"Fast schon langweilig", schrieb Spiegel Online über den britischen Newcomer Jack Garratt - und meinte damit gar nicht mal unbedingt mal seine Musik, sondern eher seinen offenbar schon im Voraus garantierten Erfolg, weil er eben gar so gut in die Zeit passe mit seinem melancholischen Elektropop, der folkig ist, aber nicht nach Folk klingt, und der verquere Sounds einsetzt, aber nicht zu viele. Seit gestern gibt’s das Debütalbum des bärtigen Rotschopfs mit der Basecap, begleitet eben von so Lorbeeren wie dem ersten Platz auf der stets viel beachteten Newcomerliste der BBC ("Sound Of 2016") - oder dem nicht weniger relevanten Kritikerpreis bei den BRIT-Awards. Fürs Corsogespräch hab ich ihn vor einigen Wochen gefragt, ob einen das beeinflusst, wenn man seine Songs schreibt und weiß: Alle finden einen toll - und werden genau hinhören.
"Ja, das versucht schon, mein Gehirn zu infizieren, aber ich wehre mich dagegen. Ich habe diese Awards ja bekommen, weil ich irgendwas richtig gemacht habe. Meine Arbeit daraufhin zu verändern, hieße doch, genau das zu verändern, wofür man mich ursprünglich ausgezeichnet hat. Trotzdem arbeite ich zurzeit an Musik, die komplett anders klingt, als das Album, das jetzt im Februar erscheint. Weil ich einfach gern was Neues mache. Nicht zwölfmal den gleichen Song."
Ein Titel auf dem Album heißt ja "Suprise Yourself", überrasche dich! Geht es da genau darum?
"Im Grunde geht es vor allem darum, dass man sich erlaubt, ganz man selbst zu sein. Dann erst öffnet sich eine Welt, in der man mit anderen leben und lieben kann. Der Song bedeutet das zumindest für mich."
Den Text zum Song "Weathered" fand ich auf genius.com - und las prompt einen Kommentar von einem Fan, der schrieb, er lasse sich den Refrain jetzt tätowieren. Ist das das ultimative Kompliment für einen Songwriter?
"Ein überwältigendes. Das zeigt, dass Songs größer sind als ihre Schöpfer, dass sie schon existieren, bevor sie einer schreibt. Denn wenn Sätze von mir in jemandem so nachklingen, dass er sie für immer unter seiner Haut haben will, dann übersteigt das ganz klar meinen Verstand. Ich würde das nicht tun. Andere offenbar schon. Irgendwie glaube ich, dass Lieder und Texte und Themen und Ideen alle schon da sind, und ich bin nur das Gefäß, durch das sie angeflogen kommen. Und dann verbinden sie sich auf tausenderlei Art mit anderen Menschen. Das ist mit das Schönste, wozu Musik im Stande ist."
Einer Ihrer ersten Anläufe dazu war vor zehn Jahren der Junior Eurovision Song Contest. Von dem ich noch nie gehört hatte!
"Nein, der scheint in Deutschland keine große Rolle zu spielen. In England eigentlich auch nicht. Sie haben nicht viel verpasst."
Haben Sie’s also damals schon richtig ernst gemeint mit der Musik?
"Ja, das war mein erster kleiner Schritt in die Welt der Profis. Meine Mutter hatte den Flyer zur Teilnahme am britischen Vorentscheid gesehen. Ich hatte einen Song, der zu passen schien, also hab ich es versucht."
Und Sie wurden letzter.
"Es war mein erster Schritt, und der landete im Nichts, ja, davon musste ich mich erst mal erholen. Aber ich glaube, es war gut so. Ich lernte einen Teil des Musikgeschäfts kennen, mit dem ich nie mehr etwas zu tun haben will. Mir ist das überhaupt nicht peinlich, es war nicht verkehrt, denn ich sitze ja jetzt hier mit Ihnen und hab ein Album fertig und finde, alles läuft sehr gut - also hab ich keine Fehler gemacht, sondern es hatte alles seinen Sinn, es war alles lehrreich. Diese erste Lektion damals war natürlich schon hart."
Und ganz am Anfang - gab es in Ihrem Heimatstädtchen Little Chalfont Auftrittsmöglichkeiten, oder haben Sie nur in Ihrem Zimmer gebastelt?
"Ich hab mich, als ich noch zu Hause wohnte, gar nicht als Songwriter ausprobiert - nur als Musiker, als Instrumentalist in Bands. Erst als ich nach London ging, fing ich an zu komponieren und auf meine Songs stolz zu sein - und fand Freunde, die auf unterschiedliche Art in der Musikindustrie unterwegs waren, wir halfen uns gegenseitig. Da saß ich dann tatsächlich monatelang in einem fensterlosen Raum und tat nichts anderes als zu schreiben und aufzunehmen und nach diesem einzigartigen Sound zu suchen... nach dem ich immer noch suche und wahrscheinlich ewig suchen werde."
Kam die Elektronik durch einen konkreten Einfluss in Ihren Sound? Denn gerade die R&B-Elemente sind ja eher etwas Amerikanisches ...
"Och, ich finde das sehr britisch, ich finde, wir machen das besser! Meine Aufgabe - von der ich nicht weiß, wie gut ich sie hinkriege! - , mein persönliches Ziel ist es, Sachen zu machen, die die Leute kennen - aber anders. Ja, elektronische Musik hat mich geprägt, aber bei mir soll sie anders klingen, vielleicht nach Funk oder Soul oder Jazz. Und ja, ich will Folksongs schreiben, weil ich gern akustische Gitarre und Klavier spiele - nur eben mehr so wie Tom Waits das machen würde. Aber es soll kein Tom-Waits-Song werden - oder höchstens einer, den James Blake produziert hat. Aber es soll auch kein James-Blake-Song werden, sondern ein James-Blake-Song, der klingt, als könnte Stevie Wonder ihn singen. All das kommt zusammen. Ich will etwas machen, was die Leute lieben - aber so, wie sie’s noch nie geliebt haben!"
Und im Lauf der Arbeit an diesem Album scheint der große Rick Rubin eine Art Mentor für Sie geworden zu sein.
"Das kam durch einen Song von mir, "Worry", der ein bisschen im britischen Radio lief - in der BBC-Sendung des Moderators Zane Lowe, der jetzt ja bei Apple Music in Los Angeles ist. Zur gleichen Zeit durfte Zane Lowe ein Interview mit Rick Rubin führen, der ja nur selten Interview gibt, deshalb war das bei der BBC eine Riesensache: Zane Lowe fliegt nach Malibu und setzt sich eine Stunde lang mit Rick Rubin hin - ich weiß noch, wie ich die Sendung sah und begeistert war von diesem Mann."
Da sitzen sie im Garten, nicht?
"Ja, genau die! Ich fand Rubin so faszinierend, seine Geschichte, seine Karriere und auch ihn als Person. Fünf Tage später kontaktiert mich jemand über Facebook: Hallo, ich arbeite für Rick Rubin, er würde dich gern kennenlernen. Und noch mal eine Woche später sitze ich in demselben Garten. Unglaublich! Und seither mailen wir uns regelmäßig."
Welche Ratschläge hat er Ihnen denn zum Beispiel gegeben?
"Ich hab ihm zum Beispiel mal einen Song gezeigt, bei dem ich feststeckte, und gesagt: "Hier, die Idee ist gut, aber ich weiß nicht weiter." Und sein Beitrag war letztlich nur, zu sagen: "Ja, du hast recht. Da steckt ein Song drin, aber er ist noch nicht fertig." Jedem anderen würde man antworten: "Sag ich doch!" Bei Rick Rubin, und nach allem, was wir schon besprochen hatten, bekam meine Idee dadurch plötzlich eine Berechtigung - indem er sagt: "Mach es. Aber mach es ganz auf deine Weise." Bei anderen Songs ging er auf Details ein und sagte zum Beispiel: "Diese Zeile hier - da klingst du nach dem-und-dem. Und ich weiß, den findest du gut, aber du bist nicht er. Also halte dich davon fern." Letztlich war sein Rat ein ums andere mal: "Du hast das Potenzial, du selbst zu sein. Also sei es auch. Du bist interessant genug." Und das versuche ich zu beherzigen. Und eben immer wieder anders zu klingen. Weil ich gern heute anders bin, als ich gestern war. Und jetzt anders als der, der ich morgen sein werde."
Und auf die Bühne gehen Sie damit dann - allein.
"Ja, ich hab ein Keyboard und Drumpads und eine Gitarre, und ich loope manches und spiele dazu - im Grunde spiel ich mit einer Hand Schlagzeug und mit der anderen Bass oder Keyboard, und hab noch eine Gitarre um den Hals und singe dazu. Ich konnte schon als Kind diverse Instrumente spielen - und auch ein paar gleichzeitig. Als dann Konzerttermine anstanden, war ich eben einerseits ein Sänger mit akustischer Gitarre und nahm andererseits elektronische Musik auf, und das ging schlecht zusammen, wenn ich meine Songs angemessen präsentieren wollte. Für eine Band hatte ich weder Geld noch Zeit, also musste ich in kurzer Zeit etwas anderes auf die Beine stellen. Ich hätte nicht gedacht, dass das dann so ein Thema wird. Viele Leute sind sehr beeindruckt von der Show, und plötzlich gelte ich als "moderne Ein-Mann-Band" und all so was. Darum ging es mir nicht, das war nicht als möglichst auffälliger Gimmick gedacht, es entstand rein aus Notwendigkeit. Wie es aussieht, brauche ich tatsächlich keine Band, ich kann es alleine."
Ist das Livespielen das Schönste am Musiker-sein?
"Kommt drauf an, wann Sie mich fragen, je nachdem, ob ich gerade auf Tour bin oder gerade aus dem Studio komme. Ich mag alles daran! Aber wenn ich sieben Monate auf Tour bin und nie mal etwas Neues kreieren kann, dann fehlt mir das sehr. Und wenn ich sieben Monate im Studio war und auf keiner Bühne, dann werde ich hibbelig, und es fehlt mir das Livespielen. Zurzeit bin ich weder auf der Bühne noch im Studio - und vermisse beides gleichermaßen."