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Ein Jahr nach Sturm auf das US-Kapitol
Demokratie unter Druck

Was am 6. Januar 2021 in der US-Hauptstadt geschah, ist bekannt und dokumentiert: Ein Mob drang in das Kapitol in Washington ein - aufgeputscht von Donald Trumps Lüge vom gestohlenen Wahlsieg. Mehrere Menschen kamen ums Leben. Bis heute lösen die Ereignisse höchst gegensätzliche Reaktionen aus.

Von Doris Simon |
Capitol Riot Seattle Police
6. Januar 2021, Washington D.C.: Trump-Anhänger stürmen das US-Parlamentsgebäude (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | John Minchillo)
Es war ein Tag der Gewalt – mit Langzeitwirkung, mitten im institutionellen Zentrum der amerikanischen Demokratie. Der Sturm auf das Kapitol, auf den Sitz des Parlaments, war der gewalttätige Versuch, die Bestätigung der Wahl von Joe Biden als 46. Präsidenten der USA zu verhindern, und zugleich ein Präzedenzfall.
Zwar hätten die Institutionen ihre Aufgaben erfüllt, sagt Bennie Thompson, der Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum 6. Januar. Noch in der Nacht hatte der Kongress Joe Biden bestätigt. Genau das hatten die Angreifer im Kapitol verhindern wollen. Aber seither, so Thompson, fehle die Sicherheit, dass es nach jedem noch so scharfen Präsidentschaftswahlkampf am Ende zu einer friedlichen Übergabe der Macht im Lande komme. Darüber müsse man nachdenken.

Wie der Sturm ablief

Was am 6. Januar geschah, ist bekannt und dokumentiert. Am späten Vormittag waren im Kapitol Abgeordnete und Senatoren zusammengekommen, um die Ergebnisse der Präsidentenwahl aus den Bundesstaaten zu bestätigen. Zeitgleich fand in direkter Nähe zum Weißen Haus eine Kundgebung statt, mit dem Ziel, genau dies zu verhindern. Seit Wochen hatten der abgewählte Präsident und seine Vertrauten für die Kundgebung getrommelt, unter dem Motto „Stop the steal“, Donald Trumps Lüge vom ihm gestohlenen Wahlsieg. Zehntausende kamen aus dem ganzen Land, darunter auch radikale und rechtsextreme Gruppen. Manche hatten sich abgesprochen und Waffen mitgebracht.
Trump-Anhänger auf dem Gelände des gestürmten Kapitols in Washington am 6. Januar 2021.
Trump-Anhänger auf dem Gelände des gestürmten Kapitols in Washington am 6. Januar 2021. (picture alliance / Pacific Press | Michael Nigro)
Sie müssten wie die Teufel kämpfen, sonst hätten sie kein Land mehr, rief Präsident Trump mittags seiner begeisterten Basis zu. Dann forderte er wenig verhohlen dazu auf, am Kapitol Druck auf republikanische Kongressmitglieder und Vizepräsident Mike Pence auszuüben, um die Bestätigung der Wahl von Joe Biden zu verhindern. „Wir werden zum Kapitol gehen und versuchen, unseren Republikanern – den Schwachen, denn die Starken brauchen unsere Hilfe nicht – den Stolz und die Kühnheit zu geben, die sie brauchen, um unser Land zurückzuerobern. Lasst uns die Pennsylvania Avenue entlanggehen!“

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In der Folge stürmte ein Mob von hunderten Kundgebungsteilnehmern das Kapitol. Sprechchöre riefen: "Hängt Mike Pence!" Die Auszählung der Stimmen musste unterbrochen werden, Kongressmitglieder und Mitarbeiter wurden von Polizisten gerade noch in Sicherheit gebracht.
US-Präsident Donald Trump und sein Vize Mike Pence nach der Abstimmung im US-Repräsentantenhaus über die Abschaffung von Obama Care am 4.5.2017.
Der damalige US-Präsident Donald Trump und sein Vize Mike Pence (r) (AFP/Mandel Ngan)
Erst am Abend waren die letzten Eindringlinge vertrieben. Fünf Menschen waren tot, darunter ein Polizist. Mindestens vier weitere Polizisten, die den Kongress verteidigt hatten, nahmen sich in der Folge das Leben. Die Beseitigung der Schäden im Gebäude kostete mindestens 1,5 Millionen Dollar. Über 700 Angreifer wurden festgenommen, über 70 verurteilt. Das FBI ermittelt weiter.

"Ein Anschlag auf die amerikanische Demokratie"

Direkt nach der Gewalt hätten Republikaner wie Demokraten verstanden, dass der 6. Januar ein Anschlag auf die amerikanische Demokratie gewesen sei, sagt Sheri Berman, Historikerin am New Yorker Barnard-College. „Wenn das nicht unterbunden und bestraft wird, dann könnte dies einen sehr gefährlichen Präzedenzfall schaffen: Das war die erste Reaktion auf beiden Seiten, sogar bei einigen starken Trump-Unterstützern.“
Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob der 6. Januar zu einem Wendepunkt in der unversöhnlichen politischen Auseinandersetzung werden könnte. So stimmten republikanische Senatoren und Abgeordnete, die die Wahlergebnisse aus mehreren Bundesstaaten anfechten wollten, in der Nacht des 6. Januar für die Bestätigung von Joe Biden. Die Kritik prominenter Republikaner am ehemaligen Präsidenten war so laut wie noch nie: Trump hatte die Gewalt am Kapitol fasziniert im Fernsehen verfolgt, sich stundenlang geweigert, sie zu verurteilen und seine Unterstützer zurückzurufen, selbst, als ihn engste Vertraute dazu aufforderten.
US Präsident Joe Biden, 19.März 2021.
Joe Biden gewann die Präsidentschaftswahl 2020 (picture alliance/newscom/UPI Photo/Kevin Dietsch)
Doch die republikanische Basis spielte nicht mit: Sie wollte nicht zurück zu den Republikanern von früher, sie wollte weiterhin Donald Trump. Wie Betty Mason machen viele ihren gewählten Vertretern die Hölle heiß, insbesondere, wenn sie wie Nebraskas Senator Ben Sasse für das Impeachment und eine Verurteilung von Donald Trump gestimmt hatten. Sie habe Sasse gesagt, dass sie ihn für eine absolute Schande halte, erzählt die Kosmetikerin, sowohl für seinen Bundesstaat als auch für die Menschen, die ihn in sein Amt gewählt hätten.  
Republikanische Kongresspolitiker verstanden sehr schnell: Innerhalb kürzester Zeit verstummte die Kritik an Trumps Rolle beim Angriff auf das Kapitol. Wer dabei blieb, wurde zum Paria. Senatoren und Abgeordnete spielten die Gewalt am 6. Januar herunter, die sie selber hautnah erlebt hatten.
Gary Schmitt vom konservativen Think Tank American Enterprise Institute beobachtet seit Jahrzehnten Politik in den USA. Alle Entscheidungen würden in den Parteien daraufhin geprüft, was sie für die Chancen bei der nächsten Wahl bedeuteten. Diese Überlegung bestimme auch den Umgang der Republikaner mit dem 6. Januar, sagt Schmitt: „Wenn Politiker nicht kritisieren, was am 6. Januar passiert ist, dann erlauben sie Menschen, die glauben, eine höhere Berufung zu haben, das Gesetz zu ignorieren. Sie geben diesen Leuten die Legitimation, genau das zu tun, was am 6. Januar passiert ist.“ 

Vorwurf der Feigheit

Nur sieben von 50 republikanischen Senatoren stimmten im Februar vergangenen Jahres für ein Impeachment von Donald Trump. Die Basis treibe die traditionelle Parteielite seit Trumps Nominierung 2016 vor sich her, erklärt der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama von der Stanford-Universität. Als Ausnahmebeispiel für konservative Standfestigkeit nennt er Liz Cheney, die seit dem 6. Januar verlangt, die Republikaner müssten sich von Donald Trump lösen und ihn zur Verantwortung ziehen für seine Rolle beim Umsturzversuch.
Der US-Politologe Francis Fukuyama ist vor allem für seine Zeitdiagnosen bekannt.
Der US-Politologe Francis Fukuyama (picture alliance / dpa | Maurizio Brambatti)
Aber die große Mehrheit von Cheneys Kollegen sei feige, sagt Fukuyama: „Die eigentliche Triebfeder sind jedoch die republikanischen Wähler. Jeder Republikaner, der sich gegen Trump stellt, wird herausgefordert und persönlich angegriffen. Sie wissen, dass Biden die Wahl gewonnen hat, aber sie wissen auch, dass sie von ihren eigenen Wählern angegriffen werden, wenn sie das offen sagen.“ 
Republikanische Politiker haben es nicht bei der Leugnung des Umsturzversuches am 6. Januar belassen. Im letzten Jahr entschieden viele republikanisch regierte Bundesstaaten, ihre Wahlgesetze so zu verändern, dass typischen Wählern der Demokraten der Wahlzugang erschwert wird. Als Begründung dient überall die nachweisliche Lüge vom Wahlbetrug. Die konservative Mehrheit am Obersten Gerichtshof gab den Wahlrechtseinschränkungen ihren Segen. In vielen Bundesstaaten unterstützen die Republikaner zudem gezielt Trump-loyale Kandidaten bei der Übernahme von Ämtern in Wahlkommissionen vor Ort – Positionen, für die sich in der Vergangenheit nie jemand interessiert hat, da die Bestätigung der lokalen Wahlergebnisse bislang eher eine Formalität war. Ein Bundesgesetz, das breiten Zugang zu Wahlen festschreiben und Einschränkungen verhindern würde, scheiterte am Widerstand der Republikaner im US-Senat.
Für den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama bedrohen die Veränderungen die verfassungsmäßige Ordnung und die amerikanische Demokratie: „Republikanische Gesetzgeber in den Bundesstaaten haben die Gesetze geändert, um sicherzustellen, dass sie beim nächsten Mal in der Lage sein werden, die Wahl zu kippen. In etwa einem Jahr stehen die Zwischenwahlen an und 2024 die Präsidentschaftswahlen, und in beiden Wahlen werden die Republikaner versuchen, ein gegen sie gerichtetes Votum umzudrehen. Sie können davon ausgehen, dass dann beide Seiten mobilmachen. Und viele Menschen in den Vereinigten Staaten besitzen Waffen.“

Trump dominiert immer noch die Republikaner

Ein Jahr nach dem Angriff auf den US-Kongress hält Donald Trump die Zügel der republikanischen Partei fester in der Hand als jemals zuvor. Wer sein Mandat behalten oder etwas werden will, versucht einen Termin in seiner Residenz Mar a Lago zu bekommen, finanzielle Unterstützung oder einen Auftritt des ehemaligen Präsidenten bei den Vorwahlen. Der Rest des republikanischen Establishments geht verbal mit, schweigt oder tritt nicht wieder an. Alle anderen trifft der Zorn des Ex-Präsidenten und seiner Basis.
Die republikanische Abgeordnete Liz Cheney aus Wyoming hört einer Rede von US-Präsident Joe Biden zu. Die Anhänger seines Vorgängers Doinald Trump wollen sie inzwischen absetzen
Die republikanische Abgeordnete Liz Cheney (dpa / AP Pool / Andrew Harnik)
Trump-treue Gegenkandidaten werden aufgebaut, mit dem Ziel, bei den nächsten parteiinternen Vorwahlen Abgeordnete wie Liz Cheney aus dem Rennen für den Kongress zu werfen. Trump-Kritiker erhalten Todesdrohungen, aber auch jene 32 Republikaner, die für das große Infrastrukturgesetz der Regierung Biden gestimmt haben. Weil sich die republikanische Partei nicht damit auseinandersetzen will, was zum Angriff auf das Kapitol geführt und welche Rolle der frühere Präsident dabei gespielt hat, gibt es auch keine Untersuchungskommission zu den Hintergründen des 6. Januars. Anders als nach dem Watergate-Skandal und nach den Terrorangriffen des 11. Septembers 2001, als Demokraten und Republikaner gemeinsam für eine umfassende Untersuchung votierten.
Seit dem Sommer versucht nun ein Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses, den Dingen auf den Grund zu gehen. Die republikanische Minderheit im Parlament konnte die Einsetzung nicht verhindern, aber sie entschied, keine Abgeordneten in den Ausschuss zu entsenden. Deshalb sind die einzigen konservativen Vertreter im Gremium die beiden Trump-Kritiker Liz Cheney und Adam Kinzinger, die vom demokratischen Vorsitz berufen wurden. Wenn man die aufgeheizte Rhetorik einmal beiseitelasse, dann sei der Auftrag des Ausschusses sehr einfach, sagte Adam Kinzinger in seiner ersten Wortmeldung. 
„Es geht darum, die Wahrheit zu finden, und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“ Viele Fragen sind immer noch offen. Warum erreichten die frühen Informationen über Absprachen gewaltbereiter Gruppen die zuständigen Stellen in den Sicherheitsbehörden nicht? Warum kam die Nationalgarde so spät zur Verstärkung der Polizei, und welche Verantwortung hatten Präsident Trump und seine Vertrauten daran? Warum wurde die Bedrohung der Auszählung durch Extremisten nicht ernst genommen, obwohl FBI-Direktor Christopher Wray schon Wochen zuvor gewarnt hatte, die größte Gefahr für das Land sei der inländische Terror von rechts? 

Die Arbeit des Untersuchungsausschusses

Michael Fanone von der Washingtoner Metropolitan Police wurde am 6. Januar vom Mob bewusstlos geschlagen und mehrmals mit einem Taser am Hals attackiert. Fanone erlitt einen Herzinfarkt und ein Schädel-Hirn-Trauma. Vieles am 6. Januar sei unter den Augen der Öffentlichkeit passiert, sagte der Polizist, der 2016 Trump gewählt hatte, in einer Anhörung des Ausschusses. „Die Zeit, der Ort und die Umstände dieser Kundgebung, diese Rhetorik und die Ereignisse weisen für mich in Richtung unseres Präsidenten und anderer Mitglieder, nicht nur des Kongresses.“
Sein Kollege Harry Dunn forderte, nicht nur den Mob wegen des Umsturzversuches zur Verantwortung zu ziehen. Wenn ein Auftragskiller jemanden töte, werde er dafür verurteilt, sagte Dunn. Aber nicht nur der Auftragskiller, auch die Person, die ihn angeheuert habe, gehe ins Gefängnis. Am 6. Januar, so der Polizist, sei ein Anschlag verübt worden, hinter dem ein Auftraggeber stand. Dem müsse der Ausschuss auf den Grund gehen.
Trump-Anhänger stehen vor einem Polizisten
Aggressive Trump-Anhänger dringen ins Kapitol in Washington ein. (AP / Manuel Balce Ceneta)
Doch es ist sehr fraglich, ob es dem Untersuchungsausschuss gelingt zu dokumentieren, wer die Drahtzieher und Verantwortlichen waren hinter dem Umsturzversuch, das räumte zuletzt auch der Vorsitzende Bennie Thompson ein. Donald Trump, viele seiner Vertrauten und früheren Mitarbeiter wehren sich mit allen juristischen Mitteln, Unterlagen herauszurücken und vor dem Ausschuss aussagen zu müssen.

Gespaltene Medienlandschaft

Viele US-Bürger haben bis heute wenig oder nichts von der Arbeit des Untersuchungsausschusses mitbekommen – Ergebnis der gespaltenen Medienlandschaft der Vereinigten Staaten, die Ausdruck und zugleich Verstärker der gesellschaftlichen Spaltung im Land ist. Die meisten republikanischen Wähler schauen den Kabelkanal Fox News oder hören konservative oder rechte Talk Radio Programme. Dort ist der Untersuchungsausschuss zum Angriff aufs Kapitol entweder kein Thema oder er wird als parteipolitisches Instrument der Demokraten dargestellt, das vor allem dem früheren Präsidenten schaden soll. 
Dabei waren es unter anderem prominente Trump-Fans unter den Fox-Moderatoren, die am 6. Januar den Präsidenten drängten, den Mob zurückzurufen – das belegen Dokumente des Untersuchungsausschusses. So schrieb die Fox-Moderatorin Laura Ingraham Trumps Stabschef Mark Meadows per SMS: „Mark, der Präsident muss den Leuten in der Hauptstadt sagen, sie sollen nach Hause gehen, das schadet uns allen. Er ruiniert sein Vermächtnis.“
Eingedrungene Trump-Anhänger reden im Kapitol auf einen Polizisten ein.
Eingedrungene Trump-Anhänger reden im Kapitol auf einen Polizisten ein (AP / Manuel Balce Ceneta)
Zuschauer von Fox News haben bis heute nichts erfahren über die besorgten Textnachrichten der Moderatoren während des Umsturzversuches. Die dringenden Appelle, der Gewalt Einhalt zu bieten, waren auch kein Thema für ein einstündiges Fox-Interview mit Donald Trump am Tag der SMS-Veröffentlichungen. 70 Prozent der republikanischen Wähler sind inzwischen überzeugt, die Demokraten hätten Donald Trump den Wahlsieg durch Betrug gestohlen.
Dabei glaubten viele dieser Wähler durchaus an die Demokratie, sagt der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama. Sie seien für faire Wahlen. Aber sie glaubten eben auch, dass die Demokraten betrogen hätten, was nachweislich falsch sei. Es sei das Medienumfeld, das solchen Blödsinn fördere, so Fukuyama: „Und das ist etwas, das es vorher nicht wirklich gegeben hat, weil die Kanäle ziemlich begrenzt waren und von einer relativ kleinen Anzahl von Akteuren kontrolliert wurden. Aber das Internet hat die Dinge verändert. Jeder kann alles sagen, und das tut er auch.“

Zunahme der politischen und gesellschaftlichen Konfrontation

Und so leben die US-Bürger ein Jahr nach dem Angriff auf das Kapitol in zwei parallelen Realitäten: Die eine Hälfte sieht Joe Biden als den rechtmäßigen 46. Präsidenten an und macht sich größte Sorgen um die amerikanische Demokratie und ihre Institutionen. Die andere Hälfte ist überzeugt, dem früheren Präsidenten Trump sei am 3. November 2020 der Wahlsieg gestohlen worden, wogegen Patrioten am 6. Januar 2021 protestiert hätten und deswegen jetzt zu Unrecht verfolgt würden.
Für Lisa Roberts aus St. Simons in Georgia gab es am 6. Januar keine Bedrohung, keinen Umsturzversuch. Die Souvenirverkäuferin sagt, unschuldige Omas hätten im Kapitol Selfies gemacht, das sei alles ein abgekartetes Spiel. Im Hintergrund in Roberts´ Souvenirladen läuft ein rechter Radiosender, der Moderator redet über eine Verschwörungstheorie, durch nichts belegt, die Demokraten würden in Washington einen Kinderpornoring betreiben. Eine Kundin bezahlt einen Muschelanhänger und lobt die zahlreichen Trump-Aufkleber, mit denen der Laden und das Schaufenster dekoriert sind. 
Die Polarisierung seit dem 6. Januar bedrohe inzwischen die Grundlagen des demokratischen Systems in den USA, glaubt auch die Historikerin Sheri Berman. Der politische Gegner sei zum Feind geworden. Es gebe eine immer größer werdende Gruppe, „die glaubt, dass es da draußen eine Demokratische Partei gibt, die tatsächlich die größere Bedrohung für die Demokratie darstellt als die Republikanische Partei und die Aufständischen vom 6. Januar.“
Donald Trump müsse jetzt kämpfen, und noch vor der nächsten Wahl zurückkehren ins Weiße Haus – laut einer aktuellen Umfrage des Fernsehsenders CBS unterstützen gut zwölf Prozent der US-Bevölkerung diese Forderung. In einer anderen Umfrage erklärte jeder dritte republikanische Befragte, Gewalt gegen die Regierung sei zuweilen gerechtfertigt. Vor zehn Jahren hielt nur jeder sechste Befragte Gewalt für gerechtfertigt. 
Unterstützer des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump sind in das Kapitol in Washington eingedrungen.
Unterstützer des damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Kapitol (picture alliance / AA | Mostafa Bassim)
Insbesondere die republikanische Basis bevorzugt seit Jahren Kandidaten mit extremeren Ansichten. Bis vor zehn Jahren habe noch eine Mehrheit der Wähler zur politischen Mitte tendiert, sagt Gary Schmitt vom konservativen Think Tank American Enterprise Institute. „Das war die Mitte, die unser politisches Leben und den politischen Diskurs in gewisser Weise moderierte und an die sich die Kandidaten wenden mussten, um auf nationaler Ebene erfolgreich zu sein. Aber wenn jeder ständig in einer extremen Art und Weise redet, werden der politische Diskurs und das normale Gespräch immer extremer, und die Mitte verschwindet.“ 
Auch Sheri Berman erwartet eher eine Zunahme der politischen und gesellschaftlichen Konfrontation in den Vereinigten Staaten. Berman spricht von einem gefährlichen Gefälle hin zu stärkerer Polarisierung und demokratischem Verfall. Die USA seien immer schon ein Land vielfacher Trennlinien gewesen, sagt die Historikerin und verweist auf den Bürgerkrieg und den Kampf gegen Rassismus. „Die Frage ist, ob wir diese Spaltungen als etwas betrachten können, das uns definiert, aber das wir überwinden können -  weil wir alle unser Land besser und stärker machen wollen. Das müssen wir wirklich herausfinden, denn ansonsten werden uns diese Spaltungen nur auseinanderreißen.“