Am Ende seines Lebens war Jacques Derrida besorgt um seinen Nachruhm. Dem "Le Monde"-Journalisten Jean Birnbaum gestand er damals, er sei davon überzeugt, seine Philosophie werde nur von einer verschwindend kleinen Minderheit wirklich gelesen:
"Was diese Frage angeht, bin ich von den widersprüchlichsten Hypothesen überzeugt. Glauben Sie mir, ich halte zweierlei für möglich: Zum einen muss ich lächelnd und unbescheiden gestehen, dass man keineswegs begonnen hat, mich zu lesen. Zwar gibt es zweifellos viele gute Leser – vielleicht weltweit zwanzig, dreißig oder mehr –, aber im Grunde ist es zu spät, dass sich das auswirken könnte. Zum anderen bin ich mir sicher, dass fünfzehn Tage oder ein Monat nach meinem Tod nichts mehr übrig bleiben wird. Ausgenommen das, was in den Pflichtbeständen der Bibliotheken verwahrt wird."
So desillusioniert, wie in diesem Interview, hat sich der krebskranke Philosoph zuvor selten geäußert. Stattdessen vermittelte er immer wieder den Eindruck, als wolle er gegen den unvermeidlichen Tod mit aller Macht ankämpfen. Trotz der Chemotherapien begab er sich immer wieder auf Vortragstouren ins Ausland, redigierte die neuesten Druckfahnen, engagierte sich gegen die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten und in China, gab Zeitungsinterviews und beteiligte sich an Fernsehdebatten. Zwischen diesen Terminen fand er endlich Zeit, das "Le Monde"-Interview zu redigieren. Doch neben ihm warteten bereits die Koffer für die nächste – seine letzte – Reise, um in Rio de Janeiro an einem Kolloquium über sein Werk teilzunehmen.
Tatsächlich stellte Derrida die Vortragsreisen sämtlicher Berufskollegen in den Schatten. Jacques Derrida war von ganz anderem Naturell als der von ihm verehrte Martin Heidegger. Auch Heidegger wurde wiederholt nach Amerika eingeladen, doch der lehnte jedes Mal dankend ab und zog es vor, in seiner Schwarzwald-Hütte über "Gelassenheit" zu philosophieren und über die schwäbischen "Holzwege" zu schreiben. Dem Franzosen dürfte es gefallen haben, dass Heidegger das Leben als "Sein zum Tode" beschrieb. Doch im Grunde rebellierten beide dagegen. Beide schrieben und publizierten ohne Unterlass, um gegen das physische Ende und das Vergessen aufzubegehren. Zur Erinnerung: Die Heidegger-Edition ist derzeit auf 102 Werke angewachsen. Bei Derrida, der die meisten Werke zu Lebzeiten veröffentlichte, sind es immerhin über neunzig Bücher.
"Mir ist heute die Demokratie nicht ausreichend"
Tatsächlich kommen rechtzeitig zum deutschen Bücherherbst, drei neue Derrida-Titel aus dem Wiener Passagen-Verlag hinzu. Bemerkenswert ist der Gesprächsband "Politik und Freundschaft", der auf ein langes Interview mit dem Philosophen Michael Sprinker aus den späten 80er-Jahren zurückgeht. Die Thematik weist voraus auf zwei wichtige Publikationen Derridas aus den 90er-Jahren: "Politiques de l'amitié" und "Spectres de Marx". Der Band "Politik und Freundschaft" entwickelt nicht nur eine Kritik des dogmatischen Marxismus, der in den 60er-Jahren die Pariser Universitäten dominierte. Derrida kritisiert auch die strukturalistische Marxismus-Position seines Kollegen Louis Althusser, mit dem er freundschaftlich verbunden war. In "Politik und Freundschaft" finden sich aber auch Ansätze zur Demokratie-Theorie, die Derrida in späteren Publikationen ausarbeitete. Am Vorabend des Zusammenbruchs der realsozialistischen Systeme bekannte er:
"Mir ist heute die Demokratie nicht ausreichend. Das Politische ist im Augenblick für mich der Ort einer Verhandlung oder eines Kompromisses zwischen dem Kräftefeld, wie es derzeit besteht und der 'kommenden Demokratie'. 'Kommende Demokratie' ist ein Denken des Ereignisses, des Kommenden also, das ist der offene Raum, damit es das Ereignis, die Zukunft gibt, und damit die Ankunft die des Anderen ist. Undemokratische Systeme sind in erster Linie Systeme, die sich verschließen, sich dieser Ankunft des Anderen verschließen."
Wenige Monate vor seinem Tod am 9. Oktober 2004 kam Derrida auf das Thema wieder zurück. In den neuen, offenen politischen Organisationsformen erblickte er einen starken demokratischen Impuls:
"Ich plädiere für eine neue Internationale. Das ist ein Bund der Gegenseitigkeit, des Leidens und der Hoffnung, ein noch zurückhaltender, fast geheimer, aber ein zusehends sichtbarer Bund. Ein unzeitgemäßer Bund ohne Satzung, ohne Titel und Namen. Dieser Bund ist kaum öffentlich, wenngleich er genauso wenig geheim ist. Er hat weder Vertrag noch Organisationsstruktur, er hat keine Partei, kein Vaterland und keine nationale Gemeinschaft, keine Staats- und Klassenzugehörigkeit. Die neue Vereinigung der Globalisierungsgegner ist in meinen Augen die einzige Kraft, die wirklich für die Zukunft steht. Ich glaube nicht an die große Revolution, die in naher Zukunft die Supermächte zu Boden zwingen könnte. Allerdings glaube ich, dass die Bewegungen und Überzeugungen der Globalisierungsgegner bereits heute dazu beitragen, dass sich die Supermächte reformieren."
Souveränität und Ohnmacht
Als Michael Sprinker und Jacques Derrida über "Politik und Freundschaft" diskutierten, gab es an amerikanischen Universitäten einen regelrechten Derrida-Kult. In diesen Jahren, als der Pariser Philosoph von Vortrag zu Vortrag reiste, gründete sich in Wien der Passagen-Verlag. Seither publizierte er die wichtigen, aber auch etliche weniger wichtige Bücher des französischen Meisterdenkers. Nun also, pünktlich zu Derridas zehntem Todestag, folgen gänzlich verschiedene Publikationen. Neben dem erwähnten Gesprächsband kommt jetzt auch "Augen der Sprache" heraus. Das Büchlein, das einen Briefwechsel der beiden jüdischen Denker Franz Rosenzweig und Gershom Scholem kommentiert, ist allerdings eher ein Nebenprodukt aus Derridas ungestilltem Schaffensdrang. Bedeutsamer ist das angekündigte Buch "Tier und Souverän". Es basiert auf dem Seminar "La bête et le souverain" an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales.
Nun haben Derridas Nachlassverwalter den ersten Band des von 2001 bis 2003 gehaltenen Seminars über die "Bestie und den Souverän" herausgegeben. Dem umfangreichen Buch soll ein zweiter Band folgen, schließlich die Publikation sämtlicher, an den Pariser Universitäten abgehaltenen Seminare. Der vorliegende Band hat den Vorzug, dass er den Leser an Derridas Seminarstil teilhaben lässt. Er führt ihm Schritt für Schritt vor Augen, wie die minutiöse Arbeit der Dekonstruktion im Austausch mit den Studenten entstand. Im Seminar "Tier und Souverän" geht es Jacques Derrida um die Dekonstruktion ungeteilter Souveränität. Zumeist staatlicher Souveränität, der oft gottgegebene Attribute beigemengt werden, um den Herrschaftsanspruch zu legitimieren.
Ebenso befragt Derrida scharfsinnig die traditionell fest gefügten Gegensätze von Souveränität und Ohnmacht. Aber auch die von Mensch – homo animal rationale - und Tier. Warum braucht es eines immer wieder kulturell verbürgten Begriffsapparats, fragt Derrida. Um sich über das Tier erheben zu können? Und: Wo wird der Begriffs-Dualismus Mensch-Tier brüchig?
Derrida möchte den Marranen stärken
Als Jacques Derrida im Frühjar 2003 seine letzten Seminarsitzungen vorbereitete, wurde er zu einem Kolloquium ins Pariser "Institut du Monde Arabe" geladen. Im Verlauf der Diskussion kam er auf die Zwangskatholisierung der Muslime und Juden während der spanischen Reconquista zu sprechen. In der beginnenden Neuzeit entstand, so Derrida, die Figur eines Juden, des Marranen, der sich äußerlich der Zwangsherrschaft beugte und die Sprache seines Herrn sprach. Derrida erwähnte den Marranen, da er für ihn das Gegenbild staatlicher Souveränität und Macht verkörpert: Denn der Marrane bewahrte im Geheimen die eigene Sprache, die Gesetze und Riten seiner Religion. Sie waren ihm ein Schutzraum, in den die katholischen Mächte nicht vordringen konnten. Jacques Derrida möchte den Marranen stärken – gegen die Übergriffe der Herrschenden, die sich auch seiner letzten Geheimnisse bemächtigen wollen.
"Ich bin mir nicht ganz sicher, was den Ursprung meiner Familie betrifft. Trotzdem muß ich gestehen, daß mich das Wort 'Marrane' stark beindruckt hat, gerade wegen meiner möglichen jüdisch-spanischen Wurzeln und wegen der Kultur des Geheimnisses, die zum Marranen gehört. Die Frage des Geheimnisses läßt mich nicht los, nicht nur wegen meiner jüdischen Abstammung. Denn mich interessiert sehr stark eine Politik des Geheimnisses, die sich der Politik, der Politisierung und der Transparenz entzieht. Ist das Geheimnis bedroht, dann droht der Totalitarismus. Der Totalitarismus ist das zerstörte Geheimnis: Du mußt beichten, Du mußt gestehen, Du mußt aussagen! Die im Geheimen verbreitete Lehre des Marranen besagt, daß das Geheimnis gewahrt werden muß. Die Frage nach dem Geheimnis, nach dem absoluten Geheimnis, hat mich seit dem Nachsinnen über meine jüdisch-spanische Abstammung verfolgt. Mit der Zeit habe ich mich mit jemandem identifiziert, der ein Geheimnis trägt, das größer als er selbst ist und zu dem er keinen Zugang hat. Vielleicht bin ich etwas wie ein Marrane eines Marranen, ein weltlicher Marrane, der seine jüdisch-spanischen Wurzeln verloren hat."
Jacques Derrida: Politik und Freundschaft. Gespräch über Marx und Althusser
Aus dem Französischen von Noe Tessmann, Passagen Verlag, Wien 2014, 112 Seiten, 14,90 Euro.
Aus dem Französischen von Noe Tessmann, Passagen Verlag, Wien 2014, 112 Seiten, 14,90 Euro.
Jacques Derrida: Die Augen der Sprache. Abgrund und Vulkan
Aus dem Französischen von Esther von der Osten, Passagen Verlag, Wien 2014, 11,90 Euro.
Aus dem Französischen von Esther von der Osten, Passagen Verlag, Wien 2014, 11,90 Euro.
Jacques Derrida: Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001-2002
Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Passagen Verlag, noch nicht erschienen.
Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Passagen Verlag, noch nicht erschienen.
Klaus Englert: Jacques Derrida
UTB Verlag, Paderborn 2009, 115 Seiten, 9,90 Euro.
UTB Verlag, Paderborn 2009, 115 Seiten, 9,90 Euro.