Zu Beginn ein Blick auf die beiden wichtigsten Festivals im deutschsprachigen Raum. Gerade auf dem Grünen Hügel sei es in diesem Jahr "sehr wild und bunt" zugegangen, meint der Kritiker Jörn Florian Fuchs und spielt damit auf die "Tannhäuser"-Inszenierung von Tobias Kratzer an, die trotz des bekanntermaßen eher konservativ orientierten Publikums ein großer Erfolg war. Es habe sich dort einiges verändert: "Das sehr Witzige und nicht bösartig gemeinte Wilde und Kontroverse ist dort ganz gut angekommen."
Die Salzburger Festspiele müssen das "Epizentrum des Besonderen" sein, lautet das Credo des Intendanten Markus Hinterhäuser. Und sicher ist dem zumindest die Inszenierung des 85-jährigen Altmeisters Achim Freyer gefolgt. Freyer hat George Enescus Oper "Œdipe" bei den Salzburger Festspielen inszeniert. Ein Gesamtkunstwerk in der Felsenreitschule mit Masken und stilisierten Figuren, die Freyer oft einsetzt, aber diesmal, so Jörn Florian Fuchs, "so sinnfällig, dass es wirklich ein Lust war, diesem rituellen Musiktheater zu folgen. Das war ein absolutes Highlight der Saison."
Metoo im Operngeschäft
Viele Diskussionen gab es in diesem Jahr um den Startenor Placido Domingo, der trotz teilweise nachlassender stimmlicher Präsenz nicht nur in Salzburg frenetisch gefeiert wurde. Das sei ein Ausdruck dessen, dass Domingo eine recht treue Fangemeinde besitze, die sich auch um Vorwürfe gegen ihn wegen sexueller Übergriffe auf junge Sängerinnen, die teilweise dreißig Jahre zurückliegen, nicht schert. Fuchs fände es schön, "wenn sich jemand, der mit solchen Vorwürfen konfrontiert ist, die ja nicht aus der Luft gegriffen sind, mal äußern würde. Wenn er sich damit auseinandersetzt und wirklich ehrliche Reue zeigt, dann würden Applaus und Jubel nicht so einen faden Beigeschmack haben."
Eine ganz herausragende Inszenierung hat Jörn Florian Fuchs am Grand Théâtre de Genève entdeckt. Der neue Intendant Aviel Cahn wagte mit "Einstein on the beach" einen spannenden Neuanfang an diesem sonst recht konservativen Haus. Ein vierstündiges assoziatives Musiktheater komponiert von Philip Glass.
Top und Flop
Als gescheitert betrachtet Jörn Florian Fuchs die Inszenierung des "Orlando" von Olga Neuwirth an der Wiener Staatsoper. Zum ersten Mal wurde dort das Werk einer Komponistin gespielt. Eine recht kostspielige Produktion, die nur sehr sanft an die Romanvorlage von Virginia Woolf angelehnt sei, und im Grunde die These verfolge, es gebe keine Geschlechteridentitäten mehr, alles sei genderfluid:
"Das Ganze ist eine Indoktrination, denn hier sind nicht alle Geschlechter, auch die ‚zwischen‘ den Geschlechtern fühlenden Personen, gleichwertig, sondern im Grunde wird gesagt, das Fluide ist die Zukunft, das ist besser als alles andere und dass ist problematisch."
Ganz anders die Inszenierung der israelischen Komponistin Chaya Czernowin: "Heart Chamber" an der Deutschen Oper Berlin. Czernowin erforscht die Liebe im 21. Jahrhundert und Claus Guth hat das Musiktheaterwerk inszeniert. "Das ist ganz sanft und intim und dann auch mal laut und aggressiv, eine sehr starke Uraufführung", so Jörn Florian Fuchs. "Das Musiktheater ist nicht sehr narrativ, diese assoziative Welt gehört zu den stärksten Arbeiten von Claus Guth in den letzten Jahren."
Natürlich ist die Dirigenten-Branche noch immer stark von Männern dominiert. Joana Mallwitz, die neue Generalmusikdirektorin in Nürnberg wurde vom Fachmagazin: "Opernwelt" zur Dirigentin des Jahres 2019 bestimmt. Sie ist erst die zweite Frau, die diese Auszeichnung bekommt.
Jörn Florian Fuchs meint, Mallwitz sei eine der interessantesten Menschen in diesem Betrieb und glaubt, dass "diese Zuschreibung 'Mann-Frau' im Kulturbetrieb langsam aufhört. Es kommen eine Menge junge Dirigentinnen, so zum Beispiel Mirga Gražinytė-Tyla in Birmingham. Wobei man auch sagen muss, dass es im Moment noch viel mehr junge Dirigenten gibt. Aber es hat sich schon viel im Bewusstsein getan."