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Jacques Rancière
Die Methode der Gleichheit

Der französische Philosoph Jacques Rancière wurde mit Arbeiten zur politischen Philosophie und Ästhetik bekannt. Ein Buch mit Gesprächen mit dem Politikwissenschaftler Laurent Jeanpierre und dem Filmwissenschaftler Dork Zabunyan gibt Einblick in seinen Werdegang.

Von Thomas Kleinspehn |
    Man kann Leben und Denken von Arbeitern – zumal in der Vergangenheit – auf vielfältige Weise benutzen: Als verklärter Beleg für solidarisches Handeln in den ersten Jahrzehnten der Arbeiterbewegung; als Beweis für fehlendes Bewusstsein einer Klasse kann es als Begründung für die gescheiterte große Revolution eingesetzt werden. Oder es kann als Zeugnis für fehlende intellektuelle Durchdringung angesehen werden. Welcher Akzent auch immer gewählt wird, seit dem 19. Jahrhundert demonstrieren Intellektuelle gern ihre Überlegenheit gegenüber der Arbeiterklasse. Noch bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts wird von ihnen immer wieder die leninistische Formel von der Vorhut des Proletariats benutzt. Das teilten nicht alle.
    Der französische Philosoph Jacques Rancière gehörte zwar seit den 60er-Jahren zu jenen französischen Intellektuellen, die in Elite-Schulen ausgebildet wurden und sich nun anschickten, den Arbeitern die Welt und die Revolution zu erklären. Allerdings setzte er schon damals mehr Fragezeichen an eine Theorie, die die Praxis anderer Menschen definieren soll, als ihr zuzustimmen. Doch die Zeit für eine neue Perspektive war noch nicht wirklich reif. Rancières richtungweisendes Buch "Die Nacht des Proletariats" erschien erst Anfang der 80er-Jahre. In diesem Buch legte er die Grundlage, die für sein Denken bis heute Gültigkeit hat und in jüngster Zeit noch einmal in besonderer Weise Aktualität erlangt.
    "Meine Methode besteht [nicht] darin, von einer Formel ursprünglicher Vernunft auszugehen, aus denen die anderen sich als abgewandelte oder spezifizierte Formen ableiten würden, sondern von einer bestimmten Anzahl von Szenen, in denen man sieht, wie die Akte, die Anordnungen, die Entscheidungen bestimmt und verifiziert werden, ausgehend, von denen die Zuteilungen vollzogen werden, die es erlauben, Tätigkeiten des Denkens und sprachliche oder manuelle Leistungen als Philosophie, Literatur oder Kunst zu bezeichnen oder auch zwischen Philosophie und Sophismus, Volkskunst und hoher Kunst, Ausdruck und Denken zu unterscheiden."
    Hinter diesem recht abstrakten Modell verbirgt sich Jacques Rancières Denken, das ihn seit den 90er-Jahren in Frankreich bekannt gemacht und das er jetzt noch einmal in einem langen Gespräch mit seinen Kollegen Laurent Jeanpierre und Dork Zabunyan erläutert hat. Es ist eine Theorie, die zumindest von dem Anspruch ausgeht, Gleichheit zu vertreten: Die Gleichheit zwischen dem manuellen Arbeiter und seinem philosophischen Beobachter, die Gleichheit zwischen Streikenden und Organisatoren usw.
    "Zum Beispiel die Verbreitung der Idee der Gleichheit der Intelligenz, der Idee der Gleichheit als Ausgangspunkt... Das hat Auswirkungen ebenso im Bereich der aktivistischen Politik wie im Bereich des theoretischen Diskurses oder der künstlerischen Praxis. Ich denke, dass ich die Wirkungen hervorgebracht habe, die ich wollte, in dem Sinne, als ich den Leuten sagte, dass sie nicht gezwungen sind, so und so zu denken."
    Kant und Schillers ästhetischer Theorie näher als Karl Marx
    Es wird häufig, auch in Deutschland, behauptet, Rancières Theorie habe sich seit den 60er-Jahren von der Philosophie und der Politik hin zur Ästhetik entwickelt. Heute findet man seine Bücher vor allem in Kunstakademien und Kunst-Buchläden vertreten. Oberflächlich betrachtet, mag das stimmen, weil von ihm in den letzten zwanzig Jahren etliche Titel zu Kunst, Theater, Kino und allgemein Ästhetik erschienen. In dem Band "Methode der Gleichheit" wird aber deutlich, dass Kunst und Politik für Rancière keine Gegensätze sind. Reflexion gehe vielmehr vom Gegenstand, von der Realität aus. Für ihn ist Denken von Anfang an ästhetische Umgestaltung von Erfahrung und nicht das Aufpfropfen von Theorie auf Realität. Hier ist er Kant und Schillers ästhetischer Theorie näher als Karl Marx.
    "An der Angelegenheit von Kant/Schiller hat mich vor allem die ästhetische Aussetzung als Aussetzung eines hierarchischen Regimes interessiert. Weder geht es darum, dass der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt, noch um die anarchische Revolte der Empfindung gegen den Verstand. Das lässt sich unmittelbar in politischen Begriffen fassen, man hat es mit der Manifestation eines Unterschieds im Sinnlichen zu tun, der weder im Überschuss eines Vermögens noch in der Störung des Vermögens untereinander auflösbar ist."
    Jacques Rancière stammt ursprünglich aus der streng formalen Schule des Philosophen Louis Althusser. Mit ihm hat er in Paris Anfang der 60er-Jahre zusammengearbeitet, mit ihm hat er auch an dem späteren Klassiker "Das Kapital lesen" geschrieben. Es war Althussers Idee, Karl Marx und vor allem dessen Hauptwerk "Das Kapital" neu zu bewerten. In seiner Deutung geriet der Marxismus nun zu einer rein formalen und letztlich normativen Theorie. Alle darüber hinausgehenden Ansätze von Emanzipation, Entfremdungskritik und Sinnlichkeit, die es auch im Marxschen Werk gibt, wurden gekappt. Genau in diesem dogmatischen Denken lag die Bruchstelle für die Trennung Rancières von seinem Lehrmeister. In Ansätzen ist diese Kritik bis heute in seinem Werk erkennbar. Angeregt von den Aufständen im Mai 1968 und den Streiks der frühen 70er Jahre hat Jacques Rancière Flugblätter und andere Schriften von Aufständigen aus dem 19. Jahrhundert zusammengetragen, die ihre Aktionen hauptsächlich beschrieben und sie nicht in eine Theorie oder in abstrakte Regeln gepackt hatten. In seinem ersten größeren Buch, "Die Nacht der Proletarier" beschreibt er sehr detailliert, wie sich Dinge in der Realität verändern, wie sich Möglichkeiten neu ergeben, die strukturell nicht vorab gedacht sind.
    "Das ist es, was mich interessiert, nämlich die Möglichkeiten der Neugestaltung eines Möglichkeitsfelds. Das unterscheidet mein Denken von all den Theorien des Ereignisses, die Theorien der Transzendenz sind, oder von den Theorien wie denen Foucaults, die versuchen, das Denkbare, Sagbare, Erfassbare einzugrenzen und zu systematisieren."
    Debatte über Denken, Erkenntnis und Sinnlichkeit
    Im Gespräch mit dem Pariser Politikwissenschaftler Laurent Jeanpierre und dem Filmwissenschaftler an der Universität in Lille Dork Zabunyan entwickelt und begründet Jacques Rancière seine Theorie und deren Entwicklung noch einmal sehr ausführlich. Dadurch wird deutlich, dass er nach seinen ersten Funden in den Flugblättern der Saint-Simonisten im 19. Jahrhundert seine nicht-hierarchische Theorie der Singularität Schritt für Schritt vertieft: Zunächst in einer Studie zu dem Erzieher Joseph Jacotot, der schon vor den bürgerlichen Revolutionen als Antipädagoge davon ausging, dass jeder ohne hierarchische Einordnung etwas zu sagen habe. Dieser Versuch, Philosophie auf den Boden der Realität zu holen, verschärft sich noch in den Auseinandersetzungen mit seinen teilweise populäreren Kollegen, mit denen er häufig im gleichen Institut in Paris Vincennes zusammen gearbeitet hat. Obwohl er es nicht so nennt, geht es Rancière letztlich um eine Philosophie, mit der man Alltag und Leben von Menschen besser verstehen kann. Sie brauche jedoch keine Systematik. Vor diesem Hintergrund kann man dann auch seine Beschäftigung mit Kunst, Ästhetik und Politik einordnen. Für ihn ist sie nicht etwas gänzliche Neues, sondern die Konsequenz der schon vor Jahrzehnten begonnenen Philosophie der Gleichheit. Wenn man das ernst nimmt, kann man das genauso kritisch gegen einen dogmatischen Marxismus oder Strukturalismus wenden, wie gegen Theorien, die uns Sinnstiftung mit GPS verkaufen wollen oder die Notwendigkeit von Veggie-Tagen begründen. In dieser Hinsicht ist das Buch sehr aktuell: als Übersicht zu einem spannenden, aber doch sehr verstreutem Werk des französischen Philosophen und als Anstoß für eine Debatte über Denken, Erkenntnis und Sinnlichkeit, die weitaus mehr ist als nur philosophische Spitzfindigkeiten zu benennen. Sie führt genauso zu den Ausgeschlossenen und Rechtlosen, den sans-papier und boat-people, wie zu einer konsequenten Kritik jeglichen Fundamentalismus. Schade nur, dass sowohl der französische als auch der deutschsprachige Verlag uns nähere Informationen über die drei Diskussionsteilnehmer vorenthalten. Weder erfährt man, unter welchen Bedingungen und in welchem Zeitraum sie zusammen gesprochen haben, noch wer sie überhaupt sind. Hier hilft das Netz nur bedingt weiter. Gerade unter der Perspektive der Singularität und der Gleichheit, die man aus dem Buch gerne mitnimmt, wären hier einige zusätzliche Informationen nützlich gewesen.
    Jacques Rancière: Die Methode der Gleichheit. Gespräch mit Laurent Jeanpierre und Dork Zabunyan.
    Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard, Wien, Passagen Verlag 2014, 272 Seiten, 29.90 Euro.