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Jahresrückblicke
Menscheln, Bilder, Algorithmen

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und überall wird eifrig auf das zurückliegende Jahr geschaut. Aber warum blicken wir so gerne zurück? Was interessiert die Nutzer, Zuschauer, Leser an den Jahresrückblicken? Ist es nur ein überholtes Ritual, das längst abgeschafft gehört?

Von Michael Meyer |
    Der Moderator Markus Lanz steht am 18.12.2017 in Hamburg bei der Aufzeichnung der Sendung "Menschen 2017 - Der ZDF-Jahresrückblick" im Studio.
    "Menschen 2017", der ZDF-Jahresrückblick mit Markus Lanz, stand im Dezember in der Kritik, weil er fast komplett auf weibliche Gäste verzichtete (dpa / Axel Heimken)
    "Neujahrsnacht 1951/52 - in dieser Nacht der überschäumenden Lebensfreude, in dieser Nacht, in der die Berliner sechs Millionen Pfannkuchen aßen…"
    Schon 1952, als das Fernsehen noch in seinen Kinderschuhen steckte, blickte die noch junge ARD-Tagesschau auf das abgelaufene Jahr zurück. Damals ging es noch so richtig um etwas: Um Tausende noch nicht heimgekehrte Soldaten etwa, oder das Schicksal der aus ihrer Heimat vertriebenen Schlesier.
    Heldengeschichten, Satire, Talk-Rückblicke
    Aber auch um die kleinen Heldengeschichten, die noch heute jeden Jahresrückblick menscheln lassen.
    "In dieser letzten Nacht des alten Jahres trieb ein halb gesunkenes Schiff auf dem Atlantik, an Bord ein einziger Mann: Kapitän Kurt Kalsen. Seit vier einsamen Tagen und Nächten schon tut er unpathetisch, was er für seine Pflicht hält: sein Schiff, die Flying Enterprise, dem Meere zu entreißen."
    Heute sind die Jahresrückblicke in ARD und ZDF, etwa das "Album des Jahres" eine eher klassisch gemachte Abfolge der Bilder, Ereignisse und Katastrophen des abgelaufenen Jahres. Aber auch Talkshows wie "Maybrit Illner" schauen zurück, und auch die Satire lässt sich nicht lange bitten und schaut auf das alte Jahr - etwa als in der "heute-show" einmal mehr der "Goldene Vollpfosten" verliehen wurde.
    Der Rückblick beginnt bereits Anfang Dezember
    Auftakt der vielen Rückblicks-Revuen war aber bereits Anfang Dezember. RTL lud mit Günter Jauch zum großen Rückblickslagerfeuer, "Menschen, Bilder, Emotionen" heißt die Sendung, und der Titel ist Programm. Unter anderem machte Boris Becker live im Fernsehen einen Seelen-Striptease und sprach über seine Schuldensituation.
    "Ich bemühe mich nach bestem Wissen und Gewissen dem Gläubiger, das ist die Bank, die Schulden zu zahlen, die es zweifelsfrei gibt, allerdings streiten wir uns über die Zinsen…"
    Ein menschelndes Kuriositäten-Kabinett
    Die Sendung ist eher ein menschelndes Kuriositäten-Kabinett als ein Jahresrückblick. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert "Menschen" mit Markus Lanz im ZDF. Wer schaut so etwas eigentlich? Das fragt sich der WELT-Medienjournalist und Fernsehkritiker Christian Meier auch:
    "Ich persönlich sehe keinen Reiz, aber es könnte natürlich ein Reiz sein, so ritualistisch zu sagen, ach Mensch, jetzt gucke ich mir den Jauch an und die Menschen des Jahres oder Kerner oder wer das sonst moderiert, dann habe ich da auch einen Haken drunter gemacht. Ich glaube aber auch, dass die Quoten nicht so besonders gut sind."
    Und in der Tat hatte zumindest die Jauch-Sendung ihre schlechteste Quote seit Jahren. So richtig scheint das Konzept nicht mehr anzukommen.
    Das Meistgesuchte im Netz
    Doch vom Fernsehen mal weg ins Netz - auch dort gibt es zuweilen Jahresrückblicke. Google etwa veröffentlichte einen Such-Jahresrückblick, danach lauten die fünf häufigsten Suchbegriffe deutscher Nutzer 2017:
    • "WM Auslosung"
    • "Bundestagswahl"
    • "Wahlomat"
    • "iPhone 8"
    • "Dschungelcamp".
    Bei den Schlagzeilen des Jahres, die am meisten angeklickt wurden, stehen "Bundestagswahl", "Bitcoin" und "G20" auf den ersten drei Plätzen. Noch Fragen?
    Achja, Facebook-Nutzer werden ebenfalls auf das Ende des alten Jahres eingeschworen, und zwar auf individuelle Art: Der Algorithmus stellt eine lose Abfolge von Fotos zusammen, die dann mittels hübsch designter Grafiken und einer Melodie miteinander verbunden werden.
    Das Ganze ist dann etwa zwei Minuten lang. Der Algorithmus bevorzugt Fotos mit Menschen, je mehr Menschen zu sehen sind, desto eher kommen sie in die Auswahl.
    "Happy Momente" vs. Katastrophen
    Christian Meier beobachtet: "Das sind ja meistens so 'Happy Momente', weil ich die ja selber erzeugt habe - super Urlaub, neuer Job, irgendwas Tolles gemacht, oder man war einfach nur schön essen, und das wird dir dann in diesen Rückblick reingespielt. Im Fernsehen sind das ja meistens eher die Toten, die Katastrophen oder ab und an ein berührender Moment, eine Hochzeit, das unterscheidet sich ja schon wahnsinnig von dem, was man in diesen neuen Kanälen kuratiert bekommt von den Algorithmen."
    Doch egal, wie und ob man sich im Netz bewegt, im Fernsehen Jahresrückblicke schaut, nur eines ist sicher: Das neue Jahr kommt in wenigen Tagen. Und dann ist erst mal wieder ein Jahr lang gut mit den Rückschauen aller Art. Bis Dezember 2018.