wahlergebnisse auch gezeigt –, also diejenigen, die Erdogans Kurs weitergehen, die folgen ihm auch hier, und andere sind vehement dagegen. Ökonomisch, auch hier gibt es die große Schere: Diejenigen, die reich geworden sind unter ihm, die bangen vielleicht etwas um ihre Gewinne nun, aber da müsste man im Detail schauen, wer davon betroffen ist, und die große Mehrheit derjenigen, die natürlich eher untere Mittelschicht sind, wie weit die überhaupt zum Beispiel haben. Natürlich sind sie betroffen von der Inflation, wenn sie einkaufen gehen. Aber große amerikanische Autos oder westliche Autos wollten die sich eh vielleicht gar nicht kaufen, und insofern sind sie vielleicht von diesen Maßnahmen, die jetzt getroffen werden müssen, nicht direkt betroffen. Unternehmen, Firmen und dergleichen natürlich umso mehr, und da wird man sehen, wie weit sich das zum Beispiel auf weitere Investitionen, auf die Arbeitslosigkeit niederschlägt. Das muss man aber abwarten.
Büüsker: Dann gucken wir jetzt mal auf die internationalen Beziehungen. Erdogan, der hat ja heftig gewettert gegen die USA in den vergangenen Tagen, fast schon gedroht. Sein Außenminister hingegen, der spricht immer wieder von Konsens, von Diplomatie. Sehen wir hier tatsächlich unterschiedliche Positionen oder spielen die beiden einfach nur böser Bulle, guter Bulle?
Schulz: Das tun sie mit Blick auf die innenpolitische Agenda oder auf die Performance nach innen. Also Erdogan ist natürlich derjenige, der hier aggressiv das Land verteidigen will, der die Führungsfigur in diesem nationalistischen Diskurs stellen möchte und sie auch de facto politisch sozusagen ist. Andererseits in Erdogans Äußerungen oder in seinen Meinungsäußerungen finden sich immer wieder auch konziliantere Töne. Auch er betonte hin und wieder, dass die Türkei ein langer Partner des Westens ist und auch bleiben möchte, aber Sie haben recht: Der Außenminister beispielsweise, gestern auch in seiner Rede in Ankara bei der Botschafterkonferenz, der weist auch darauf, zum Beispiel auf diese Aspekte, dass die Türkei weiterhin an der EU-Mitgliedschaft, an der NATO-Mitgliedschaft anknüpfen möchte oder diese Mitgliedschaft anhalten möchte, und das ist natürlich so im krassen Gegenstand zu der Rhetorik Erdogans.
Türkei halte an einer Partnerschaft mit dem Westen fest
Büüsker: Also im Moment eine ziemlich diffuse Lage, auch was die Signale der Regierung angeht. Jetzt haben Sie eben das Narrativ angesprochen, dass der Westen schuld ist. Könnte dieses Narrativ dazu führen, dass sich die Türkei langfristig noch stärker Russland zuwendet?
Schulz: Die Türkei hat, langfristig zurückblickend, einen starken Diskurs, der darauf aufstellt, sich selbst als einen wichtigen Player in der Region zwischen Ost und West aufzubauen. Also diese starke Westorientierung hat sich eh in den vergangenen 15 Jahren gelöst. Sie ist aber auch nicht notwendigerweise in eine extrem starke Ostorientierung Richtung Russland, Iran, China gegangen. Das hat sie aufgeweicht, ja, man ist offener gegenüber dem Dialog mit Russland, gegenüber China und anderen Mächten im Osten, aber man hält trotzdem auch aus zum Teil rationalen Gründen an der Partnerschaft mit dem Westen fest, allein, was die Verteidigungspolitik zum Beispiel und die NATO betrifft, aber eben auch hier muss man wieder abwarten, welchen Kurs Erdogan auch in seiner vielleicht abgeschlossenen Entscheidungsstruktur, die sich aufgebaut hat oder auch die Meinungen, die von außen an ihn herantreten, wie weit das überhaupt noch trägt. Er ist offen für eine stärkere Anbindung der Türkei an Russland, an China, aber zu echtem Mehrwert führt diese Partnerschaft nicht.
Büüsker: Gerade in so Krisensituationen wie die Türkei es jetzt erlebt, braucht man aber ja auch internationale Partner, um klarzukommen, sage ich mal. Könnte das jetzt auch eine Chance sein, mit Blick auf Europa, die Europäische Union, wieder zu einer Annäherung zu finden?
Schulz: Ich glaube, zwei Punkte vielleicht dazu: Wir sehen an dieser Krise – und die hatten wir ähnlich schon mal bei der Krise zwischen der Türkei und Russland, als der russische Jet über Syrien abgeschossen wurde –, wie schwer es ist, wenn große Köpfe, wenn Erdogan, Präsident Trump, Putin aufeinandertreffen, welche Auswirkungen so etwas haben kann. Europa hat hier einen positiven Mehrwert, als dass der Dialog hier auf den Formaten Konferenzen multilateral abläuft. Deutschland hat hier eine ganz wichtige Rolle, denke ich. Deutschland könnte vielleicht sogar als Vermittler auftreten in diesen Konflikten, und dieser Dialog der Türkei mit der EU wird natürlich jetzt auch belebt werden vor dem Hintergrund der aktuellen Krise. Schwierig bleibt es, denn die Zahl der Probleme zwischen der Türkei und der EU und insbesondere Deutschland sind nicht minder gering.
"Es sind immer noch Deutsche in türkischen Gefängnissen"
Büüsker: Wenn Sie sagen, Deutschland könnte als Vermittler auftreten, dann ist es quasi eine super Koinzidenz der Ereignisse, dass Erdogan im September nach Berlin kommt.
Schulz: Ja, wenn man so möchte, ist es das. Das ist natürlich auch vor dem Hintergrund eben, wie gesagt, der großen Probleme, die es auch mit Deutschland gibt. Es sind immer noch Deutsche natürlich in türkischen Gefängnissen. Sie kommen nicht frei, Prozesse, die weiterhin ablaufen, das ist eines der großen Probleme im deutschtürkischen Verhältnis. Die müssen angesprochen werden. Deswegen hat man diesen Besuch, glaube ich, auch terminiert. Es geht aber auch um die Vorbereitung der deutschtürkischen Regierungskonsultationen, die eigentlich 2018 ablaufen sollten, zwischen den Regierungen, also zwischen der Regierung in Ankara und der in Berlin, und man wird eben auch sehen, wie weit diese Bemühungen, zu einer Normalisierung zurückzukehren, wie weit das Früchte trägt. Ich bin da immer noch skeptisch. Das muss ich offen gestehen.
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