Im Jahr 2008, Christa Wolf ist 79 Jahre alt, schreibt sie in ihr Tagebuch:
"Dies ist nicht mehr meine Zeit!"
Dies ist ein verzweifelter Satz, er stellt ihr gesamtes Projekt infrage. Doch wie Christa Wolf diese Erkenntnis festhält, entspricht der Logik ihres Buches. Solch eine Erkenntnis führt über all das hinaus, was die Autorin wissen konnte, als sie anfing zu schreiben. Die existenzielle Dimension, von der sie und ihre Leser immer wieder aufs Neue ergriffen wurden, bekommt jetzt Farben, die nicht mehr innig, schön und identifikationsstiftend sind, sondern grell und stechend.
Die Notizen in "Ein Tag im Jahr" leben davon, die Subjektivität der Autorin in ihrer Zeit zu spiegeln, und diese schreiberische Subjektivität ist von vornherein darauf angelegt, über das eigene Ich hinauszuweisen. Im Jahr 2003 hat Christa Wolf zum ersten Mal etwas aus diesem besonderen Work in Progress veröffentlicht. An jedem 27. September, nach einem sozialistischen Creative-Writing-Vorschlag des sowjetischen Schriftstellers Maxim Gorki, notierte sie seit 1960, was ihr an diesem einen konkreten Tag im Jahr widerfuhr und was sie beschäftigte. Und das geschah jedes Mal in dem Bewusstsein, dass "der Autor ein wichtiger Mensch" sei – so äußerte sich Christa Wolf einmal auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung als DDR-Schriftstellerin. Schon früh, und seitdem immer stärker, bejahte sie emphatisch genau jene repräsentative Funktion, die sie sich bei ihren Lesern erschrieben hat. Aber sie fühlte sich auch zunehmend von ihr überfordert. Von dieser Spannung sind die Tagebuchsätze geprägt.
"Und dann, wie meistens jetzt, ein Autogrammwunsch – meine Adresse muss da auf einer Liste stehen, die die Autogrammjäger, die natürlich meistens keine Zeile von mir gelesen haben, abarbeiten. Ich habe für solche Fälle ein Blatt mit dem Text: "Frau Wolf vergibt keine Autogramme außer bei Lesungen in ihre Bücher." Aus irgendeinem Grund beleidigen mich diese Autogrammwünsche."
Das neue Buch umfasst die Jahre von 2001 bis 2011. Im Mittelpunkt des ersten Eintrags steht der 11. September 2001: der 27. September, "der Tag des Jahres", ist bis in die kleinsten Einzelheiten davon durchdrungen. Schon im Bad greift die Autorin zum schwarzen Radioknopf, um die neuesten Nachrichten zu hören. Ihr Selbstverständnis als gesellschaftlich engagierte Schriftstellerin und ihre hochempfindliche Subjektivität werden eins. Noch aus dem Traum heraus erwacht sie mit der Vorstellung eines "Risses im Gewebe der Zeit". Man kann dies psychoanalytisch deuten, als Wunscherfüllung im Traum, als Bild des Schreibprozesses überhaupt, und an dem einen extra dafür bestimmten Tag im Jahr, dem 27. September, bekommt es die schärfsten Konturen. Aber die Erfahrung des Angriffs auf New York ist eben auch ganz konkret ein "Riss" im gewohnten Gewebe der Zeit, sie wird als Epochenbruch erfahren.
"'Wirklich', wenn dieses Wort noch etwas bedeutet, ist der Riss im Gewebe der Zeit. Das weiß ich, obwohl ich es da noch nicht so ausdrücken konnte, seit jener Minute am Nachmittag des 11. September, als auf dem Fernsehschirm kurz nacheinander zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme von New York rasten und, während mein Gehirn noch ungläubig nach Erklärungen suchte, mein Körper schon begriffen hatte und jenes unangenehm ziehende Gefühl erzeugte, das mir immer anzeigt, dass etwas Unwiderrufliches, zumeist Schreckliches passiert und dass ich die Umstände, unter denen ich diesen Augenblick erlebe, nie vergessen werde: Kriegsbeginn 1939. Flucht aus der Heimatstadt 1945. Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968. - Im Alter wäre ich gerne von Geschichte verschont geblieben. Wie gerne hätte ich meine Enkelkinder in ein friedlicheres Jahrhundert entlassen."
Die Rolle, in die Christa Wolf in der DDR hineinwuchs, wurde schon in den Blütezeiten ihrer Wirkung mit etwas Märtyrerhaftem verglichen, mit etwas, was parallel zum Religiösen verläuft. In ihren letzten Lebensjahren reflektiert sie das zunehmend, einmal kommt sie ganz direkt auf die christliche Lesart zu sprechen, die ihr in einem Brief angetragen wird. Und unbewusst mag das auch auf eine Definition ihres Schreibens eingewirkt haben, die sie hier formuliert:
"In dieser Warenwelt, die alles unter sich begräbt, hat Schreiben nur noch Sinn als Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinsten Verästelungen der Person herauspräparierend und bloßlegend."
Sie schreibt sich eine Stellvertreterfunktion zu, sie ist als Schriftstellerfigur so etwas wie die Inkarnation der Gefühle des DDR-Bürgers, und das Leiden daran gehört von Anfang an untrennbar zu dieser Konstruktion. Sie ist fassungslos, wenn Leser und Leserinnen ihr ein Buch von ihr schicken – sie soll es nicht nur signieren, sondern sogar mit einem vorgegebenen Sinnspruch versehen. Empört konstatiert sie dies als "Rücksichtslosigkeit".
Über die Jahre hinweg, bis 2005, hält Christa Wolf einen Gesprächskreis in Pankow aufrecht, an einem öffentlichen Ort, doch in einem nichtöffentlichen Rahmen – das entspricht den Bedingungen des Sprechens in der DDR. Dort wird auch über die Folgen des 11. September diskutiert, und in dem Eintrag des Jahres 2001 kompiliert Christa Wolf ihre Tagebuchnotizen noch genauso kunstvoll und öffentlichkeitsbewusst wie in den Jahren zuvor, wie in dem Buch über den 27. September von 1960 bis 2000. Sie liest in dem Buch "City of God" von E.L. Doctorow, und ihr sticht ein Satz ins Auge, so direkt und lakonisch, wie sie es sich nur wünschen kann:
"Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben."
Das ist die klassische Christa-Wolf-Problematik, darum kreist ihr gesamtes Denken. Die Sehnsucht nach dem gelebten Leben ist ihrer Schriftstellerexistenz von Anfang an eingeschrieben, das eine hat das andere in bedrohlicher Weise fast ersetzt. Umso aufmerksamer registriert sie, wie Doctorow den alteuropäischen Denker Ludwig Wittgenstein zitiert, und sie schreibt das im Nachklang des 11. September getreulich ab:
"Postum möchte ich sagen, dass Europa die Schwäre der Welt ist, dass ihr in Amerika, die ihr das Beste, was Europa zu bieten hat, genommen habt und hofftet, dem Schlimmsten zu entgehen, im Dunkeln pfeift. All euer gottgesättigtes Denken bildet die religiösen Figuren nach, die europäische Kleriker aus der Wahnwelt des Vorderen Orients und der Antike geformt haben, all eure sozialen Reibungen sind das Erbe der kolonialistischen, versklavenden Wirtschaftssysteme europäischer Geschäftsleute, all eure metaphysischen Probleme haben europäische Intellektuelle für euch ausgeheckt, und nun seid ihr über den Ozean gekommen und in zwei Weltkriege geraten, die europäische Politiker entfacht haben, wodurch ihr in eurer Republik eben jene militaristische Staatsgesinnung etabliert habt, die unsere Städte seit Hadrians Zeiten zum Lodern bringt."
Das sind Sentenzen, die Christa Wolfs Denken beglaubigen und beflügeln. Es ist eine kräfteraubende, eine zehrende Selbstbefragung und Infragestellung, in der sie sich zuhause fühlt, und ihre Welt arrondiert sich endgültig, wenn sie einige berühmte Gedichtzeilen Ingeborg Bachmanns dazu assoziiert:
"Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Es kommen härtere Tage."
Vielleicht bildet diese Anrufung von härteren Tagen, die Christa Wolfs Texte schon immer grundiert hat, den notwendigen Hintergrund dafür, dass in den Jahrestagen 2001 bis 2011 eine bestimmte Tendenz stärker wird. Der Alltag nämlich, die Privatheit tritt jetzt in den Vordergrund. Christa Wolf vermerkt oft, dass sie kaum mehr Einladungen annimmt und abends zuhause bleibt. Eine große Zäsur ist ein mehrmonatiger Krankenhausaufenthalt im Jahr 2008, wegen mehrfacher komplizierter Knieoperationen, erst im Dezember holt sie den Text zum kristallisierenden Datum des 27. September nach. Der Gedanke an den Tod ist allgegenwärtig, er durchzieht die kürzer werdenden Einträge bis zum letzten des Jahres 2011. Sie benennt die sieben verschiedenen Tabletten, die sie morgens schluckt und die etlichen Ergänzungsmittel dazu, bis hin zur "Grünlippenmuschel", die sie in einer Mischung aus Verwunderung und Selbstironie erwähnt. Die Familie, die beiden Töchter, die Enkel sind die großen Stützen. Mehrfach hallen die Sommeraufenthalte im mecklenburgischen Landhaus nach, manchmal ist sie auch noch am 27. September dort und verzeichnet wehmütig das "unwirkliche Blau" des Himmels.
Auch hier, in den späten Jahren, beschreibt sie unmittelbar das, was sie angeht, getragen von einem Pflichtbewusstsein, einem Auftrag, den sie sich selbst gegeben hat – aber es ist nicht mehr so literarisiert, in eine öffentlichkeitswirksame, reflektierte Form gebracht wie früher. Es gibt bewegende Momente, in denen die enge emotionale Beziehung zu ihrem Ehemann festgehalten wird, die kleinen Liebesbezeugungen im Alltag – das wird auch im Schreiben stärker gewichtet als früher. Kleine innige Szenen bleiben haften:
"Ich mache mir noch ein wenig in der Wohnung zu schaffen, blicke bei Gerd aus dem Fenster, er steht unten mit der Hausverwalterin, Frau V., in lebhaftem Gespräch. Es gefällt mir, wie die beiden dort stehen, sie hat ihren schwarzen Hund bei sich, der an seiner roten Leine zerrt, das Licht fällt durch das noch dichte und grüne Blätterdach von der Seite auf sie, ich finde diesen Augenblick kostbar und will ihn mir merken."
Dass die DDR ein spezifisches Lebensgefühl hervorbrachte und eine unverwechselbare Heimat war, das machen mehrere Eintragungen deutlich. Die Erinnerungen des Agentenchefs Markus Wolf werden sehr differenziert, zum Teil durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen. Und der US-Präsident George W. Bush ist für Christa Wolf eindeutig "ein schlimmerer Verbrecher, als es die DDR-Oberen je sein konnten". Die tägliche Lektüre ist nach wie vor die "Berliner Zeitung", die ihre angestammte Leserschaft seit jeher in Ostberlin hatte, und flankiert wird dies von der Wochenzeitung "Freitag". Ab und zu bringt Gerhard Wolf von seinen Einkaufsgängen auch eine überregionale, westliche Zeitung mit, aber das ist ungewöhnlich. Den Sonntag der Bundestagswahl 2009 verbringt das Ehepaar im Landhaus in Mecklenburg, und hier wird die "Schweriner Volkszeitung" zu Rate gezogen.
"Heute können also um die 60 Millionen Bundesbürger ihr neues Parlament wählen. Wir haben durch Briefwahl als Einzelkandidaten Wolfgang Thierse (SPD) gewählt und als Partei Die Linke – zögernd natürlich, aber die SPD zeigt sich zu breiig und unfähig, auf die Linke zuzugehen, was die einzige Möglichkeit wäre, einen Block 'links von der Mitte' zu bilden. Sie braucht also eine starke linke Opposition. "
Zögernd, nachdenklich ist Christa Wolf schon immer in ihren Erwägungen gewesen, aber sie hat einen inneren Kompass, auf den sie zählen kann. Es ist ein merkwürdiger Umstand, wie eine geografische Heimat auch eine politische Heimat sein kann, mit all ihren konkreten Lebensumständen und Nöten. Eine bemerkenswerte Formulierung findet sich einmal bei der Beschreibung des Frühstücks von Gerhard Wolf:
"Gerd hat seine geliebten Körner gemacht, Buchweizengrütze, die wir nebst ihrer authentischen Herstellungsart einst in Moskau kennengelernt haben, die wir uns manchmal von dort mitbrachten und jetzt in jedem Bioladen kaufen können."
In diesem Satz schwingt etwas mit, da gibt es einen doppelten Boden. An der Oberfläche hört man natürlich einen Stoßseufzer: wie mühsam war doch die Alltagsbewältigung in der DDR. Aber es gibt untergründig noch etwas anderes, eine Art Sehnsuchtsmelodie, die nicht ganz bis nach oben dringt, aber einen charakteristischen Rhythmusteppich legt. Sie transportiert die Erinnerung, wie besonders es war, damals in Moskau auf Buchweizengrütze zu stoßen, das Erhaschen eines ungewöhnlichen Genusses. Und ein bisschen wird das dadurch entwertet, dass es jetzt jeder so einfach kriegen kann.
Es gibt in diesen Notaten Sätze, die wie in Stein gemeißelt sind und den gesellschaftlichen Zustand geschichtsbewusst, von einer distanzierten Position aus benennen, geschrieben von jemand, der auch eine Außenperspektive hat, der von Alternativen lebt:
"Die bürgerlichen Freiheiten sind wieder mal in die bourgeoisen ‚Freiheiten‘ gekippt."
Ost und West stehen sich atmosphärisch immer noch deutlich gegenüber, und Christa Wolf steht auf keinen Fall neutral dazwischen. Im Jahr 2003 wird "Ein Tag im Jahr. 1960-2000" veröffentlicht, das Buch über ihre regelmäßigen Aufschriebe am 27. September. So kommt es an diesem Tag in den Jahren 2002 und 2003 zu ungewöhnlichen Überschneidungen. Die Autorin schreibt darüber, dass sie sich mit diesen subjektiven Niederschriften "den Blicken der Welt ausgesetzt" sieht. Und sie schreibt im Tagebuch über das Tagebuch:
"Eineinhalb Stunden bleiben mir für den Text über den Tag des Jahres 1965, den ich nachtragen muss, aus dem Tagebuch von damals: das 11. Plenum und meine Reaktion darauf etwas später. Die Emotionen von damals sind vollständig erloschen, ich wundere mich, wie radikal meine Einsichten doch schon waren; sicher wird man fragen, wieso ich dann in der DDR geblieben bin, wenn ich so scharf und so klar sah. Außer meiner Schwierigkeit, Orte zu wechseln – wogegen mein Leben mit vielen Umzügen zu sprechen scheint – , war es eben einfach die Einsicht – oder Ansicht –: Drüben ist keine Alternative. 'Kein Ort. Nirgends' – das war schon mein Grundgefühl von da an. Sehe ich das heute anders? Habe ich die Bundesrepublik damals zu kritisch gesehen? Ich glaube eigentlich nicht. Zwar heißt es heute, der durch den Sozialstaat gezähmte Kapitalismus sei ein anderer gewesen als der heutige Raubtierkapitalismus, aber er hat sich in seinem Wesen doch nicht geändert; nur dass er dieses Wesen jetzt ungebremst und unverhüllt zeigen kann."
Die ganzen Jahre bis 2010 arbeitet Christa Wolf an ihrem letzten großen Roman "Stadt der Engel", Reminiszenzen und Gedanken an einen langen Aufenthalt in Los Angeles. Aus diesem Anlass widmet sie sich auch dem Hippie- und 60er-Jahre-Klassiker "Zabriskie Point" von Michelangelo Antonioni. Wie sie das tut, ist sehr aussagekräftig. Aus westlicher Sicht ist dieser Film, der das Lebensgefühl der späten sechziger Jahre in grandiosen Bildern einfängt, an einer zentralen Stelle doch auch äußerst zeitverhaftet und hat mittlerweile für viele wohl eine unfreiwillige Komik: die Liebesszene zwischen den beiden Hauptfiguren in der Wüste ist zwar konsequent und wunderbar, aber dann weitet sie sich plötzlich aus zu einer langen Traumsequenz, in der das ganze Tal von kopulierenden Paaren bevölkert ist, eine paradiesische Hippie-Phantasie, die die Grenze zum Kitsch ziemlich forciert überschreitet. Christa Wolf aber rezipiert diese Szene interessanterweise genau andersherum, für sie verschmilzt hier der Blumenkinder-Rausch mit utopisch-sozialistischen Vorstellungen:
"Die lange, lange Wüstenfahrt des Mädchens und der tollkühne Flug des Jungen. Ihr allzu langes Liebesspiel im Wüstensand. Das unvergessliche Bild mit den vielen Paaren, die plötzlich um sie herumliegen – eine Vision."
Ganz bei sich ist sie aber in den Mecklenburg-Szenen und am Pankower Küchentisch. Auch in diesen letzten Tagebuchjahren gibt es den unverkennbaren Christa-Wolf-Ton, diese Form von Wärme und direktem Ausdruck, die ihren Texten immer eine große Sogwirkung verlieh. Die Rolle, eine berühmte Autorin zu sein, wird jedoch zunehmend reflektiert. Im fortgeschrittenen Alter stellt sie fast ein bisschen erleichtert fest, dass sie nicht mehr so "abhängig" sei "von der Meinung der Welt." Und, noch dezidierter, aber doch mit einer resignativen Schattierung und einem gewissen Wehmutsschmerz:
"Ich fühle mich nicht mehr verantwortlich für das, was geschieht."
Das war zu Zeiten der DDR noch anders. Die Schriftstellerexistenz ist jetzt aber nicht mehr so eindeutig an eine bestimmte gesellschaftliche Erwartung gebunden. Das Selbstbild der Autorin ändert sich. Die Zeit ist zu einem Fremdkörper geworden, sie ist nicht länger ein selbstverständlich verfügbarer Stoff.
Gegen Ende ihres Lebens registriert sie schmerzhaft einen Gedanken, den sie nie zugelassen hat:
"Ich wäre nicht mehr untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde."
Doch sie schreibt pflichtbewusst und subjektiv aufrichtig bis zum Schluss; sie hält ihren Zustand gewissenhaft fest. Der Eintrag ihres letzten Jahres ist nur handschriftlich erhalten, sie benennt ein "Leben zwischen Bett und Sessel", voller Schmerzen, in Todesnähe. So ist dieses Buch nicht nur ein wichtiges literatur- und zeitgeschichtliches Zeugnis, sondern auch ein bleibendes Document human.
Christa Wolf: "Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001-2011", Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 161 Seiten, 17,95 Euro
"Dies ist nicht mehr meine Zeit!"
Dies ist ein verzweifelter Satz, er stellt ihr gesamtes Projekt infrage. Doch wie Christa Wolf diese Erkenntnis festhält, entspricht der Logik ihres Buches. Solch eine Erkenntnis führt über all das hinaus, was die Autorin wissen konnte, als sie anfing zu schreiben. Die existenzielle Dimension, von der sie und ihre Leser immer wieder aufs Neue ergriffen wurden, bekommt jetzt Farben, die nicht mehr innig, schön und identifikationsstiftend sind, sondern grell und stechend.
Die Notizen in "Ein Tag im Jahr" leben davon, die Subjektivität der Autorin in ihrer Zeit zu spiegeln, und diese schreiberische Subjektivität ist von vornherein darauf angelegt, über das eigene Ich hinauszuweisen. Im Jahr 2003 hat Christa Wolf zum ersten Mal etwas aus diesem besonderen Work in Progress veröffentlicht. An jedem 27. September, nach einem sozialistischen Creative-Writing-Vorschlag des sowjetischen Schriftstellers Maxim Gorki, notierte sie seit 1960, was ihr an diesem einen konkreten Tag im Jahr widerfuhr und was sie beschäftigte. Und das geschah jedes Mal in dem Bewusstsein, dass "der Autor ein wichtiger Mensch" sei – so äußerte sich Christa Wolf einmal auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung als DDR-Schriftstellerin. Schon früh, und seitdem immer stärker, bejahte sie emphatisch genau jene repräsentative Funktion, die sie sich bei ihren Lesern erschrieben hat. Aber sie fühlte sich auch zunehmend von ihr überfordert. Von dieser Spannung sind die Tagebuchsätze geprägt.
"Und dann, wie meistens jetzt, ein Autogrammwunsch – meine Adresse muss da auf einer Liste stehen, die die Autogrammjäger, die natürlich meistens keine Zeile von mir gelesen haben, abarbeiten. Ich habe für solche Fälle ein Blatt mit dem Text: "Frau Wolf vergibt keine Autogramme außer bei Lesungen in ihre Bücher." Aus irgendeinem Grund beleidigen mich diese Autogrammwünsche."
Das neue Buch umfasst die Jahre von 2001 bis 2011. Im Mittelpunkt des ersten Eintrags steht der 11. September 2001: der 27. September, "der Tag des Jahres", ist bis in die kleinsten Einzelheiten davon durchdrungen. Schon im Bad greift die Autorin zum schwarzen Radioknopf, um die neuesten Nachrichten zu hören. Ihr Selbstverständnis als gesellschaftlich engagierte Schriftstellerin und ihre hochempfindliche Subjektivität werden eins. Noch aus dem Traum heraus erwacht sie mit der Vorstellung eines "Risses im Gewebe der Zeit". Man kann dies psychoanalytisch deuten, als Wunscherfüllung im Traum, als Bild des Schreibprozesses überhaupt, und an dem einen extra dafür bestimmten Tag im Jahr, dem 27. September, bekommt es die schärfsten Konturen. Aber die Erfahrung des Angriffs auf New York ist eben auch ganz konkret ein "Riss" im gewohnten Gewebe der Zeit, sie wird als Epochenbruch erfahren.
"'Wirklich', wenn dieses Wort noch etwas bedeutet, ist der Riss im Gewebe der Zeit. Das weiß ich, obwohl ich es da noch nicht so ausdrücken konnte, seit jener Minute am Nachmittag des 11. September, als auf dem Fernsehschirm kurz nacheinander zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme von New York rasten und, während mein Gehirn noch ungläubig nach Erklärungen suchte, mein Körper schon begriffen hatte und jenes unangenehm ziehende Gefühl erzeugte, das mir immer anzeigt, dass etwas Unwiderrufliches, zumeist Schreckliches passiert und dass ich die Umstände, unter denen ich diesen Augenblick erlebe, nie vergessen werde: Kriegsbeginn 1939. Flucht aus der Heimatstadt 1945. Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968. - Im Alter wäre ich gerne von Geschichte verschont geblieben. Wie gerne hätte ich meine Enkelkinder in ein friedlicheres Jahrhundert entlassen."
Die Rolle, in die Christa Wolf in der DDR hineinwuchs, wurde schon in den Blütezeiten ihrer Wirkung mit etwas Märtyrerhaftem verglichen, mit etwas, was parallel zum Religiösen verläuft. In ihren letzten Lebensjahren reflektiert sie das zunehmend, einmal kommt sie ganz direkt auf die christliche Lesart zu sprechen, die ihr in einem Brief angetragen wird. Und unbewusst mag das auch auf eine Definition ihres Schreibens eingewirkt haben, die sie hier formuliert:
"In dieser Warenwelt, die alles unter sich begräbt, hat Schreiben nur noch Sinn als Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinsten Verästelungen der Person herauspräparierend und bloßlegend."
Sie schreibt sich eine Stellvertreterfunktion zu, sie ist als Schriftstellerfigur so etwas wie die Inkarnation der Gefühle des DDR-Bürgers, und das Leiden daran gehört von Anfang an untrennbar zu dieser Konstruktion. Sie ist fassungslos, wenn Leser und Leserinnen ihr ein Buch von ihr schicken – sie soll es nicht nur signieren, sondern sogar mit einem vorgegebenen Sinnspruch versehen. Empört konstatiert sie dies als "Rücksichtslosigkeit".
Über die Jahre hinweg, bis 2005, hält Christa Wolf einen Gesprächskreis in Pankow aufrecht, an einem öffentlichen Ort, doch in einem nichtöffentlichen Rahmen – das entspricht den Bedingungen des Sprechens in der DDR. Dort wird auch über die Folgen des 11. September diskutiert, und in dem Eintrag des Jahres 2001 kompiliert Christa Wolf ihre Tagebuchnotizen noch genauso kunstvoll und öffentlichkeitsbewusst wie in den Jahren zuvor, wie in dem Buch über den 27. September von 1960 bis 2000. Sie liest in dem Buch "City of God" von E.L. Doctorow, und ihr sticht ein Satz ins Auge, so direkt und lakonisch, wie sie es sich nur wünschen kann:
"Die wirkliche Konsistenz von gelebtem Leben kann kein Schriftsteller wiedergeben."
Das ist die klassische Christa-Wolf-Problematik, darum kreist ihr gesamtes Denken. Die Sehnsucht nach dem gelebten Leben ist ihrer Schriftstellerexistenz von Anfang an eingeschrieben, das eine hat das andere in bedrohlicher Weise fast ersetzt. Umso aufmerksamer registriert sie, wie Doctorow den alteuropäischen Denker Ludwig Wittgenstein zitiert, und sie schreibt das im Nachklang des 11. September getreulich ab:
"Postum möchte ich sagen, dass Europa die Schwäre der Welt ist, dass ihr in Amerika, die ihr das Beste, was Europa zu bieten hat, genommen habt und hofftet, dem Schlimmsten zu entgehen, im Dunkeln pfeift. All euer gottgesättigtes Denken bildet die religiösen Figuren nach, die europäische Kleriker aus der Wahnwelt des Vorderen Orients und der Antike geformt haben, all eure sozialen Reibungen sind das Erbe der kolonialistischen, versklavenden Wirtschaftssysteme europäischer Geschäftsleute, all eure metaphysischen Probleme haben europäische Intellektuelle für euch ausgeheckt, und nun seid ihr über den Ozean gekommen und in zwei Weltkriege geraten, die europäische Politiker entfacht haben, wodurch ihr in eurer Republik eben jene militaristische Staatsgesinnung etabliert habt, die unsere Städte seit Hadrians Zeiten zum Lodern bringt."
Das sind Sentenzen, die Christa Wolfs Denken beglaubigen und beflügeln. Es ist eine kräfteraubende, eine zehrende Selbstbefragung und Infragestellung, in der sie sich zuhause fühlt, und ihre Welt arrondiert sich endgültig, wenn sie einige berühmte Gedichtzeilen Ingeborg Bachmanns dazu assoziiert:
"Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Es kommen härtere Tage."
Vielleicht bildet diese Anrufung von härteren Tagen, die Christa Wolfs Texte schon immer grundiert hat, den notwendigen Hintergrund dafür, dass in den Jahrestagen 2001 bis 2011 eine bestimmte Tendenz stärker wird. Der Alltag nämlich, die Privatheit tritt jetzt in den Vordergrund. Christa Wolf vermerkt oft, dass sie kaum mehr Einladungen annimmt und abends zuhause bleibt. Eine große Zäsur ist ein mehrmonatiger Krankenhausaufenthalt im Jahr 2008, wegen mehrfacher komplizierter Knieoperationen, erst im Dezember holt sie den Text zum kristallisierenden Datum des 27. September nach. Der Gedanke an den Tod ist allgegenwärtig, er durchzieht die kürzer werdenden Einträge bis zum letzten des Jahres 2011. Sie benennt die sieben verschiedenen Tabletten, die sie morgens schluckt und die etlichen Ergänzungsmittel dazu, bis hin zur "Grünlippenmuschel", die sie in einer Mischung aus Verwunderung und Selbstironie erwähnt. Die Familie, die beiden Töchter, die Enkel sind die großen Stützen. Mehrfach hallen die Sommeraufenthalte im mecklenburgischen Landhaus nach, manchmal ist sie auch noch am 27. September dort und verzeichnet wehmütig das "unwirkliche Blau" des Himmels.
Auch hier, in den späten Jahren, beschreibt sie unmittelbar das, was sie angeht, getragen von einem Pflichtbewusstsein, einem Auftrag, den sie sich selbst gegeben hat – aber es ist nicht mehr so literarisiert, in eine öffentlichkeitswirksame, reflektierte Form gebracht wie früher. Es gibt bewegende Momente, in denen die enge emotionale Beziehung zu ihrem Ehemann festgehalten wird, die kleinen Liebesbezeugungen im Alltag – das wird auch im Schreiben stärker gewichtet als früher. Kleine innige Szenen bleiben haften:
"Ich mache mir noch ein wenig in der Wohnung zu schaffen, blicke bei Gerd aus dem Fenster, er steht unten mit der Hausverwalterin, Frau V., in lebhaftem Gespräch. Es gefällt mir, wie die beiden dort stehen, sie hat ihren schwarzen Hund bei sich, der an seiner roten Leine zerrt, das Licht fällt durch das noch dichte und grüne Blätterdach von der Seite auf sie, ich finde diesen Augenblick kostbar und will ihn mir merken."
Dass die DDR ein spezifisches Lebensgefühl hervorbrachte und eine unverwechselbare Heimat war, das machen mehrere Eintragungen deutlich. Die Erinnerungen des Agentenchefs Markus Wolf werden sehr differenziert, zum Teil durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen. Und der US-Präsident George W. Bush ist für Christa Wolf eindeutig "ein schlimmerer Verbrecher, als es die DDR-Oberen je sein konnten". Die tägliche Lektüre ist nach wie vor die "Berliner Zeitung", die ihre angestammte Leserschaft seit jeher in Ostberlin hatte, und flankiert wird dies von der Wochenzeitung "Freitag". Ab und zu bringt Gerhard Wolf von seinen Einkaufsgängen auch eine überregionale, westliche Zeitung mit, aber das ist ungewöhnlich. Den Sonntag der Bundestagswahl 2009 verbringt das Ehepaar im Landhaus in Mecklenburg, und hier wird die "Schweriner Volkszeitung" zu Rate gezogen.
"Heute können also um die 60 Millionen Bundesbürger ihr neues Parlament wählen. Wir haben durch Briefwahl als Einzelkandidaten Wolfgang Thierse (SPD) gewählt und als Partei Die Linke – zögernd natürlich, aber die SPD zeigt sich zu breiig und unfähig, auf die Linke zuzugehen, was die einzige Möglichkeit wäre, einen Block 'links von der Mitte' zu bilden. Sie braucht also eine starke linke Opposition. "
Zögernd, nachdenklich ist Christa Wolf schon immer in ihren Erwägungen gewesen, aber sie hat einen inneren Kompass, auf den sie zählen kann. Es ist ein merkwürdiger Umstand, wie eine geografische Heimat auch eine politische Heimat sein kann, mit all ihren konkreten Lebensumständen und Nöten. Eine bemerkenswerte Formulierung findet sich einmal bei der Beschreibung des Frühstücks von Gerhard Wolf:
"Gerd hat seine geliebten Körner gemacht, Buchweizengrütze, die wir nebst ihrer authentischen Herstellungsart einst in Moskau kennengelernt haben, die wir uns manchmal von dort mitbrachten und jetzt in jedem Bioladen kaufen können."
In diesem Satz schwingt etwas mit, da gibt es einen doppelten Boden. An der Oberfläche hört man natürlich einen Stoßseufzer: wie mühsam war doch die Alltagsbewältigung in der DDR. Aber es gibt untergründig noch etwas anderes, eine Art Sehnsuchtsmelodie, die nicht ganz bis nach oben dringt, aber einen charakteristischen Rhythmusteppich legt. Sie transportiert die Erinnerung, wie besonders es war, damals in Moskau auf Buchweizengrütze zu stoßen, das Erhaschen eines ungewöhnlichen Genusses. Und ein bisschen wird das dadurch entwertet, dass es jetzt jeder so einfach kriegen kann.
Es gibt in diesen Notaten Sätze, die wie in Stein gemeißelt sind und den gesellschaftlichen Zustand geschichtsbewusst, von einer distanzierten Position aus benennen, geschrieben von jemand, der auch eine Außenperspektive hat, der von Alternativen lebt:
"Die bürgerlichen Freiheiten sind wieder mal in die bourgeoisen ‚Freiheiten‘ gekippt."
Ost und West stehen sich atmosphärisch immer noch deutlich gegenüber, und Christa Wolf steht auf keinen Fall neutral dazwischen. Im Jahr 2003 wird "Ein Tag im Jahr. 1960-2000" veröffentlicht, das Buch über ihre regelmäßigen Aufschriebe am 27. September. So kommt es an diesem Tag in den Jahren 2002 und 2003 zu ungewöhnlichen Überschneidungen. Die Autorin schreibt darüber, dass sie sich mit diesen subjektiven Niederschriften "den Blicken der Welt ausgesetzt" sieht. Und sie schreibt im Tagebuch über das Tagebuch:
"Eineinhalb Stunden bleiben mir für den Text über den Tag des Jahres 1965, den ich nachtragen muss, aus dem Tagebuch von damals: das 11. Plenum und meine Reaktion darauf etwas später. Die Emotionen von damals sind vollständig erloschen, ich wundere mich, wie radikal meine Einsichten doch schon waren; sicher wird man fragen, wieso ich dann in der DDR geblieben bin, wenn ich so scharf und so klar sah. Außer meiner Schwierigkeit, Orte zu wechseln – wogegen mein Leben mit vielen Umzügen zu sprechen scheint – , war es eben einfach die Einsicht – oder Ansicht –: Drüben ist keine Alternative. 'Kein Ort. Nirgends' – das war schon mein Grundgefühl von da an. Sehe ich das heute anders? Habe ich die Bundesrepublik damals zu kritisch gesehen? Ich glaube eigentlich nicht. Zwar heißt es heute, der durch den Sozialstaat gezähmte Kapitalismus sei ein anderer gewesen als der heutige Raubtierkapitalismus, aber er hat sich in seinem Wesen doch nicht geändert; nur dass er dieses Wesen jetzt ungebremst und unverhüllt zeigen kann."
Die ganzen Jahre bis 2010 arbeitet Christa Wolf an ihrem letzten großen Roman "Stadt der Engel", Reminiszenzen und Gedanken an einen langen Aufenthalt in Los Angeles. Aus diesem Anlass widmet sie sich auch dem Hippie- und 60er-Jahre-Klassiker "Zabriskie Point" von Michelangelo Antonioni. Wie sie das tut, ist sehr aussagekräftig. Aus westlicher Sicht ist dieser Film, der das Lebensgefühl der späten sechziger Jahre in grandiosen Bildern einfängt, an einer zentralen Stelle doch auch äußerst zeitverhaftet und hat mittlerweile für viele wohl eine unfreiwillige Komik: die Liebesszene zwischen den beiden Hauptfiguren in der Wüste ist zwar konsequent und wunderbar, aber dann weitet sie sich plötzlich aus zu einer langen Traumsequenz, in der das ganze Tal von kopulierenden Paaren bevölkert ist, eine paradiesische Hippie-Phantasie, die die Grenze zum Kitsch ziemlich forciert überschreitet. Christa Wolf aber rezipiert diese Szene interessanterweise genau andersherum, für sie verschmilzt hier der Blumenkinder-Rausch mit utopisch-sozialistischen Vorstellungen:
"Die lange, lange Wüstenfahrt des Mädchens und der tollkühne Flug des Jungen. Ihr allzu langes Liebesspiel im Wüstensand. Das unvergessliche Bild mit den vielen Paaren, die plötzlich um sie herumliegen – eine Vision."
Ganz bei sich ist sie aber in den Mecklenburg-Szenen und am Pankower Küchentisch. Auch in diesen letzten Tagebuchjahren gibt es den unverkennbaren Christa-Wolf-Ton, diese Form von Wärme und direktem Ausdruck, die ihren Texten immer eine große Sogwirkung verlieh. Die Rolle, eine berühmte Autorin zu sein, wird jedoch zunehmend reflektiert. Im fortgeschrittenen Alter stellt sie fast ein bisschen erleichtert fest, dass sie nicht mehr so "abhängig" sei "von der Meinung der Welt." Und, noch dezidierter, aber doch mit einer resignativen Schattierung und einem gewissen Wehmutsschmerz:
"Ich fühle mich nicht mehr verantwortlich für das, was geschieht."
Das war zu Zeiten der DDR noch anders. Die Schriftstellerexistenz ist jetzt aber nicht mehr so eindeutig an eine bestimmte gesellschaftliche Erwartung gebunden. Das Selbstbild der Autorin ändert sich. Die Zeit ist zu einem Fremdkörper geworden, sie ist nicht länger ein selbstverständlich verfügbarer Stoff.
Gegen Ende ihres Lebens registriert sie schmerzhaft einen Gedanken, den sie nie zugelassen hat:
"Ich wäre nicht mehr untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde."
Doch sie schreibt pflichtbewusst und subjektiv aufrichtig bis zum Schluss; sie hält ihren Zustand gewissenhaft fest. Der Eintrag ihres letzten Jahres ist nur handschriftlich erhalten, sie benennt ein "Leben zwischen Bett und Sessel", voller Schmerzen, in Todesnähe. So ist dieses Buch nicht nur ein wichtiges literatur- und zeitgeschichtliches Zeugnis, sondern auch ein bleibendes Document human.
Christa Wolf: "Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001-2011", Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 161 Seiten, 17,95 Euro