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Jahrestag des Halle-Anschlags
Gemeindemitglied: Der Staat hat die Bedrohung "zu 60 Prozent" erkannt

Aus jüdischer Perspektive sei der Alltag nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle viel zu schnell zurückkehrt, sagte Ygor Matviyets von der dortigen Jüdischen Gemeinde im Dlf. Er forderte die Politik auf, im Kampf gegen Antisemitismus nicht nachzulassen.

Igor Matviyets im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
09.10.2020, Sachsen-Anhalt, Halle (Saale): Ein Mann steht während der Schweigeminute 12:01 Uhr zum Gedenken der Opfer des Terroranschlags von Halle/Saale vor der Synagoge. Zu dieser Zeit fielen die ersten Schüsse auf das jüdische Gotteshaus. Ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in Halle wird mit Veranstaltungen und Gebeten der Opfer gedacht. Am 09. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Rechtsextremist versucht, die Synagoge zu stürmen und ein Massaker unter 52 Besuchern anzurichten. Als ihm das nicht gelang, erschoss er eine Passantin und in einem Dönerimbiss einen jungen Mann. Foto: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Schweigeminute vor der Synagoge in Halle am ersten Jahrestag des Anschlags (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
Am 9. Oktober 2019 wollte ein schwer bewaffneter Mann ein Blutbad unter der jüdischen Gemeinde in Halle anrichten. Nachdem er die Synagogentür nicht aufbekam, tötete Stephan B., derzeit vor Gericht, willkürlich zwei andere Menschen. Die Tat jährt sich zum ersten Mal. Am Jahrestag soll allerdings nicht sie im Mittelpunkt stehen, sondern die Opfer.
Zu den Organisatoren der Gedenkveranstaltung gehört auch Igor Matviyets, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Halle. Er hat einen "würdevollen" Jahrestag erlebt, findet aber auch: "Aus jüdischer Perspektive ist die Normalität im Alltag hier in Halle viel zu schnell zurückgekehrt."
Aus Matviyets' Sicht müssen Staat und Gesellschaft noch deutlich mehr leisten, "bis wir ein tatsächlich durchgehendes Bewusstsein haben für diese Problemlagen".
Jüdischer Blogger: Ein Anschlag auf uns alle – nein!Der Anschlag von Halle jährt sich zum ersten Mal. Der Blogger und Podcaster Chajm Guski kritisiert die Rituale und Floskeln der Betroffenheit. "In erster Linie würde uns Ehrlichkeit helfen, dass Politiker sagen: Wir haben keine Ahnung, wie wir im Moment darauf reagieren sollen", sagte er im Dlf.
Jörg Münchenberg: Herr Matviyets, welche Erinnerung haben Sie an den 9. Oktober 2019?
Igor Matviyets: Belastende. Ich war selbst nicht zugegen in der Gemeinde, habe währenddessen gearbeitet und ziemlich schnell Informationen und Benachrichtigungen auf mein Handy einprasseln sehen. Und da habe ich sehr schnell mitbekommen, dass da ein Attentat stattfindet auf die Synagoge, wusste gleich, wer da in der Synagoge hinter der Tür wahrscheinlich für die Sicherheit zuständig ist, wer da wahrscheinlich mitbetet, und hatte große Angst. Aber zum Glück muss ich sagen, dass sehr schnell der Gemeindevorsitzende sich zurückgemeldet hat und gesagt hat, dass der Attentäter nicht eindringen konnte. Über die verstorbenen Menschen wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nichts. Die Informationslage quer durch den Tag war sehr verwirrend und hat auch ein bisschen zur Belastung beigetragen. Teilweise hat die Polizei das Drinbleiben angeordnet, nicht auf die Straße gehen.
"Solidarität den Betroffenen, keine Bühne dem Täter" - Igor Matviyets auf einer Kundgebung in Magdeburg, wo der Halle-Attentäter vor Gericht steht
"Solidarität den Betroffenen, keine Bühne dem Täter" - Igor Matviyets auf einer Kundgebung in Magdeburg, wo der Halle-Attentäter vor Gericht steht (picture alliance / NurPhoto / Peter Niedung)
"Die Gemeinde ist noch vorsichtiger, noch verschlossener geworden"
Münchenberg: Wie sehr ist dieses Attentat heute noch in der Gemeinde präsent? Wie sehr belastet dieses Attentat die Gemeinde heute?
Matviyets: Es ist auf jeden Fall präsent. Es hat auf jeden Fall die Haltung in der Gemeinde verändert. Es ist nicht so, dass es sich grundlegend gewandelt hat, weil eine Angst vor Antisemitismus gab es schon vorher. Übergriffe, Beleidigungen, Schmierereien gehörten leider über all die Jahre zum Alltag. Doch das Ausmaß der Gewalt dann beim Attentat war natürlich eine neue Dimension, und seitdem ist die Gemeinde in all ihrer schon existierenden Vorsicht natürlich noch vorsichtiger geworden, noch verschlossener geworden gegenüber der Außenwelt. Man muss ja sagen, die Tür war ja schon verschlossen, als der Attentäter vorbeikam. Sie war zu dem Zeitpunkt nicht sperrangelweit offen.
"Alltag aus jüdischer Perspektive viel zu schnell zurückgekehrt"
Münchenberg: Wie erleben Sie jetzt das Miteinander in der Stadt? Hat die Tat dort vielleicht auch was zum Positiven verändert, was das Miteinander angeht? Oder haben vielleicht viele aus Ihrer Sicht den Anschlag schon wieder ein Stück weit vergessen?
Matviyets: Aus jüdischer Perspektive ist die Normalität im Alltag hier in Halle viel zu schnell zurückgekehrt. Aber das sind Gefühle, die mal positiv, mal negativ sind bei mir, denn jetzt gerade habe ich den ersten Anruf von Ihnen verpasst, weil die Leute hier auf dem Marktplatz tatsächlich sehr, sehr, sehr viele waren, sehr viele bekannte Gesichter da waren, sehr viele Menschen zu mir auch direkt gekommen sind, mit mir gesprochen haben. Der Beginn dieses Jahrestages war auf jeden Fall sehr würdevoll. Gerade findet auch eine Demokratie-Konferenz statt hier mit vielen Vertreterinnen und Vertretern aus dem jüdischen Leben, aus dem Kampf gegen Antisemitismus. Es hat Licht und Schatten.
Ich hätte mir mehr Partizipation, mehr Anteilnahme gewünscht, quer durchs Jahr, aber vielleicht ist heute der Jahrestag ja auch ein neuer Ansatz, um tatsächlich auch nachhaltig über die menschenfeindlichen Ideologien des Attentäters, über die Gefahren für die Minderheiten im Land zu sprechen.
Dem angeklagten Stephan B. werden vor dem Landgericht in Magdeburg die Handschellen abgenommen. Der Attentäter hatte am 9. Oktober 2019 versucht, in der Synagoge in Halle ein Blutbad anzurichten.
Protokoll eines Anschlags - Stephan B. vor GerichtAm höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, scheitert ein Attentäter daran, in die Synagoge von Halle einzudringen. Danach tötet er zwei Passanten. Nun steht er vor Gericht. Wie konnte es zu dem Anschlag kommen?
"Frage, wie nachhaltig dieser Schutz ist"
Münchenberg: Herr Matviyets, Sie haben vorhin schon das Sicherheitsgefühl der Gemeinde angesprochen, dass man sich jetzt vielleicht doch noch mehr zurückzieht. Nun hat ja das Land auch die Polizeikontrollen massiv ausgebaut, stellt da deutlich mehr Geld zur Verfügung. Reicht das aus Ihrer Sicht aus?
Matviyets: Jeder Schutz ist ja im Endeffekt nur eine Frage, wie schwer es für eine Person ist, den zu umgehen – egal, in welcher Form er ausgestaltet ist. In Hamburg stand die Polizei ja auch vor der Synagoge, und trotzdem kam es zu einem tätlichen Angriff gegen eine Person, die als jüdisch zu erkennen war durch eine Kippa.
Die Frage ist einfach, wie nachhaltig dieser Schutz ist und wie sehr im Bewusstsein auch der Mehrheitsgesellschaft es stattfindet, dass Antisemitismus und auch Rassismus tatsächlich nicht zum Alltag gehören darf, dass sich dem klar entgegengestellt werden kann. Weil bevor jemand tatsächlich zu so einer Tat greift, ziehen Monate, Jahre ins Land, wo diese Personen teilweise auch offen mit ihren menschenfeindlichen Haltungen hausieren gehen. Da bräuchten wir den Widerspruch.
Und dann hoffe ich, dass dann auch begleitend durch Polizeischutz-Maßnahmen die Sicherheit für das jüdische Leben und für andere Minderheiten sich deutlich steigern kann.
Aussenansicht der Synagoge von Halle im Juli 2020.
Die Angst, nicht sicher zu seinEin Jahr liegt der Anschlag auf die Synagoge von Halle zurück. Heute schwanken die Mitglieder der jüdischen Gemeinde zwischen Hoffnung und Skepsis, wie sicher sie in Deutschland sind: Auch wegen der rechtsextremen Verdachtsfälle bei der Polizei.
"Da muss die Politik immer mehr nachschieben"
Münchenberg: Noch ganz kurz zum Schluss. Hat aus Ihrer Sicht der deutsche Staat die richtigen Antworten gefunden? Es ist ein Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität vorgesehen. Es gibt auch ein neues Bewusstsein, sicherlich politisch gesehen, für die Gefahr von rechts. Hat aus Ihrer Sicht der Staat die Bedrohung erkannt?
Matviyets: Zu 60 Prozent, würde ich pauschal sagen. Ja, es werden schnell die richtigen Worte gefunden. Es werden jetzt auch sukzessive Gesetze auf den Weg gebracht, Maßnahmen auf den Weg gebracht, die für einen besseren Kampf sprechen, gegen diese Hassverbrechen, gegen diese menschenfeindliche Ideologie. Doch es misst sich auch in unserem Alltag. Sind wir gerade Mitglied einer WhatsApp-Chatgruppe, in der jemand aus der Familie oder aus dem Freundeskreis teilweise rechte Theorien äußert? Oder haben wir im Facebook-Freundeskreis Leute, die so was teilen? Solche Fragen müssen wir uns alle im Alltag stellen, und natürlich helfen da staatliche Maßnahmen, die uns diese Sensibilität noch stärker vermitteln. Aber bis wir ein tatsächlich durchgehendes Bewusstsein haben für diese Problemlagen, dauert es allerdings noch, und da muss die Politik immer mehr nachschieben und sich nicht nur auf ein paar Gesetze und ein paar Maßnahmen verlassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.