Ein Viertel im Norden Jakartas, Gänse und Enten laufen zwischen Kleinkindern und Mopeds umher, Wasser steht in ein paar Pfützen auf der Straße, und wer schaut, wo die Flüssigkeit herkommt, stößt schnell auf eine dicke Wand, an der Rinnsale herablaufen. Die Mauer hat verschiedene Schichten in verschiedenen Grautönen, sie leckt – und ist ziemlich aussagekräftig, findet Victor Coenen:
"Sie ist auf der alten Seemauer errichtet, hier unten sieht man die Höhe von 2007. Diese Höhe war von 2012, dann kam eine neue Schicht 2014 und jetzt die große Erhöhung von 2017. Es ist eine ganze Schichtung von Seemauern.
Wie Archäologie, aber normalerweise sieht man tausende von Jahren in solchen Schichten, hier ist es nur ein Jahrzehnt. Und die Wand leckt, denn die Grundmauer ist nicht besonders gut gebaut. Die steigenden Wasserhöhen bringen mehr Druck auf die Mauer, und darum gibt es überall diese undichten Stellen."
Jakarta, die Hauptstadt Indonesiens, sinkt. Jahr für Jahr, in manchen Vierteln ist es ein Viertelmeter, in anderen sind es zehn Zentimeter, und viele Bereiche, wie Muara Baru hier an der Schutzmauer, liegen schon drei bis vier Meter unter dem Meeresspiegel. Wenn die Flut hoch ist, schauen die Schiffe, die auf der anderen Seite ankern, über die Mauer; wenn die großen Pumpen nicht funktionieren, steht das Viertel unter Wasser – die Anwohner sind es gewohnt:
"Ja, während der Regenzeit gibt es Überschwemmungen, besonders wenn die Pumpen ausfallen", sagt der Fischhändler Suleiman. Und die Kioskbetreiberin Susi ergänzt:
"Es hängt wirklich von der Pumpe ab. Als ich ein Kind war, hat die Pumpe oft nicht funktioniert, dann gab es immer Überschwemmungen in der Regenzeit. Dass Jakarta versinkt – ach, das fällt mir gar nicht so auf. Ist doch normal. Soweit denke ich gar nicht."
Gutes und schlechtes Wasser
Diese Haltung der Bewohner Jakartas bewundert Victor Coenen. Er ist der Projektleiter der niederländischen Bautechnik- und Beraterfirma Witteveen en Bos, hier in Jakarta zuständig für das Vorhaben mit dem grandiosen Namen "Nationaler Hauptstadt- und integrierter Küsten-Entwicklungs-Masterplan". Damit soll Jakarta vor dem Versinken bewahrt werden. Dabei stehen die Retter vor einem absurd scheinenden Problem: Die Mega-City mit zehn Millionen Einwohnern versinkt, weil der Stadt das richtige Wasser fehlt. Und weil anderes Wasser nicht ablaufen kann. Es gibt hier also gutes Wasser und schlechtes Wasser, illegales Wasser und teures Wasser.
Um das zu erklären, geht Victor Coenen ein paar Schritte zurück, zeitlich und geographisch, von der Schutzmauer des Viertels zu den alten Schleusentoren, etwa 150 Meter südlich davon:
"Wir sind hier an dem alten Auslass von Jakarta, der wurde zu Zeiten der niederländischen Kolonie gebaut, als die Stadt noch weit über den Meeresspiegel lag – damals konnte das Wasser aus der Stadt noch ungehindert ins Meer fließen. Aber dann begann die Stadt zu sinken, und jetzt müssten die Flüsse und Kanäle bergauf fließen, um ins Meer zu gelangen. Also müssen wir es heraus pumpen."
Radikale Veränderung einer Stadt
Eine riesige blau gelb gestrichene Pumpstation arbeitet hier wie auch an vielen anderen Stellen im Norden Jakartas, andernfalls liefen die Reservoire und Kanäle über.
"Diese große Pumpstation da vorne ist schon dreimal vergrößert worden, denn mehr und mehr Wasser muss hinausgepumpt werden, weil die Stadt weiter sinkt und mehr Wasser hineinfließt. Das ist also eine radikale Veränderung Jakartas von einer alten Stadt hoch überm Meeresspiegel zu einen Polder-Stadt wie in den Niederlanden."
Dazu kommt das Hauptproblem: Dreiviertel der Einwohner Jakartas haben keinen Wasseranschluss, sie sind entweder auf Tankwagen angewiesen oder bohren illegal Brunnen zum Grundwasser.
"Das sieht man an den Zisternen auf den Dächern. Hier in diesen Bereichen können sie das Grundwasser aber nicht nutzen, weil es schon versalzen ist, das Meerwasser ist eingedrungen."
Ein Teufelskreis
Je mehr Grundwasser abgepumpt wird, desto stärker sinkt die Stadt, denn der Boden ist sumpfig, und wenn ihm das Wasser entzogen wird, fehlt Stabilität, es kommt zur Bodensenkung. Zudem drückt das schiere Gewicht der Gebäude auf den weichen Untergrund.
"Wir haben noch ein Problem", erklärt Elisa Sutanudjaja vom Rujak Center für urbane Studien in Jakarta.
"Unsere Wasserinfrastruktur ist nicht gut, es gibt viele Lecks, 40 Prozent des Wassers aus den Leitungen geht verloren. Das liegt an der Privatisierung der Wasserversorgung. Diese Lecks interessieren niemanden – wenn man die reparieren würde, könnte man schon viel mehr Menschen in Nord-Jakarta und anderen Bereichen mit Wasser versorgen."
Das Wasser macht keine Unterschiede zwischen Arm und Reich
Weil das aber nicht der Fall ist, zapfen die Bewohner weiter illegal das Grundwasser an und der Boden sackt weiter ab. Alles sinkt, und zwar exklusive reiche Viertel, Industriegebiete und Lagerhäuser genauso wie Slums, die immer wieder überall auftauchen, auch dort, wo sie gerade geräumt wurden. Die Ärmsten können sich keine Mieten leisten, seien sie noch so gering, also errichten sie ihre Behausungen dort, wo es nichts kostet: An Wasser-Reservoirs, an stinkenden stockenden Flüssen und Kanälen, im Wasser auf Stelzen gebaut; und so blockieren Bauten, Schmutz und Abfall ein Abfließen des Wassers in den Entwässerungskanälen noch mehr.
"Jakarta vor dem Wasser zu schützen – das ist technisch betrachtet gar nicht so schwer. Aber die sozialen Konsequenzen sind es: Wenn du diese Menschen umsiedeln willst in Sozialbauten, dann müssten sie etwa 13 Euro Miete zahlen – das ist eine lächerliche Summe für uns, aber unfassbar viel für sie Hochwasserschutz in Jakarta ist also eher ein sozio-ökonomisches als ein technisches Problem. Der Teil ist einfach."
Auch in Muara Baru gibt ein solches Armen-Viertel über dem Wasser – aus Sperrholzplatten und Abfallholz, Plastikplanen und Transparenten zusammengezimmert. Dunkle Gänge führen von Hütte zu Hütte, ein kleiner Kiosk verkauft Tee und Süßigkeiten; Agus und hunderte andere Fischer leben hier mit ihren Familien, noch:
"Was die Zukunft dieser Gegend betrifft: Das wird neu gewonnenes Land werden, wenn die Lagune zugeschüttet wird. Aber ich weiß nicht, ob bald oder erst in zehn Jahren. Ich weiß auch nicht, ob wir Dorfbewohner umgesiedelt werden in Sozialbauten oder ganz woanders hin."
Sie gehen, wohin die Regierung sie schickt, sagt Agus, aber sie müsse sich um sie kümmern. Er erzählt, dass sie früher mehr Fluten erlebten, das sei mit den immer höheren Schutzmauern besser geworden. Die neuste sei auch weiter vor der Küste gelegen und habe eine kleine Lagune eingeschlossen. Allerdings sei der Nachteil, dass ihre Schiffe jetzt auf der anderen Seite der Mauer lägen und sie deshalb erstmal dorthin laufen müssten.
Es gibt nicht genügend Wasser für alle
Während er erzählt, hat das kleine Mädchen neben ihm ein süßes Getränk aus einem Plastiktütchen getrunken und lässt die Packung dann einfach unter sich ins Wasser fallen. Der Geruch nach Müll und Kloake ist betäubend– woher bekommen die Bewohner sauberes Wasser?
Susi zum Beispiel kauft ihr Wasser an einem Tankwagen.
"Das Problem ist, dass nicht nur die Anwohner Wasser benötigen, sondern auch die Industrie. Erklärt Victor Coenen. Und zwar viel davon. Bis jetzt gibt es nicht genügend Wasser für alle. Also wollen wir dieses Schwarzwasser, das wir hier sehen, wieder aufbereiten, reinigen; dann können wir die Industrie davon überzeugen, von Grundwasser auf Oberflächenwasser umzustellen."
Wasserversorgung verbessern, existierende Schutzmauern sichern, so ist die Marschrichtung. Ob das genügt, um Jakarta zu bewahren? Zusätzlich setzt die Stadt auf die Zusammenarbeit mit einer japanischen Agentur, Jica, erzählt die Urbanistin Elisa Sutanudjaja.
"Sie wollen die Bodensenkung auch stoppen, indem sie den Menschen einen bewussteren Umgang mit Wasser beibringen, sie wollen es verbieten, Strafen verhängen und strengere Kontrollen einführen. Das soll im kommenden Jahr beginnen, wir werden also sehen, wie das funktioniert. Endlich gehen sie dieses Problem an."
Ein Haus wie eine Hobbit-Behausung
Manche Häuser in den am meisten sinkenden Vierteln sehen aus wie Hobbit-Behausungen, das Dach oder der Balkon sind auf Kopfhöhe angekommen, die Bewohner wie Suleiman können nur mit gebeugtem Kopf in Räume gehen, deren Decke sie vor einiger Zeit noch nicht mit den Händen erreichten. Eine Moschee ist innerhalb von fünf Jahren um einen Meter abgesunken. Der Bauunternehmer Pak Suandi lebt seit 40 Jahren im Norden Jakartas.
"Als ich hierher gezogen bin, 1978, da war die Schutzmauer nur 40 Zentimeter hoch; seitdem haben sie sie dreimal erhöht; das Wasser fließt ab und an rüber, wenn die Flut sehr hoch ist. Die letzte Erhöhung war sogar um einen halben Meter."
Profitieren vom Sinken der Stadt
Suandi selbst ist durch das Sinken der Stadt gut im Geschäft – denn oft genug wird sein Unternehmen beauftragt, wenn Kanäle ausgebaggert oder Land trockengelegt werden sollen. Er deutet auf die Bagger und Lastwagen, die hinter der alten Mauer stehen.
"Hier ist meine Firma. Wenn das Wasser zu hoch steigt und rüberfließt, dann machen wir die Mauer bei uns einfach ein bisschen höher, dann haben wir eine Zeitlang Ruhe."
Nicht weit von hier ist ein sechseckiges Gebäude den Fluten preisgegeben, der Gebetsraum einer Fabrik. Die Java-See umgibt ihn und schwappt an die neue Hochwasserschutzmauer, die dahinter errichtet wurde.
Auf der schmalen Mauerkrone fährt ein Moped entlang. So etwas könnte es in naher Zukunft, vielleicht in zehn, 20 Jahren in größerer Dimension geben: eine große befahrbare Schutzmauer, ähnlich wie der Abschlussdeich am Ijsselmeer in Holland. Weit draußen vor Jakarta gelegen würde sie die Wellen brechen und am besten als Verbindung zwischen dem internationalen Flughafen und dem Frachthafen dienen.
Als Maut-Straße angelegt, würden die Einnahmen im Idealfall die Maßnahmen gegen das Versinken der Stadt finanzieren. Aber das ist noch lange hin und nur die letzte Möglichkeit, wenn alle anderen Rettungsanker versagen. Bis dahin wird Jakarta wahrscheinlich seinen Hauptstadt-Status verlieren, weil bis 2024 eine neue Hauptstadt auf der Insel Borneo erbaut werden soll. So kündigte es Präsident Joko Widodo, genannt Jokowi, an:
"Wir haben viele Untersuchungen studiert und in den vergangenen drei Jahren unsere Studien intensiviert. Demnach ist der ideale Ort für die neue Hauptstadt in Ost-Kalimantan."
Es ist ein undefiniert großer Bereich in einer noch nicht allzu sehr erschlossenen Provinz im Osten von Borneo. Kalimantan heißt der indonesische Teil der größten Insel Asiens; die anderen Teile gehören zu Malaysia und Brunei. Ost-Kalimantan ist längst nicht so glamourös wie Jakarta – aber es ist sicherer als viele andere Bereiche Indonesiens, denn das hat ein Problem geologischer Natur: Das Land erstreckt sich über 5.000 Kilometer von Ost nach West und zwar entlang des Pazifischen Feuerrings. Diese Zone ist tektonisch besonders aktiv, hier stoßen mehrere Platten aufeinander, die geophysikalischen Kräfte rufen viele Erdbeben und Vulkanausbrüche hervor und in der Folge Tsunamis und Erdrutsche. Vergangene Weihnachten vor Java, vor einem Jahr auf Sulawesi, oder im vergangenen Sommer auf Lombok und Bali starben insgesamt Tausende Menschen bei solchen Katastrophen.
Auch Jakarta wurde Anfang August erst durch ein Beben erschüttert. Die Insel Borneo liegt außerhalb des Feuerrings, daher betont Präsident Jokowi bei seiner Hauptstadtentscheidung:
"Der neue Ort hat ein minimales Risiko von Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben, Tsunamis, Waldbränden, Vulkanausbrüchen und Erdrutschen. Zum zweiten ist der Ort strategisch gewählt, da er in der Mitte Indonesiens liegt."
Neue Hauptstadt als Zeichen für Fortschritt und Gerechtigkeit
Der Vorwurf, dass Jakarta die Aufmerksamkeit der Regierung zu sehr auf sich ziehe, ist alt. Im Großraum leben 30 Millionen Menschen, auf ganz Java, der Insel, auf der Jakarta liegt, lebt mehr als die Hälfte aller Indonesier. Der Rest fühlt sich oft vernachlässigt von der Regierung. Daher das Zeichen des Umzugs – den schon der erste Präsident Indonesiens, Sukarno, vorgeschlagen hatte. Aber Jokowi möchte jetzt derjenige sein, dem er gelingt. Dafür bat er um Allahs Segen im Parlament.
"Eine Hauptstadt ist nicht nur ein Symbol nationaler Identität, sondern sie repräsentiert auch den Fortschritt einer Nation. Dieser Schritt verwirklicht wirtschaftliche Gleichheit und Gerechtigkeit."
Das glaubt die Großstadt-Expertin Elisa Sutanudjaja überhaupt nicht. Zum einen sollte Indonesien mit seiner 70-jährigen Geschichte doch schon alt genug sein, um nicht noch Symbole zu benötigen. Zum anderen meint sie:
"Die Hauptstadt zu verlegen wird die Ungleichheit bestimmt nicht beseitigen; und die Probleme Jakartas werden dadurch auch nicht besser. Die Stadt ist einfach schon zu groß, der Hauptstadtumzug wird keinerlei Auswirkung haben."
"Hier ist mein Leben"
Jakarta war einfach nie ein guter Ort, um hier zu leben und eine Stadt zu bauen, meint Deichplaner Victor Coenen, von daher sei es nachvollziehbar, den Regierungssitz zu verlagern.
Jakarta liege auf niedrigem, heißem, schwer bebaubarem Sumpfland, nicht unbedingt der beste Ort, um eine Stadt zu errichten – aber Häfen ziehen nun einmal Geschäfte und Geschäftigkeit an. Und darum werden auch weiterhin viele Menschen nach Jakarta kommen und ihr Glück suchen. Anderthalb Millionen Menschen sollen mit der Regierung nach Borneo umziehen. Doch die werden schnell ersetzt. Und die meisten der mehr als zehn Millionen Anwohner bleiben hier, wie die Fischverkäuferin Ibu Patona aus einem kleinen Viertel am Wasser:
"Hier ist mein Leben, ich verkaufe hier meine Waren, ich kann nicht umziehen, weil ich fühle, dass es besser ist zu bleiben. Aber wenn Jokowi umziehen will, dann kann er das so entscheiden."
Die Vision eines fortgeschrittenen und fortschrittlichen Indonesiens sieht Jokowi in den Umzugsplänen. Eine neue smarte grüne Hauptstadt soll entstehen, Baubeginn 2021, drei Jahre später sollen die ersten Regierungsbeamten umziehen. Kalimantan ist zu großen Teilen von Dschungel bedeckt, es ist Heimat von mehreren gefährdeten Tierarten, Orang-Utan, Malaienbär oder Langnasenaffe nur einige von ihnen. Umweltschützer fürchten, eine neue Stadt mitten in der Provinz könnte sie noch mehr gefährden. Denn auch hier würden viele Menschen angezogen von einem neuen Zentrum. Der Bauunternehmer Suandi meint:
"Der Präsident kann entscheiden, was er will, denn er ist ein guter Präsident, sonst hätten die Menschen ihn doch nicht gewählt. Er kann mit der Regierung überall hinziehen – solange sich noch jemand um Jakarta kümmert. Und zwar jemand, der weiß, was er tut."
Der Kampf gegen das Versinken geht weiter
Der Rettungsplan für Jakarta wird weiterverfolgt, denn das Geschäfts- und Finanzzentrum des Landes wird hier bleiben. Victor Coenen, die Stadt Jakarta und das Ministerium für Hoch- und Tiefbau kämpfen darum, alle Bewohner mit sauberem Wasser zu versorgen. Und sie so davon abzuhalten, illegale Brunnen zu bohren. Suandi sieht das Ganze entspannt: Sinkt die Stadt weiter, baut er die Mauer vor seinem Unternehmen einfach noch ein Stückchen höher.