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Jahrestag der parlamentarischen Befreiung in Polen
Erinnern nicht gewünscht

Am 4. Juni 1989 fanden in Polen die ersten teilweise demokratischen Parlamentswahlen in einem Ostblockland statt. Kurz darauf fiel das Regime auseinander. Die nationalkonservative PiS-Regierung überging den historischen Tag in diesem Jahr - er passt nicht in ihre Geschichtsschreibung.

Von Florian Kellermann |
    Die Stimmung ist gut im Zentrum von Warschau - nicht weit weg vom Präsidentenpalast. Die Band, die vor einigen Hundert Zuschauern auftritt, ist nicht in den Charts, sie ist eine Legende. Ihre Musik hat den Umsturz begleitet, den Abschied vom Kommunismus, der in Polen vor 28 Jahren mit einer Parlamentswahl begann.
    Marek Zlotowski, der etwas abseits auf einer Parkbank sitzt, erinnert sich. "Wir waren euphorisch. Außer uns vor Freude. Nach so vielen Jahren Diktatur hatten wir nicht mit so einem guten Ergebnis gerechnet."
    Die Opposition holte alle Sitze, die zu vergeben waren
    Marek Zlotowski war damals 40 Jahre alt und hatte etwas erreicht im kommunistischen Polen. Er war Ingenieur, sein Unternehmen schickte ihn dienstlich nach Japan und in die USA. Trotzdem hielt er es nicht mehr aus in der Volksrepublik Polen - die verlogene Propaganda, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit.
    Dann, am 4. Juni 1989, fanden die ersten, zum Teil demokratischen Parlamentswahlen in einem Ostblockland statt. Die Opposition holte alle Sitze, die frei zu vergeben waren, ein Schock für die Staatsmacht. Kurz darauf fiel das Regime auseinander. Trotzdem überging gestern die polnische Regierung das historische Datum einfach. Marek Zlotowski: "Die jungen Leute haben gar keine richtige Vorstellung von dem, was damals passiert ist. Die Propaganda der Regierung ist auch heute wieder so unverschämt, dass wir die Wahrheit gar nicht mehr erzählen können."
    Die rechtskonservative polnische Regierungspartei PiS hat sich losgesagt vom Erbe jener Juni-Wahlen. Ein postkommunistisches Polen sei damals entstanden, so ihre Darstellung, in dem die alten Kader Teile der Opposition korrumpierten. Dieses System herrsche bis heute, meint die PiS, erst sie habe den Kampf für ein gerechteres Polen begonnen.
    PiS sägt unermüdlich am Denkmal Lech Walesas
    Eine große Schautafel erinnerte gestern in der Warschauer Innenstadt daran, dass auch führende PiS-Politiker früher Teil der Opposition, der sogenannten Solidarnosc-Bewegung, waren. Die Schautafel hat das "Haus der Begegnungen mit der Geschichte" aufgestellt, eine städtische Einrichtung, die auch das Konzert organisierte. Direktor Piotr Jakubowski: "Wir sind konsequent und feiern das Datum Jahr für Jahr, derzeit unter dem Titel: ‚Wir haben die Freiheit gewählt‘. Kontroversen um geschichtliche Ereignisse sind normal, und wir lassen uns von der aktuellen Politik nicht frustrieren."
    Vorne an der Straße ist ein Zelt aufgebaut. Die Besucher können sich dort fotografieren lassen - und ihr Foto wird an Ort und Stelle in eine historische Aufnahme von Lech Walesa hineinkopiert. Lech Walesa, der legendäre Anführer der Solidarnosc-Bewegung. Der Warschauer Tomasz Golec ist gerade mit seinem zehnjährigen Sohn Jerzy an der Reihe. "Das ist ein historisches Bild. So hat Lech Walesa damals, vor 28 Jahren, ausgesehen."
    Die PiS sägt unermüdlich auch am Denkmal des Friedensnobelpreisträgers Walesa. In den 1970er-Jahren war er mutmaßlich Spitzel des kommunistischen Geheimdienstes. Deshalb sei er, so die Unterstellung, auch später noch erpressbar gewesen. Mit ihrer geplanten Schulreform wolle die PiS nun den Geschichtsunterricht neu gestalten, fürchtet Tomasz Golec: "Ich bin selbst Historiker, deshalb kann ich meinem Sohn selbst viel beibringen. Er wird keine verfälschte Geschichte lernen."
    Der Tag geriet nicht ganz in Vergessenheit
    Doch nicht alle Besucher sehen Walesa als Helden. Der 30-jährige Krzysztof Fiszer will sich so fotografieren lassen, dass er Walesa auf der Fotomontage in die Nase bohrt. Denn der Jurist kann einige Kritikpunkte der PiS an den Ereignissen von damals nachvollziehen:
    "Die Idee der Solidarnosc-Bewegung, die Solidarität, hat sich damals sehr schnell verbraucht. Wir haben die Chance auf eine wirklich demokratische Zivilgesellschaft vertan. Manche wollten die Macht um der Macht willen, andere wollten nur Geld verdienen. Auch deshalb dient Politik heute vor allem dazu, um die Gesellschaft zu spalten."
    Am frühen Abend setzt starker Regen ein, die Reihen vor der Konzertbühne lichten sich. Doch zumindest ein paar Hundert Warschauer haben den 4. Juni 1989, der Europa veränderte, nicht ganz in Vergessenheit geraten lassen.