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Jahrhundertchronik einer bäuerlichen Gastwirtfamilie

Eine bayerische Gastwirtfamilie steht im Mittelpunkt des Debütromans des Schauspielers Josef Bierbichler. Sein Epos setzt Ende des 19. Jahrhunderts ein, als der städtische Mittelstand die Schönheiten der Natur entdeckt und Reichtum in die kleinen Seegemeinden bringt. Es geht um Brüche, Veränderungen, und um Wehmut angesichts des Wandels einer Agrarlandschaft hin zu einem touristischen Dorado.

Von Martin Krumbholz |
    Wer den Schauspieler Josef Bierbichler kennt, wer ihn schon einmal auf der Bühne oder im Kino gesehen hat, der wird, wenn er diesen umfangreichen Roman zu lesen beginnt, im Hinterkopf die unverkennbare Stimme mit ihrem oberbayerischen Akzent hören. Stimme und Akzent des Autors prägen das, was man den "Sound" des Romans nennt, bis in Eigenarten der Syntax und der Modulation hinein, in Sätzen wie diesem:

    "Der neue Staat war auch gerade fertig gegründet worden, Konrad hieß der neue Adolf, und die neue Mark begann nach und nach ein glänzendes Fett anzusetzen."

    Das Adverb "fertig" vor dem Verb "gründen", der unbestimmte Artikel vor dem "glänzenden Fett", das sind sprachliche Feinheiten, die ihre Herkunft aus dem Dialekt nicht verleugnen und die wesentlich zur Lebendigkeit des Textes beitragen. Bierbichler verfolgt ein ehrgeiziges Projekt. Er hat sich vorgenommen, eine Jahrhundertchronik zu schreiben, angesiedelt in einer Seewirtschaft in Bayern, und man darf unterstellen, dass der Autor – der von "Autobiografie" nichts wissen will – sich für sein Lokal jene "Zum Fischmeister" genannte Gastwirtschaft am Starnberger See zum Vorbild genommen hat, die seit Generationen im Besitz der Familie Bierbichler ist, auch wenn weder See noch Gaststätte beim Namen genannt werden. Die Chronik setzt schon im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts ein, als der städtische Mittelstand die Schönheiten der Natur einschließlich Baden, Rudern, Dampfschifffahren entdeckt und Reichtum in die kleinen Seegemeinden bringt.

    "Die Landeshauptstadt, der Norden bis dahin schlechthin, wurde Durchgangsstation für Reisende, die noch viel weiter her kamen und ihre Ferien am See und in den Bergen verbringen wollten. Aus großer Entfernung, bis dahin als unüberwindlich geltend, kamen sie nun und bildeten jeweils für die Sommermonate das Sein. Der Schrei verebbte, den das Dorf noch hatte, der Schrei der Freiheit und Unabhängigkeit im Kargen. Reichtum, bis dahin, war nur an Arbeit."

    Dreimal in drei Sätzen die Formel "bis dahin": Das zeigt, dass es dem Autor von Anfang an um Brüche geht, um Veränderungen, vielleicht auch um eine gewisse Wehmut angesichts des Wandels einer bis dahin in Frieden gelassenen Agrarlandschaft hin zu einem touristischen Dorado. Dieser Wandel ist unumkehrbar und wird auch durch den Ersten Weltkrieg nur kurz unterbrochen. Reichtum ist fortan nicht mehr nur "an Arbeit", obwohl die natürlich nicht weniger wird; der Tourismus wird auch den Seewirt im Lauf der Jahre wenn nicht ganz reich, so doch "mittelreich" machen, sodass ihm noch eine gewisse Chance bleibt, in den Himmel zu kommen.

    "Ein wirklich Reicher kommt natürlich nicht ins Himmelreich. Sonst gäbe es ja keinen Glauben mehr. Aber wer ist schon so reich, dass er damit gemeint sein könnte. Ich nicht. Ich gehöre bestenfalls zu den Mittelreichen. Aber das Erbe, der Besitz, sollte so gut wie möglich als Ganzes durchs Nadelöhr gehen: in die Hände der nächsten Generation heißt das."

    So spricht der Seewirt schlitzohrig zu seinem Knecht, und er spricht auch von der "Verantwortung für den Besitz" und vom Privileg des Besitzes, das nur dann eines sei, wenn man es ausquetsche wie einen Sklaven und hege wie eine Braut. In der Zwischenkriegsgeneration sind die Verhältnisse noch wohlgeordnet. Dann wird es schwieriger. Pankraz, der nächste Erbe des Hofs, ist ein Melancholiker, ein Mann mit künstlerischen Ambitionen und eigentlich zu fein gestrickt für einen Bauern und Gastwirt. Er hadert mit sich und mit dem "Privileg des Besitzes". Die Nazijahre kommen und gehen vorbei, und im Jahr 1954, als eben der neue Wohlstand einsetzt, ereignet sich ein Jahrhundertsturm, der das Ganze Dach des Seehofs aus der Verankerung reißt und über die noch einen Meter höhere Kastanie hinwegträgt. Pankraz reagiert nicht, wie man es von einem Mann erwartet, sondern weint und verzweifelt; er ist "buchstäblich aus dem Häuschen." Seine Frau ist es, die ihn zur Räson ruft. Und nun – es gleicht einem Wunder – besinnt der Mann sich seiner musischen Ader und beginnt zu singen, singt eine Wagner-Arie und siehe da – der Wind lässt nach. Es ist eine der ergreifendsten Szenen des Romans, gerade in ihrer Ambivalenz. Denn wenn Pankraz sich hier mit seinem Schicksal versöhnt, dann auch in dem Sinn, dass er den Stachel der Rebellion in sich endgültig zum Schweigen bringt.

    "Wenn er in seinen letzten Lebensjahren, im Wachzustand vor sich hin grübelnd, vielleicht das eine oder andere Mal darüber nachgedacht haben sollte, wann sich eigentlich sein früher so aufgewühltes Inneres auf einmal zu beruhigen begann und warum, so erinnerte er sich ganz sicher nicht dieses einen Februartags im neunten Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. (…) Er fühlte nur im Laufe der Jahre, dass sein Leben irgendwie in einen gleichmäßigen Fluss geraten war. Er nahm es einfach irgendwann einmal wahr und wunderte sich einen Augenblick lang ein klein wenig darüber. Und doch waren es die Ereignisse dieser einen Nacht gewesen, die den Seewirt auf das andere Gleis gehievt hatten, auf dem er von da an sein Leben erfuhr. Jene Nacht, in der alleine seine Frau mitbekommen hatte, wie hoffnungslos er zu entgleisen und sich und ihr zu entgleiten drohte. Ob auch eines der Kinder unbewusst zu einem stillen Zeugen geworden war? Es spielt für den Verlauf dieser Geschichte keine Rolle, denn sie ist erfunden, und alles, was an ihr wahrhaftig klingen mag, ist demnach unvermeidbar."

    "Eines der Kinder", auf das hier angespielt wird, ist Pankraz' Sohn Semi, der im Internat erzogen und dort zum Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Pater wird. Dies ist der dunkelste Strang der Erzählung, der natürlich Aktualität gewinnt durch die in jüngerer Zeit zahlreich aufgedeckten Missbrauchsfälle in Internaten und der hier mit Fingerspitzengefühl und Diskretion, aber ohne Beschönigung eingefädelt wird. Es schließt sich noch ein Krimimotiv an: Der Pater wird seinerseits zum Opfer eines grausigen Ritualmords. Semi ist die Figur im Roman, die von den biografischen Daten her dem Autor am nächsten steht; es ist daher verständlich, dass Bierbichler sich gegen eine autobiografische Lesart verwahrt und zum Beispiel auch die Ich-Form vermeidet. Gleichwohl stellt sich dem Leser eine Frage, die ein strukturelles Problem dieses Romans berührt: Wer erzählt eigentlich? Ein einziges Mal – nicht konsequent – ist von dem "Chronisten" die Rede; dieser taucht sonst nicht auf. Das wäre zu verschmerzen, gäbe es nicht Passagen, bei denen man sich fragt, wer denn in ihnen der Träger der Ironie ist, zum Beispiel hier im letzten Drittel des Buchs:

    "Das Land war in eine innere Unruhe geraten. Bestehende Werte wurden in Zweifel gezogen. (…) An den Universitäten gründeten sich kommunistische Zirkel, die den Keim der Aufsässigkeit, des Aufbegehrens und des sich nicht mehr fügen Wollens in sich trugen, und Gedanken kamen zur Sprache, die wie eine Irrlehre durchs Land geisterten. (…) Langhaarige Teufel in Menschengestalt, die in schamlosen Verhältnissen miteinander lebten und Nachkommen zeugten, machten sich lustig über alles, was Ordnung und Gesetz und für deren Kontrolle zuständig war. Der Staat schien eine Lachnummer geworden zu sein. So jedenfalls stellte es sich aus der Ferne dar."

    Nun, offenbar ist es der die Welt nicht mehr verstehende alte Seewirt, dessen Blick auf den Wandel der Zeiten hier karikiert wird – denn dass es sich um eine Karikatur und nicht etwa um eine ernstgemeinte Gegenwartsbeschreibung handelt, dürfte außer Frage stehen. Da jedoch der "Chronist" (oder der allwissende Erzähler) anonym bleibt und sozial nicht zu verorten ist, kommt der Verdacht auf, dass es sich bei dem heimlichen Sprecher dieser Passage eben um Semi handelt, den jungen Sohn des Wirts. Der Lebendigkeit des Romans wäre es zuträglicher gewesen, hätte Bierbichler diesen Blickwinkel explizit gemacht, statt sich hinter der scheinbaren Neutralität eines Chronisten zu verschanzen. Denn diese Entscheidung gibt dem Buch etwas Wohltönendes, Wohltemperiertes – und das passt nicht ganz zu einem so eigensinnigen und streitbaren Temperament, wie der Josef Bierbichler eines ist.

    Josef Bierbichler: Mittelreich. Roman. Suhrkamp, 391 S., 24,90 Euro