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Jacques Derrida zum 80.

Der am 15. Juli vor 80 Jahren geborene Jacques Derrida galt in den 90er-Jahren als international bekanntester Philosoph, aber auch als kompliziert und schwer verständlich. Die Schriften aus dem Nachlass des 2004 verstorbenen Philosophen geben auch dem Publikum außerhalb der Fachwelt die Chance, sein Denken kennenzulernen.

Von Klaus Englert |
    Der französische Philosoph Jacques Derrida hat sich zeitlebens mit der Problematik des Erbes beschäftigt. Er fragte sich beispielsweise: Ist die adäquate Rezeption eines Werkes gefährdet, wenn sein Autor gestorben ist? Bedeutet nicht gerade die Abwesenheit des Verfassers, dass richtiges Verstehen niemals garantiert sein kann? Und beeinflussen politische und soziale Wechselfälle das Werkverständnis? Schließlich: Wie kommt es, dass sich das Erbe eines Philosophen in unterschiedlichen Ländern völlig verschieden auswirkt? Derrida führt die Fälle Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger an, die in Frankreich nach dem Krieg, ganz im Gegensatz zu Deutschland, geradezu enthusiastisch rezipiert wurden:

    "Das Erbe deutschen Denkens hat sich in Deutschland und Frankreich verschieden ausgeprägt. Aus historischen und politischen Gründen ist man in Frankreich mit dem Erbe Hegels, Marx', Nietzsches und Hegels völlig anders umgegangen. Kaum jemand in Frankreich hat die Hegel-Kritik von Adorno und Habermas nachvollzogen. Die Hegel- und Marx-Rezeption hat sich bei uns völlig anders ausgewirkt. In der deutschen Nachkriegszeit schwieg man aus verständlichen Gründen zu Heidegger und Nietzsche. Dagegen las man in Frankreich Heidegger und Nietzsche völlig unbelastet. Es gab also in beiden Ländern große Unterschiede. Schließlich kommt hinzu, dass man sich in Frankreich nach dem Krieg weniger für die Frankfurter Schule als für Heidegger und Nietzsche interessierte. Wenn sich die französischen Intellektuellen zur heideggerianischen Tradition bekannten, bedeutet das aber nicht, dass sie Heidegger unkritisch lasen. Ganz im Gegenteil, es gab eine sehr kritische Heidegger- und Nietzsche-Rezeption."

    Jacques Derrida fühlt sich auch mit einem deutschen Denker verwandt, dem als Jude und Marxist in den 30er-Jahren der Zugang zur akademischen Lehre versperrt blieb. Im Pariser Exil fühlte er sich sogar von seinem engsten Unterstützerkreis abgeschnitten:

    "In Frankreich hat man versucht, Walter Benjamin, da er am französischste erschien, von der Frankfurter Schule abzusondern. Bekanntlich wurde er in Deutschland, sogar von seinen Freunden, beispielsweise von Adorno, nicht gerade gut behandelt. Die Franzosen haben Benjamin wesentlich mehr gelesen als Adorno, Horkheimer und Habermas."

    Nachdem sich Derrida jahrzehntelang mit dem Erbe Benjamins, Nietzsches und Heideggers beschäftigt hat, stellt sich mittlerweile, fast sechs Jahre nach dem Tod des französischen Philosophen, die Frage, was von seinem eigenen Werk geblieben ist. Gibt es ein Erbe von Jacques Derrida, gibt es Philosophen, die sein Denken fortführen?

    Jay Hillis Miller, Derridas Kollege aus der gleichermaßen bewunderten wie gefürchteten "Yale-Mafia", sagte einmal: "Gleichgültig, ob man sich für oder gegen Derrida aussprach, in den Vereinigten Staaten konnte man nicht so tun, als nehme man ihn nicht wahr." Tatsächlich gehörte Derrida seit 1966 zum festen Bestandteil der literaturwissenschaftlichen Departments. Nicht nur Philosophen, auch Theologen, Juristen und Architekten rezipierten begeistert den Theorieimport aus dem alten Kontinent.

    Mittlerweile ist der Siegeszug der französischen Meisterdenker beendet. Das betrifft auch den am 15. Juli 1930 bei Algier geborenen Jacques Derrida, der nach seinem Tod zum Gegenstand historischer Abhandlungen geworden ist. Und so verwundert es nicht, dass das französische Literaturmagazin "Magazine littéraire" seine letzte Ausgabe "Derrida en héritage" widmete und an den beharrlichen Grenzgänger erinnerte. Denn der Pariser Denker hinterließ nahezu neunzig Bücher, in denen er sich mit der Poesie Paul Celans, der Semiologie Ferdinand de Saussures, der Religionsphilosophie Emmanuel Lévinas, der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der politischen Theorie Carl Schmitts auseinandersetzte. Einer seiner einflussreichsten Vorträge hielt er im Herbst 1989 an der New Yorker Cardozo School of Law über Recht und Gerechtigkeit in Walter Benjamins Frühwerk. Dieser Vortrag hat viel dazu beigetragen, die Diskussion um die gegenseitige Bedingtheit von Recht und Gerechtigkeit sowohl in die philosophischen als auch in die juristischen Fakultäten hineinzutragen. Kurze Zeit vor seinem Tod mischte er sich erneut in eine juristische Debatte ein. Diesmal äußerte er sich, als sich der Streit um das reproduktive und therapeutische Klonen zuspitzte. Dabei erklärte Derrida, wie er sich eine notwendige dekonstruktive Kritik dieser Positionen vorstellt:

    "Die scheinbar gegensätzlichen Positionen zum Klonen sind gleichermaßen dogmatisch. Deswegen glaube ich, man sollte zu allererst die Axiome, die diskursiven Voraussetzungen analysieren. Oft sind sie in derselben Metaphysik begründet. Schließlich kommt es ja darauf an, diese Metaphysik zu dekonstruieren."

    Natürlich drängt sich die Frage auf, wie es, nach dem Tod des Autors, um ein Werk bestimmt sein kann, das dieser selbst als "Randgänge der Philosophie" verstand. Wohlgemerkt, Derrida interessierte sich allerdings niemals für die klassischen Genres und Inhalte, sondern für eine bestimmte Art des Textverstehens. Anders gesagt: für eine dekonstruktive Lektüre wissenschaftlicher und literarischer Texte. Dekonstruktion verstand er nicht als innerphilosophisches Verfahren, als geschlossenes System oder fest umrissene Methode. Vielmehr ging es ihm darum, geduldig die quasi naturgegebenen Hierarchien und Ordnungen aufzuspüren, die sich in wissenschaftlichen und literarischen Texten sedimentiert haben. Und dabei Denkwege außerhalb der etablierten begrifflichen Bezugssysteme zu bahnen. Das ist der Ariadnefaden, der sich durch Derridas kompliziertes und vielschichtiges Werk zieht. Zweifellos hat ein derartiges Denken, das in jedem Totalisierungsbestreben die subkutanen Dissonanzen heraushört, seine Aktualität in der heutigen Zeit nicht verloren. Dennoch hat sich der theoretische Anspruch gewandelt. Das bemerkte auch Derrida, als er im August 2004, angesichts des nahenden Krebstodes, einem Journalisten ernüchtert gestand:

    "Ich halte zweierlei für möglich: Einerseits muss ich lächelnd und unbescheiden gestehen, dass man keineswegs begonnen hat, mich zu lesen. Zwar gibt es zweifellos viele gute Leser - vielleicht weltweit zwanzig, dreißig oder mehr -, aber im Grunde ist es zu spät, dass sich das auswirken könnte. Andererseits bin ich mir sicher, dass fünfzehn Tage oder ein Monat nach meinem Tod nichts mehr übrig bleiben wird. Ausgenommen das, was in den Pflichtbeständen der Bibliotheken verwahrt wird."

    Jacques Derrida war offensichtlich davon überzeugt, dass sein philosophisches Erbe in der Nachwelt keinerlei Bestand haben wird. Diese Einsicht überrascht keineswegs, hat er sich doch lange mit dem Überleben, mit dem Leben nach dem Tod und mit der Bedrohung durch den Tod auseinandergesetzt. Heute lässt sich feststellen, dass er keine "Schule" hinterlassen und keinen "Derridismus" begründet hat. Und trotzdem wird sein geistiges Erbe wach gehalten. Das zeigt die herkulische Edition, an die sich Derridas Nachlassverwalter gewagt haben. Sie gaben kürzlich die beiden Bände heraus, die Derridas letzte Lehrveranstaltung "Die Bestie und der Souverän" dokumentiert, die er zwischen 2001 und 2003 an der Pariser Ecole des hautes études en sciences sociales hielt. Die jetzt vorliegenden Bände lassen den Leser an Derridas lebendigem Seminarstil teilhaben. Sie führen ihm Schritt für Schritt vor Augen, wie die minutiöse Arbeit der Dekonstruktion im Austausch mit den Studenten entsteht. So beschäftigte er sich 2002, als George W. Bush gerade die Irak-Invasion vorbereitete, mit den Souveränitäts- und Machtfantasien der Herrschenden, die es zu analysieren und zu dekonstruieren galt. Dem damaligen US-Präsidenten, der die "Schurken-Staaten" an den Pranger stellte, hielt Derrida entgegen, gerade den Souverän zeichne eine "unheimliche Verwandtschaft" mit der Bestie und dem Verbrecher aus, da sich alle drei über das Gesetz stellen. Bei vielen Regierenden sieht der Philosoph das Phantasma einer ungeteilten Souveränität am Werk, die sich, wie beim pietistischen George W. Bush, durch eine vermeintlich göttliche Souveränität legitimiert. In seinen letzten Vorlesungen von 2003 erkennt Derrida einen Gewährsmann für seine souveränitätskritischen Äußerungen. Es ist Martin Heidegger, der bewährte Sparringspartner, dem er vierzig Jahre lang kritisch die Treue hielt.

    Im letzten Frühjahr publizierte außerdem der Bonner Literaturwissenschaftler Michael Wetzel eine kleine Monografie, die den zahllosen "Randgängen" von Derridas Philosophie folgt. Auch der Wiener "Passagen"-Verlag bleibt auf den Spuren seines Lieblingsautors: Allein in diesem Jahr veröffentlicht er drei seiner Werke: "Psyche. Erfindungen des Anderen" - ein geradezu programmatischer Vortrag von 1984, und "Bleibe, Athen", literarische Aphorismen, die Derrida 1996 anlässlich eines Athenaufenthalts schrieb. Demnächst veröffentlicht der Wiener Verlag außerdem den Vortrag "Das Tier, das ich also bin" von 1997. Die beiden Vorträge sind Lehrbeispiele der Dekonstruktion. Der jüngere Text dekonstruiert Jacques Lacans rigorose Unterscheidung zwischen dem sprachfähigen Menschen und dem sprachunfähigen Tier und hebelt damit den traditionellen Mensch-Tier-Dualismus aus. In dem älteren Text von 1984 versucht Derrida, Dekonstruktion und Demokratie zusammen zu führen. Gemäß seines Mottos "Keine Dekonstruktion ohne Demokratie, aber auch keine Demokratie ohne Dekonstruktion." In beiden Formen deckt der Philosoph Merkmale auf, die gleichsam sein an Nietzsche geschultes Denken auszeichnen: Vertrauen in die offene Struktur, das Unvorhersehbare, das Ereignis, das Unmögliche. In einem Fernseh-Interview von 1996 zählte Jacques Derrida auch die Erfindung hinzu. Nur durch die Erfindung sei es möglich, beispielsweise das Medium Fernsehen aus seinen Erstarrungen zu befreien:

    "Ich misstraue allem, was in konventionelle Formen und in einen homogenen Raum gezwängt wird. Und was sich der Erfindung und der Verschiedenheit entzieht. Es wäre großartig, wenn mehr Bürger und Intellektuelle mit Kino- und Fernseh-Profis zusammenarbeiten würden, um die Medien zu verändern. Diese Veränderungen müssen sich gegen die schreckliche Macht des Privat-Fernsehens durchsetzen, damit völlig unterschiedliche und neue Erfahrungen möglich werden."


    Literatur:

    1. Jacques Derrida: Séminaire. La bête et le souverain. Volume I
    (2001-2002), herausgegeben von Michel Lisse, Marie-Louise Mallet und Ginette Michaud, Editions Galilée, Paris 2008, 469 S, 33,00 Euro.

    2. Jacques Derrida: Séminaire. La bête et le souverain. Volume II
    (2002-2003), herausgegeben von Michel Lisse, Marie-Louise Mallet und Ginette Michaud, Editions Galilée, Paris 2010, 400 S, 33,00 Euro.

    3. Jacques Derrida: Psyche. Erfindungen des Anderen, Passagen
    Verlag, Wien 2010, 112 S, 14,90 Euro.

    4. Jacques Derrida: Bleibe, Athen, Passagen Verlag, Wien 2010, 14,90 Euro.

    5. Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, 280 S.,
    38,00 Euro.

    6. Michael Wetzel: Derrida, Reclam Verlag, Stuttgart 2010, 156 S.,
    9,90 Euro.

    7. Klaus Englert: Jacques Derrida, Fink/UTB-Profile 2009, 115 S., 9,90 Euro.