Am 9. Oktober 2019 wollte ein schwer bewaffneter Mann ein Blutbad unter der jüdischen Gemeinde in Halle anrichten. Nachdem er die Synagogentür nicht aufbekam, tötete Stephan B., derzeit vor Gericht, willkürlich zwei andere Menschen. Die Tat jährt sich zum ersten Mal. Am Jahrestag soll allerdings nicht sie im Mittelpunkt stehen, sondern die Opfer.
Zu den Organisatoren der Gedenkveranstaltung gehört auch Igor Matviyets, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Halle. Er hat einen "würdevollen" Jahrestag erlebt, findet aber auch: "Aus jüdischer Perspektive ist die Normalität im Alltag hier in Halle viel zu schnell zurückgekehrt."
Aus Matviyets' Sicht müssen Staat und Gesellschaft noch deutlich mehr leisten, "bis wir ein tatsächlich durchgehendes Bewusstsein haben für diese Problemlagen".
Jörg Münchenberg: Herr Matviyets, welche Erinnerung haben Sie an den 9. Oktober 2019?
Igor Matviyets: Belastende. Ich war selbst nicht zugegen in der Gemeinde, habe währenddessen gearbeitet und ziemlich schnell Informationen und Benachrichtigungen auf mein Handy einprasseln sehen. Und da habe ich sehr schnell mitbekommen, dass da ein Attentat stattfindet auf die Synagoge, wusste gleich, wer da in der Synagoge hinter der Tür wahrscheinlich für die Sicherheit zuständig ist, wer da wahrscheinlich mitbetet, und hatte große Angst. Aber zum Glück muss ich sagen, dass sehr schnell der Gemeindevorsitzende sich zurückgemeldet hat und gesagt hat, dass der Attentäter nicht eindringen konnte. Über die verstorbenen Menschen wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nichts. Die Informationslage quer durch den Tag war sehr verwirrend und hat auch ein bisschen zur Belastung beigetragen. Teilweise hat die Polizei das Drinbleiben angeordnet, nicht auf die Straße gehen.
"Die Gemeinde ist noch vorsichtiger, noch verschlossener geworden"
Münchenberg: Wie sehr ist dieses Attentat heute noch in der Gemeinde präsent? Wie sehr belastet dieses Attentat die Gemeinde heute?
Matviyets: Es ist auf jeden Fall präsent. Es hat auf jeden Fall die Haltung in der Gemeinde verändert. Es ist nicht so, dass es sich grundlegend gewandelt hat, weil eine Angst vor Antisemitismus gab es schon vorher. Übergriffe, Beleidigungen, Schmierereien gehörten leider über all die Jahre zum Alltag. Doch das Ausmaß der Gewalt dann beim Attentat war natürlich eine neue Dimension, und seitdem ist die Gemeinde in all ihrer schon existierenden Vorsicht natürlich noch vorsichtiger geworden, noch verschlossener geworden gegenüber der Außenwelt. Man muss ja sagen, die Tür war ja schon verschlossen, als der Attentäter vorbeikam. Sie war zu dem Zeitpunkt nicht sperrangelweit offen.
"Alltag aus jüdischer Perspektive viel zu schnell zurückgekehrt"
Münchenberg: Wie erleben Sie jetzt das Miteinander in der Stadt? Hat die Tat dort vielleicht auch was zum Positiven verändert, was das Miteinander angeht? Oder haben vielleicht viele aus Ihrer Sicht den Anschlag schon wieder ein Stück weit vergessen?
Matviyets: Aus jüdischer Perspektive ist die Normalität im Alltag hier in Halle viel zu schnell zurückgekehrt. Aber das sind Gefühle, die mal positiv, mal negativ sind bei mir, denn jetzt gerade habe ich den ersten Anruf von Ihnen verpasst, weil die Leute hier auf dem Marktplatz tatsächlich sehr, sehr, sehr viele waren, sehr viele bekannte Gesichter da waren, sehr viele Menschen zu mir auch direkt gekommen sind, mit mir gesprochen haben. Der Beginn dieses Jahrestages war auf jeden Fall sehr würdevoll. Gerade findet auch eine Demokratie-Konferenz statt hier mit vielen Vertreterinnen und Vertretern aus dem jüdischen Leben, aus dem Kampf gegen Antisemitismus. Es hat Licht und Schatten.
Ich hätte mir mehr Partizipation, mehr Anteilnahme gewünscht, quer durchs Jahr, aber vielleicht ist heute der Jahrestag ja auch ein neuer Ansatz, um tatsächlich auch nachhaltig über die menschenfeindlichen Ideologien des Attentäters, über die Gefahren für die Minderheiten im Land zu sprechen.
"Frage, wie nachhaltig dieser Schutz ist"
Münchenberg: Herr Matviyets, Sie haben vorhin schon das Sicherheitsgefühl der Gemeinde angesprochen, dass man sich jetzt vielleicht doch noch mehr zurückzieht. Nun hat ja das Land auch die Polizeikontrollen massiv ausgebaut, stellt da deutlich mehr Geld zur Verfügung. Reicht das aus Ihrer Sicht aus?
Matviyets: Jeder Schutz ist ja im Endeffekt nur eine Frage, wie schwer es für eine Person ist, den zu umgehen – egal, in welcher Form er ausgestaltet ist. In Hamburg stand die Polizei ja auch vor der Synagoge, und trotzdem kam es zu einem tätlichen Angriff gegen eine Person, die als jüdisch zu erkennen war durch eine Kippa.
Die Frage ist einfach, wie nachhaltig dieser Schutz ist und wie sehr im Bewusstsein auch der Mehrheitsgesellschaft es stattfindet, dass Antisemitismus und auch Rassismus tatsächlich nicht zum Alltag gehören darf, dass sich dem klar entgegengestellt werden kann. Weil bevor jemand tatsächlich zu so einer Tat greift, ziehen Monate, Jahre ins Land, wo diese Personen teilweise auch offen mit ihren menschenfeindlichen Haltungen hausieren gehen. Da bräuchten wir den Widerspruch.
Und dann hoffe ich, dass dann auch begleitend durch Polizeischutz-Maßnahmen die Sicherheit für das jüdische Leben und für andere Minderheiten sich deutlich steigern kann.
"Da muss die Politik immer mehr nachschieben"
Münchenberg: Noch ganz kurz zum Schluss. Hat aus Ihrer Sicht der deutsche Staat die richtigen Antworten gefunden? Es ist ein Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität vorgesehen. Es gibt auch ein neues Bewusstsein, sicherlich politisch gesehen, für die Gefahr von rechts. Hat aus Ihrer Sicht der Staat die Bedrohung erkannt?
Matviyets: Zu 60 Prozent, würde ich pauschal sagen. Ja, es werden schnell die richtigen Worte gefunden. Es werden jetzt auch sukzessive Gesetze auf den Weg gebracht, Maßnahmen auf den Weg gebracht, die für einen besseren Kampf sprechen, gegen diese Hassverbrechen, gegen diese menschenfeindliche Ideologie. Doch es misst sich auch in unserem Alltag. Sind wir gerade Mitglied einer WhatsApp-Chatgruppe, in der jemand aus der Familie oder aus dem Freundeskreis teilweise rechte Theorien äußert? Oder haben wir im Facebook-Freundeskreis Leute, die so was teilen? Solche Fragen müssen wir uns alle im Alltag stellen, und natürlich helfen da staatliche Maßnahmen, die uns diese Sensibilität noch stärker vermitteln. Aber bis wir ein tatsächlich durchgehendes Bewusstsein haben für diese Problemlagen, dauert es allerdings noch, und da muss die Politik immer mehr nachschieben und sich nicht nur auf ein paar Gesetze und ein paar Maßnahmen verlassen.
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