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Jahresfazit des Bundestagspräsidenten

Für Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gab es zum Jahresschluss einiges an Überlegenswertem. Erodierende Volksparteien, ein Wachstumsgesetz, allgemein kritisierte Steuersenkungspläne, kriegsähnliche Zustände in Afghanistan und die Rolle Deutschlands in der "neuen" EU: ein perspektivisches Gespräch zum Jahresabschluss.

27.12.2009
    Sabine Adler: Herr Lammert, ein sehr interessantes, aber auch ein sehr anstrengendes Jahr liegt hinter Ihnen, liegt hinter uns. Brauchen Sie jetzt Ferien?

    Norbert Lammert: Jedenfalls bin ich froh, dass es jetzt ein bisschen Luft gibt. Das Jahr war schon ein ganz besonderes, es ist auch immer ebenso besonders anstrengend und gelegentlich auch besonders schön.

    Adler: Der Bundestag hat jetzt wieder eine große Opposition nach den Tagen der Großen Koalition. Ist das spürbar, dass es jetzt wieder ein bisschen munterer zugeht im Bundestag?

    Lammert: Natürlich schlägt sich die veränderte Rollenverteilung auch in der Versuchsanordnung von Plenardebatten nieder. Aber so sehr wir uns jetzt doch wieder den vermeintlich klassischen Rollenverteilungen nähern, was ja auch nicht ganz zutrifft, weil wir wiederum drei Fraktionen in der Opposition und zwei in der Regierung haben. Die besorgniserregende Schwächung der SPD ist für die veränderte Rollenverteilung nicht weniger signifikant als die erneute Verweisung einer Volkspartei in die Opposition, während die andere in der Regierung ist.

    Adler: Das heißt, die schwache SPD ist als Opposition noch nicht spürbar?

    Lammert: Doch, natürlich ist sie spürbar. Aber dass sie nicht nur sich in veränderten Größenordnungen neu einrichten muss, sondern auch neues Selbstbewusstsein entwickeln muss, das lässt sich nicht übersehen.

    Adler: Die Schwarz-gelbe Koalition besteht aus drei Partnern. Von diesen drei Partnern hat man bislang den vorwiegenden Eindruck, dass sie sich überhaupt nicht grün sind, dass sie so sehr miteinander und aneinander zerren und streiten in fast jeder wichtigen Frage, dass man eigentlich glaubt: Da sind die alten Rollen noch nicht so ganz verlassen, da befindet sich der eine oder andere eher in der Opposition als in der Koalition. Ist darauf eigentlich der Fehlstart der Regierung zu erklären?

    Lammert: Mein Eindruck ist, dass die prinzipielle Freude aller drei Partner, ein bisschen zur eigenen Überraschung, tatsächlich gemeinsam regieren zu können, in einer etwas treuherzigen Weise den Ehrgeiz mobilisiert hat, nun ganz schnell alle jeweiligen Steckenpferde gegeneinander in Stellung zu bringen. Und damit ist tatsächlich das gemeinsame Projekt hinter einer Reihe von eben keineswegs identischen Zielvorstellungen versteckt worden und hat das Erscheinungsbild produziert, das Sie angesprochen haben.

    Adler: Man hat den Eindruck, dass Schwarz-gelb ein gemeinsames Ziel verbunden hat während des Wahlkampfes 2005 und dass jetzt diese gemeinsame Zielsetzung vielleicht auch aus dem Grund nicht mehr so gegeben ist, weil sich die CDU in Zeiten der großen Koalition zu einer anderen Partei entwickelt hat. Ist Schwarz-gelb ein Projekt aus vergangenen Zeiten, fehlt das gemeinsame Projekt, die gemeinsame Idee?

    Lammert: Ach, in der Politikwissenschaft gibt es ja seit geraumer Zeit die Theorie, dass Koalitionen eigentlich erst dann zustande kommen, wenn ihre Zeit schon vorbei ist, und dass es – mit anderen Worten – schwerfällt, für Konstellationen, die mit Blick auf die Problemlage vielleicht einen besonderen Reiz entwickeln könnten, dann auch die parlamentarischen Mehrheiten zu dem Zeitpunkt verfügbar zu haben, wo eine solche Konstellation besonders nützlich sein könnte. Diese Betrachtung ist nicht völlig abwegig, aber sie hilft über die Realitäten nicht hinweg. Regiert werden muss mit den Mehrheiten, die die Wähler zur Verfügung gestellt haben.

    Adler: Das Interview der Woche des Deutschlandfunks mit dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert von der CDU. Herr Lammert, 2009, das ausgehende Jahr, war das Jahr der Jubiläen. Mit großer Freude ist immer noch der Fall der Mauer gefeiert worden. Wenn wir auf das nächste Jahr blicken, wird es 20 Jahre Wiedervereinigung geben. Glauben Sie, dass mit demselben Enthusiasmus auch dieses Jubiläum begangen werden wird?

    Lammert: Das glaube ich eher nicht, schon gar nicht mit Blick auf die Wahrnehmung unserer Nachbarn, des Auslands. Da ist ganz sicher, und im Übrigen in einer noch stärkeren Weise, als ich das vermutet hatte, der Fall der Mauer eben nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Europa und über Europa hinaus als ein Epocheneinschnitt wahrgenommen worden. Und allein der Umstand, dass bei übrigens lausigem Wetter 30 Staats- und Regierungschefs sich auf eine durchnässte Tribüne setzen, um persönlich an dieser Gedenkveranstaltung teilzunehmen, ist doch ein starkes Indiz für diese Wahrnehmung. Im Vergleich dazu werden vermutlich die Feiern des 20. Jahrestages der förmlichen Wiederherstellung der deutschen Einheit eher ein nationales als ein internationales Ereignis sein. Aber dass wir jetzt schon wieder 20 Jahre ein vereintes Deutschland haben, ist immer noch ein Grund zur Freude, zumal wir ja die merkwürdige Begabung haben, ein und dieselben Ereignisse, die wir jahrzehntelang für ausgeschlossen gehalten haben, in dem Augenblick für selbstverständlich zu halten, wo sie dennoch eingetreten sind.

    Adler: Einer war bei dieser sehr, sehr herausgehobenen Gedenkfeier nicht dabei, nämlich ausgerechnet der "Vater der deutschen Einheit", wie man Helmut Kohl auch bezeichnet. Hat die Partei, die CDU, sich da ein bisschen arg nickelig verhalten, dem Kanzler die Anreise nach Berlin nicht so zu ermöglichen, wie es seinem Gesundheitszustand entspricht? Fanden Sie das Verhalten Ihrer Partei richtig?

    Lammert: Dazu kann ich jetzt, offen gestanden, nichts wirklich Erhellendes beitragen, weil ich außer einer Pressespekulation weder über eine konkrete Anfrage, noch über einen konkreten Bescheid eine wirklich fundierte Information habe. Ich weiß nur, dass das große Treffen, das die Adenauer-Stiftung organisiert hatte, mit ihm und George W. Bush und Michail Gorbatschow nicht nur für ihn, sondern auch für die Öffentlichkeit ein grandioses Ereignis war. Und leider befindet sich Helmut Kohl in einem doch stark angeschlagenen gesundheitlichen Zustand, der ihm Reisen nur noch zu ganz besonderen Ereignissen und vor allen Dingen auch nicht in beliebig kurzen Abständen erlaubt.

    Adler: Im nächsten Jahr wird es die Möglichkeit geben, das wieder gut zu machen, ihm diese Anreise vielleicht auch auf Kosten der Partei oder der Öffentlichkeit zu ermöglichen, was in diesem Jahr offenbar ja nicht der Fall war. Zumindest ist es weder von der Bundesregierung noch von der CDU ja dementiert worden, was da in der Presse stand im Umgang mit Helmut Kohl. Werden Sie darauf achten, dass man in dem Umgang im nächsten Jahr vielleicht ein bisschen sorgfältiger ist?

    Lammert: Ja, jedenfalls würde ich mir wünschen, dass in der Kommentierung gleicher oder ähnlicher Ereignisse in den Medien jedenfalls mit gleichen Maßstäben gemessen wird. Ich kann mich an vergleichbare Ereignisse der Vergangenheit erinnern, wo in einer für mich nur schwer nachvollziehbaren, kleinkarierten, außerhalb Deutschlands ganz unvorstellbaren Weise die Inanspruchnahme beispielsweise von Transportmöglichkeiten, übrigens auch und gerade von Helmut Kohl, von den Medien in einer gnadenlosen Weise niedergemacht wurde. Und wenn sich teilweise die gleichen Medien heute gewissermaßen als Interessenvertreter in ähnlicher Sache aufspielen und daraus Vorwürfe gegenüber seiner Partei oder der Regierung in der Zurückhaltung des Einsatzes öffentlicher Mittel herleiten, dann ist das jedenfalls – ich sage es mal ganz vorsichtig – nicht wirklich aufrichtig.

    Adler: Dahinter steht ja wahrscheinlich, dass man ein Indiz dafür sucht oder diesen Vorgang als Indiz dafür benutzt, dass das Verhältnis des Ex-Kanzlers beziehungsweise Ex-Parteivorsitzenden zur heutigen Partei, zur heutigen Kanzlerin, versucht wird, zu charakterisieren. Ist das Verhältnis möglicherweise schlechter geworden, das der CDU zu Helmut Kohl?

    Lammert: Dafür habe ich keine Anhaltspunkte. Wenn man im Übrigen im Laufe von 30 Jahren, die ich jetzt persönlich übersehe, die Abfolge von Parteivorsitzenden, nicht nur in der eigenen Partei, sondern auch in anderen Parteien beobachtet, dann muss man nüchtern sehen, dass es die seltene Ausnahme ist, dass ausgeschiedene Vorsitzende ihre Nachfolger im Amt mit einer ganz besonders herzlichen Anteilnahme verfolgen. Unter genau diesen Gesichtspunkt befindet sich die Union eher in einem glücklichen Zustand, jedenfalls kann ich zwischen der amtierenden Parteivorsitzenden und Helmut Kohl keine der von Ihnen jetzt befürchteten Verspannungen oder ernsthaften Probleme erkennen.

    Adler: Norbert Lammert, das Jahr, das zurückliegt und zu Ende geht, war ein intensives Jahr, auch schon deshalb, weil es fünf Landtagswahlen gegeben hat, eine Europawahl, eine Bundespräsidentenwahl – für Sie ganz besonders wichtig, sie fand im Bundestag, im Reichstag statt. Und es fand natürlich die Bundestagswahl noch statt. Aus all den Wahlen, aus diesem Wahlmarathon, würde man sagen, ist die CDU vielleicht nicht mit Bestzeit hervorgegangen, aber dennoch relativ erfolgreich, lediglich die Regierungsbeteiligung in Brandenburg ist verloren gegangen. Dennoch will sich nicht so etwas wie Euphorie einstellen. Woran liegt das eigentlich, dass die CDU mit diesen Wahlsiegen, die manchmal ziemlich knapp gewesen sind, nicht so richtig was anfangen kann?

    Lammert: Ja, man muss tatsächlich, gerade wenn man die Serie der Wahlen und die sich daraus ergebenen Konstellationen betrachtet, zwei Dinge sorgfältig unterscheiden. Das eine ist die vergleichsweise sehr günstige strategische Position, die die Union im aktuellen Parteienspektrum in Deutschland einnimmt – sowohl was die relativen Stärkeverhältnisse angeht, als auch, was die Koalitionsmöglichkeiten angeht. Aber von dieser zweifellos erstaunlich günstigen Position unterscheiden muss man das ebenso erstaunlich dürftige Niveau der Zustimmung, das sich im Vergleich zu früheren Jahren bei der Union in den letzten Wahlen herausgebildet hat. Dass wir nun in der zweiten aufeinanderfolgenden Wahl weniger als 35 Prozent der abgegebenen Stimmen bei Bundestagswahlen erreichen und uns damit auch unter Berücksichtigung von Landtagswahlen auf einem Niveau von einem Drittel der Wähler plus X einzupendeln drohen, statt, wie uns das ganz selbstverständlich erschien, irgendwo zwischen 40 und 45 Prozent, das ist schon eine Entwicklung, die nicht nur der eigenen Partei, aber eben ihr auch, Anlass zu intensivem Nachdenken gibt, auch wenn man wiederum in diesem Zusammenhang den Teil, der vielleicht mit eigenen Versäumnissen oder auch Fehlentwicklungen erklärt werden mag, von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen nennen muss, die ja ganz offenkundig alle Organisationen – nicht nur, aber auch – und alle politischen Parteien in ähnlicher Weise betreffen.

    Adler: Herr Lammert, Sie haben gerade von Fehlentwicklungen gesprochen. Eine solche Fehlentwicklung ist in den letzten Wochen heftig kritisiert worden: nämlich das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das Ende des Jahres als erstes Gesetz der neuen Regierungskoalition verabschiedet worden ist und unter anderem die heftig umstrittene Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für Hotelübernachtungen zum Inhalt hat. Das war ein Gesetz, vor dem Experten, viele Parteifreunde, Ihre Parteifreunde, zumindest gewarnt haben. Es gab ein Grummeln und wider jede Vernunft ist dieses Gesetz durchgesetzt worden. Ist der Preis nicht ziemlich hoch, ist er vielleicht auch zu hoch, um eine kleine Klientel, in dem Fall von Hotelbesitzern, zu befriedigen und sich auf der anderen Seite den Widerwillen letzten Endes auch gegen Politik insgesamt einzuhandeln?

    Lammert: Ja, nach meiner persönlichen Einschätzung ist das leider so. Ich habe auch mit Nachdruck für eine andere Vorgehensweise geworben. Aber in dies Gesetzesvorhaben, das mit einem vielleicht aus der Euphorie des Wahlergebnisses entstandenen Energieüberschuss ein bisschen sehr schnell zusammengebastelt und auf den Weg gebracht worden ist, natürlich wieder unter Berücksichtigung eines extrem engen verbleibenden Zeitplans, weil insbesondere steuerlich wirksame Maßnahmen wenn eben möglich zum Jahresanfang in Kraft treten müssen, wenn sie handelbar bleiben sollen. Aber in dieses Gesetz sind neben manchen sinnvollen auch manche zweifelhafte und einige, wie ich finde, schlicht misslungene, auch nicht vertretbare Regelungen hereingekommen.

    Adler: Und wenn wir das Kind beim Namen nennen, dann meinen Sie die Mehrwertsteuerabsenkung für Hotels?

    Lammert: Ja, ich habe dieser Regelung ja auch nicht zugestimmt.

    Adler: Müssen wir befürchten, dass auch das Gesetz zur Steuersenkung, so wie das im Koalitionsvertrag ausgehandelt oder festgelegt wurde, dass auch dieses Gesetz wieder wider alle Warnungen, wider alle Vernunft durchgepeitscht wird, weil es ein Beteiligter in der Regierungskoalition so möchte?

    Lammert: Das befürchte ich offen gestanden nicht. Aus zwei Gründen nicht. Erstens haben sich alle Beteiligten, auch und gerade alle Beteiligten in der Koalition vernünftigerweise darauf verständigt, vor jeder weiteren Festlegung steuerlicher oder auch haushaltspolitischer Maßnahmen die nächste Steuerschätzung abzuwarten. Zweitens ist sowohl die öffentliche Reaktion auf die gerade kurzfristig bereits getroffenen steuerpolitischen Maßnahmen nicht so überragend günstig und die erhofften ökonomischen Wirkungen aus diesen Maßnahmen nicht so offenkundig gesichert, dass ich auch unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit diesen Gesetzgebungsvorhaben eher ein höheres Maß an Sorgfalt beim nächsten Gesetzgebungsprozess erwarte denn eine Wiederholung dieser Prozedur.

    Adler: Das Ganze, die Steuerschätzung, wird nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stattfinden, daraus folgt dann die Überlegung, wo ab dem Jahr 2011 gespart wird. Fürchten Sie im Hinblick auf die Landtagswahlen Ihres Bundeslandes, aus dem Sie ja stammen, dass der Wähler sich so ein bisschen verschaukelt fühlt, dass ihm die Wahrheit nach einer Wahl erst gesagt wird und man ihm sozusagen die Zumutungen nicht zutraut zu verkraften, zu verstehen und das Wahlergebnis vielleicht anders ausfallen zu lassen, als man das gerne möchte?

    Lammert: Dazu fallen mir nun auch viele Themen aus vielen zurückliegenden Wahlkämpfen ein, im Übrigen auch manche Kommentare Ihrer Kolleginnen und Kollegen nach stattgefundenen Wahlkämpfen früherer Jahre, dass dann, wenn eine Partei, im übrigen diesmal wieder meine, einen Wahlkampf wirklich so führt, wie man es demokratietheoretisch für besonders angemessen hält, dies von den Wählerinnen und Wählern ja keineswegs gewürdigt wird, wie es bei umgekehrter Versuchsanordnung für scheinbar selbstverständlich gehalten wird. Der Erklärungsbedarf gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit ist aber sicher größer geworden.

    Adler: Das Interview der Woche mit Norbert Lammert, dem Bundestagspräsidenten. Herr Lammert, das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Jahr Urteile gefällt, die die Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung ganz eindeutig gestärkt haben, unter anderem im Hinblick auf den Untersuchungsausschuss. Den ersten haben wir ja schon, der wird im Januar seine Arbeit aufnehmen, der Untersuchungsausschuss zu den Vorfällen in Kundus. Haben Sie den Eindruck, dass aufgrund dieser Rechtsprechung die Wahrheitsfindung im Fall des Bombenangriffs am 4. September im Kundus leichter möglich sein wird?

    Lammert: Das bleibt abzuwarten, zumal man nie aus den Augen verlieren darf, dass auch Untersuchungsausschüsse politische Instrumente der Auseinandersetzung sind. Sie finden in einer rechtsförmigen Weise statt mit einer Reihe von sich daraus ergebenden Unterschieden, beispielsweise was die Zeugenvernehmung angeht, die Möglichkeit auch der Vereidigung von Zeugen, die Strafbewehrung von Falschaussagen, durch die sich ein Untersuchungsausschuss von anderen parlamentarischen Gremien unterscheidet. Aber er bleibt ein politisches Gremium. Und wer die Serie der Untersuchungsausschüsse in 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland vor Augen hat, der weiß, dass auch hier die Rollenverteilung zwischen Koalitionsmehrheit auf der einen Seite und Opposition auf der anderen Seite natürlich die Befragungen prägt und regelmäßig auch am Ende die Beurteilung. Dennoch begrüße ich ausdrücklich, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur in diesem Zusammenhang die Rechte, die Ansprüche des Parlamentes gegenüber der Regierung ganz unmissverständlich beschrieben und zum Teil auch präzisiert hat. Dazu gehört im Übrigen auch, dass das Bundesverfassungsgericht aus gegebenem Anlass klargestellt hat, dass die Informationspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Parlament durch gleichzeitig tagende oder stattfinde Untersuchungsausschüsse nicht konsumiert sind. Das heißt, die Bundesregierung kann nicht Auskünfte unter Hinweis auf ohnehin beabsichtigte Untersuchungen oder Prüfungen in einem Untersuchungsausschuss verhindern oder vermeiden. Und im Übrigen haben wir ja auch im Zusammenhang mit europäischen Angelegenheiten eine deutliche Stärkung des Parlaments.

    Adler: Sie sagen es, der Vertrag von Lissabon ist in Kraft getreten Anfang Dezember. Damit soll zum einen sichergestellt werden, dass die Parlamente größere Mitsprache bekommen, dass Brüssel sich nicht Probleme oder Aufgaben an Land zieht, die im Grunde genommen von den Nationalstaaten besser gelöst werden können. Auf der anderen Seite heißt das auch im Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass die Regierung verpflichtet ist, dem Parlament gegenüber zu erklären, wie sie zum Beispiel bei EU-Gipfeln aufzutreten gedenkt. Wird damit, was gut gemeint ist, möglicherweise zum Bumerang für die Regierung, dass nämlich das Parlament, der Bundestag, die Handlungsmöglichkeiten oder die Verhandlungsspielräume der Regierung einengt?

    Lammert: Die Sorge habe ich nicht, und zwar deshalb nicht, weil wir eine – wie ich glaube – sehr intelligente Vereinbarung gefunden haben, die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts inzwischen auch eine gesetzliche Regelung geworden ist. Und nach dieser Vereinbarung ist die Bundesregierung in der Tat verpflichtet, erstens den Bundestag zeitnah und vollständig über Regelungsabsichten, Richtlinienentwürfe, europäische Entwicklungen mit dem Ziel gesetzlicher oder gesetzesähnlicher Regelungen zu informieren. Immer dann, wenn der Bundestag zu solchen Absichten eine Position bezieht, muss die Bundesregierung diese Position ihren eigenen Verhandlungen zugrunde legen. Aber sie kann gegebenenfalls davon abweichen, um überhaupt in den Verhandlungen mit anderen Mitgliedsstaaten zu einer gemeinsamen europäischen Regelung zu kommen und muss dann dem Bundestag gegenüber rechtfertigen, warum und in welcher Weise sie von dieser Position abgewichen ist. Damit ist sichergestellt, dass die Regierung nicht unabhängig vom Parlament handeln kann, aber neben dieser notwendigen Rückkopplung ist gleichzeitig die Verhandlungsflexibilität gewahrt, ohne die auch keine europäischen Regelungen zustande kommen können.

    Adler: Gehen wir noch mal zurück nach Berlin, von Lissabon nach Brüssel nach Berlin und dann noch ein Stückchen weiter nach Brandenburg. Wenn wir uns die Verhältnisse beziehungsweise die Ereignisse anschauen, die dort nach der Regierungsbildung von SPD und Linkspartei stattgefunden haben, nämlich die Erschütterungen durch das Bekanntwerden von Stasi-Tätigkeiten von Abgeordneten der Linkspartei. Da gibt es eine Weiterung auch für den Bundestag. Ein Bundestagsabgeordneter von der Linkspartei, nämlich Thomas Nord, hat sich jetzt selbst geoutet als IM, als Stasi-Spitzel. Ausgehend von den Ereignissen in Brandenburg haben Abgeordnete Ihrer Partei im Bundestag den Vorstoß unternommen, dass die Überprüfung von Stasi-Tätigkeit über das Jahr 2010 hinaus verlängert wird. Die FDP ist bereit, ihre eigenen Abgeordneten auf Stasi-Tätigkeit zu überprüfen. Wie stehen Sie dazu?

    Lammert: Ja, auch hier gibt es jeweils beachtliche Argumente für beide Positionen. Es gibt auf der einen Seite eine nach wie vor doch bemerkenswert breite öffentliche Diskussion über diesen Teil der Vergangenheit und der Notwendigkeit der Aufarbeitung und dass dabei eine besondere Rolle die Frage spielt, ob es nicht einen Anspruch gibt, jedenfalls zu wissen, ob jemand, der sich heute um die Wahrnehmung öffentlicher Mandate bewirbt, früher in entsprechenden Tätigkeiten involviert war. Dafür wird man ja mindestens Verständnis aufbringen müssen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen starken Grundsatz eines Rechtsstaates, dass Verpflichtungen und Sanktionen in der Weise eingefordert werden, wie sie vereinbart und beschlossen und gültig geworden sind. Und die ständige Verlängerung von gefundenen Fristen trägt insofern auch nicht notwendigerweise zum Rechtsfrieden bei. Also, ich kann der einen wie der anderen Argumentation durchaus das Maß an Ernsthaftigkeit abgewinnen, dass mich zögern lässt zu sagen: Ja, das kann man doch nur so oder nicht anders entscheiden. Ich glaube, dass wir hier erst am Beginn eines solchen Klärungsprozesses sind, von dem ich uns empfehlen würde, dass wir das ohne Schaum vor dem Mund in Ruhe gegeneinander abwägen und es wäre schön, wenn das am Ende jedenfalls mit breiter Mehrheit geregelt werden könnte und damit nicht in den Verdacht einer Auseinandersetzung zwischen Opposition auf der einen Seite und Regierung oder Koalition auf der anderen Seite gerät.

    Adler: Herr Lammert, Weihnachten hat wie immer die Kirchen noch füllen können. Was kann denn Ihre Partei tun, dass die Profilierung über das "C" im Parteinamen ein bisschen stärker wahrnehmbar wird?

    Lammert: Also, jedenfalls gibt es hier keinen Zusammenhang zu Weihnachten und anderen Hochfesten der Christenheit. Das Profil, das politische, das programmatische Profil einer Partei bestätigt sich im Alltag oder es wird dünn und geht im schlimmsten Fall verloren. Natürlich macht sich bei allen Parteien der gesellschaftliche Veränderungsprozess bemerkbar, der im übrigen ja auch zu dem nicht nur unerwünschten Effekt geführt hat, dass liberale Positionen, dass grüne Positionen, dass konservative Positionen eben nicht nur in jeweils einer Partei zu finden sind, sondern dass sich in allen Parteien, die überhaupt ernst genommen werden wollen, Spurenelemente der einen oder der anderen Orientierung finden lassen.

    Adler: Am Ende eines Jahres hat man manchmal Vorsätze für das nächste Jahr. Gibt es solche Vorsätze für Sie, oder Wünsche?

    Lammert: Man nimmt sich eigentlich immer wieder vor, mit mehr Souveränität doch stärker sich auf das zu konzentrieren, was wirklich bedeutend ist, was wirklich wesentlich ist. Aber da ist die Versuchung für Politiker wie für Journalisten sehr ähnlich. Die Tagesaktualitäten erschlagen oft noch so gute Vorsätze was die Unterscheidung des einen vom anderen betrifft.

    Adler: Herr Lammert, ich danke Ihnen für das Gespräch und ein gutes neues Jahr.

    Lammert: Wünsche ich Ihnen auch. Danke schön.

    Adler: Danke.