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Jakob Michael Reinhold Lenz
Geistige Wirrnis und körperliche Versehrtheit

Bis heute ist der Sturm-und-Drang-Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz ein verführerischer literarischer Stoff geblieben, die Zeit konnte der Aktualität von Dichtung und Person nichts anhaben. Auch Oswald Egger, Jahrgang 1963, kreist mit seinem bei Suhrkamp erschienenen Buch "Euer Lenz" in Textur und Zeichnung um den Dichter.

Von Cornelia Jentzsch |
    Altes Buch mit vergilbten Seiten und angestoßenen Kanten am Buchdeckel, aufgenommen am 2.4.2012. Foto: Jens Kalaene dpa/lbn
    Das Leben von Lenz diente vielen anderen als literarische oder filmische Vorlage (dpa / Jens Kalaene)
    "Den 20. Jänner ging Lenz durch Gebirg." Diese berühmte Zeile leitet Georg Büchners 1835 geschriebene Erzählung "Lenz" ein. Büchner hatte zwei Dramen von Jakob Michael Reinhold Lenz gelesen und daraufhin, erschüttert von der gedanklichen wie literarischen Kühnheit des ihm bis dahin unbekannten Dichters, seine Erzählung geschrieben. Lenz, ein halbes Jahrhundert vor Büchner geboren, war da bereits tot und von der Öffentlichkeit weitestgehend vergessen.
    In dieser Erzählung beschreibt Büchner eine kurze Passage aus Lenzens Leben, genauer dessen Aufenthalt im Elsass, wohin Lenz Anfang 1778 während einer schweren Krise reist. Er zieht durchs Gebirg in sozial, psychisch und physisch aufgelöstem Zustand - von der Gesellschaft geächtet, ohne Verdienstmöglichkeit oder gar Renommee. Er läuft mit überwachen und überanstrengten Sinnen, in "entsetzlichen Tönen" redend und voller Furcht vor sich selbst.
    Im Elsass findet Lenz Zuflucht im Hause des sozialreformistischen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin. Zu dieser Zeit zeigt sich bei Lenz bereits eine beginnende Schizophrenie, die sich in den folgenden Jahren noch verschlimmern wird. Doch ähnlich wie später bei Hölderlin überlagern sich auch bei Lenz Wahnsinn und geistige Hellsicht, gesellschaftliche Nötigung und innere Not. Der einst eng mit ihm befreundete Goethe hatte Lenz zwei Jahre zuvor schroff aus Weimar gewiesen und langjährige Brieffreunde wie Herder lehnten ihn inzwischen ab.
    Für Lenz keine unbekannten Erfahrungen. Denn selbst sein Vater verdammte das poetische Schaffen des Sohnes, sah in ihm wohl schon immer einen Kranken. Jakob Michael Reinhold Lenz galt als nicht gesellschaftsfähig. Offenbar aber diente seine Krankheit auch manchem Zeitgenossen als willkommener Grund, um sich guten Gewissens von Lenzens radikal freigeistigem und kompromisslosem Denken distanzieren zu können. Immer sichtbarer verzweifelte Lenz am Widerspruch zwischen dem Ideal eines selbstbestimmten menschlichen Daseins und gesellschaftlichen Zwängen, die genau das verhinderten. In diese Zwangsjacke verzurrt, ohne Raum zum Handeln, gerieten dem damals 27-jährigen Lenz allmählich auch im Alltag Realität und Irr-Realität durcheinander, wie es Büchner anhand der Aufzeichnungen Oberlins behutsam beschrieb.
    Realität und Irr-Realität geraten durcheinander
    Sein Lenz sagt mit einem "Ausdruck unendlichen Leidens": "Aber ich, wäre ich allmächtig, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten."
    Büchner selbst kannte diese Hölle, am Abgrund stehend und von einer wahnsinnigen Lust getrieben, immer wieder hinunterzusehen und "sich diese Qual zu wiederholen".
    Der Leser seiner Erzählung wird in diesen Urgrund menschlicher Verzweiflung gleichsam mit hinabgerissen.
    Bis heute ist Jakob Michael Reinhold Lenz darum ein verführerischer literarischer Stoff geblieben, die Maschine Zeit konnte der Aktualität von Dichtung und Person nichts anhaben.
    Auch Oswald Egger, Jahrgang 1963, kreist mit seinem bei Suhrkamp erschienenen Buch "Euer Lenz" in Textur und Zeichnung um ebenjenen. In gegenläufigen Textpassagen, Fotografien, Skizzen und Kommentaren versucht der Autor nicht nur vom Dichter zu erzählen, sondern Egger gibt selbst den Lenz, "Euer Lenz".
    In neun Kapiteln konzentriert sich Egger auf die geistige Wirrnis und körperliche Versehrtheit des hier nicht nur durchs Gebirge, sondern durch die inneren dunklen Tropfsteinhöhlen seines Gehirns, vielleicht auch des Weltgehirns, ziehenden Lenz: stolpernd, staunend, kopfüber, zerstückelt oder vervielfacht in Linz und Lunz - Begriffe, die Lenz selbst prägte.
    Oswald Egger ist vielfach ausgezeichnet worden für seine besondere literarische Sprache. Seine phantasievollen Wortneuschöpfungen sind schier unerschöpflich - genährt aus vielfältigen Quellen wie der Flora und Fauna Südtirols, Eggers Herkunfstlandschaft; sein plastisches Vorstellungsvermögen und seine sprachliche Biegsamkeit beeindruckend, seine Sprachlust ungebremst produktiv. So ist auch der Ansatz für Eggers "Lenz" hochspannend, in der Verlagsankündigung heisst es:
    "Die Steine zu erweichen, sie zum Sprechen zu bringen – das ist die wohl ältere Umschreibung für den Hang, durch und durchs Gebirg zu dringen, der Berge Grenzen und Erzgänge zu verschränken (Grund und Grat); und Stollen, Drusen, Grotten (die Schlieren und Dunstlinien darin) zu untertunneln. Oswald Eggers Instrument für dieses Genre der Geländesondierung in areale Areale ist seine Sprache, die Erdsprache, Tirade, anerkannt durch ein selbstsprechendes Erdrecht, und, im Tretrad der Rede, diese kopflos durchmusternd, ihr ununterredendes Gespräch."
    Trotz dieses gewaltigen Programms überzeugt Eggers neues Buch diesmal nicht. Vor allem, weil sich der Autor in Sprachgebirge oder besser: im Lust- und Triebgarten der Sprache zu oft verliert. Dabei kommt ihm fatalerweise der authentische Jakob Michael Reinhold Lenz abhanden.
    " ... mein Rumpf verpampft darin ...
    das ganze Augenlid zerschmilzt wie Knetwachs ...
    zig Zünsler und Schwärmer, deren Flügel Sicheln und wie Pieksfächerchen wirrl'ten ...
    Linz und Lunz wollen Gesichter schneiden, Faxen machen, wobei einer dem anderen wie von Wachs gemalt vorkam ...
    ich musste einen Purzelbaum gemacht haben ...
    vielleicht, weil mein Kopf struppig ist, vielleicht ...
    ich vollführte Krusedulles mit dem Pulsschlag unzusammen, eine jähe, regellos trollarisache Unfinte mit Scheinbewegung ...
    wie wenn jemand einem durch ein Sprachrohr ins Ohr spricht ...
    ich hüpfe, wie ein Frosch in seinem Pfuhl hüpft, ein bisschen ... "
    Eggers literarisches Können erstrahlt dieses Mal nicht
    Es sind sicherlich nur einzelne Passagen des Buches, aber leider kann man ihre Signifikanz nicht überlesen. Die Sprache verharmlost hier nicht nur die Person Lenz, sondern auch die Welt des durchs Gebirg Ziehenden. Was nur ist in den sprachgewandten Oswald Egger gefahren?
    Besonders ärgerlich liest sich jenes Kapitel, in dem es um das tragische Ende des Sturm-und-Drang-Dichters geht. Zum Hintergrund: Lenz, von seinem jüngeren Bruder nach Lettland, also nach Hause zurückgeholt, findet weder dort noch in Russland innere Ruhe. In Moskau, wo er schließlich als Hauslehrer, Reformer und Übersetzer im Kreis russischer Freimaurer und Schriftsteller lebt, verschlimmert sich sein Zustand dramatisch. An einem frühen Morgen des Jahres 1792 findet man Lenz tot auf einer Straße. Aufgeklärt wurden die Umstände seines Todes nie. Sein Grab ist unbekannt geblieben.
    Bei Egger erfährt man von diesem Zeit- und Gesellschaftsdrama so gut wie nichts, bei ihm liest man stattdessen in Groschenheft-Manier von einer "hackfleischartig zerschnittenen Kopfschwarte", die eine "blutsaftige Axt" hinterlassen hat.
    "Man schnitt mir den Kopf ab, riss meinen Körper in zig Stücke und legte sie in den Kessel, meine fasslichen Reste rösteten und sotten drei zeitraumlose Jahre. Danach nahm ich den Topf, in dem mein Knochen sott, vom Herd und schwappte die Suppe ganz in eine andere Pfanne. Man schälte meinen Schädel tief und triefend in den Tiegel, mein Bauch baumelt am Baum und zerplatzt als Schwalbe Wampe."
    Der Autor weidet seine Sprache am geschundenen Lenz-Körper, er malträtiert ihn Seite um Seite bis zur Peinlichkeit. Spätestens hier legt man enttäuscht das Buch aus der Hand.
    Das selbander – ein von Oswald Egger gern verwendeter alter Begriff für das "einander" zwischen Mensch und Mensch - oder Mensch und Sprache - wird in diesem neuen Buch Eggers fatalerweise aufgehoben in einem kritiklosen Selbselbst der Sprache. Tragisch nicht nur ein weiteres Mal für Jakob Michael Reinhold Lenz, sondern auch schade um Eggers eigentlich brillantes literarisches Können.
    Oswald Egger: "Euer Lenz"
    Suhrkamp Verlag, 240 Seiten, 48 Euro.