Es ist nicht möglich, "Beale Street Blues" zu lesen und dabei trockene Augen zu behalten. Auch wenn der Titel auf die berühmte Beale Street in Memphis verweist - die Heimat des Blues - spielt die Geschichte in New York. Ein Blues ist sie trotzdem.
"New York ist garantiert die hässlichste und dreckigste Stadt der Welt. Mit den hässlichsten Häusern und den ekligsten Menschen. Und den schlimmsten Bullen. Wenn es einen schlimmeren Ort gibt, dann liegt der so nah an der Hölle, dass man riechen kann, wie die Menschen schmoren. Und ehrlich gesagt: Genau so riecht New York im Sommer."
Die Ich-Erzählerin mit dieser leidenschaftlichen Abneigung für ihre Heimatstadt ist Clementine Rivers, genannt Tish, 19 und schwanger und auf dem Weg ins Gefängnis, um ihren 22-jährigen Freund Alonzo Hunt, genannt Fonny, zu besuchen. Fonny wäre längst ihr Mann, wenn er nicht von einem rassistischen Polizisten aufgrund einer falschen Anklage verhaftet worden wäre.
"Ich wünsche echt niemandem, dass er den, den er liebt, durch eine Scheibe angucken muss."
Ein Roman über die Kraft der Liebe
Bei aller Brutalität ist "Beale Street Blues" in erster Linie ein Roman über die Kraft der Liebe, die Liebe zwischen Tish und Fonny, aber auch die Liebe von Tishs Familie zu ihrer schwangeren Tochter und zum Vater des ungeborenen Enkelkindes. Liebe ist der Schlüssel zu Baldwins Literatur und Politik, allerdings Liebe als revolutionäre Handlung, Liebe von Menschen zu Menschen, denen gesagt wird, dass sie weniger Liebe wert, dass sie weniger wert sind.
"Die Kinder kriegen eingetrichtert, dass sie einen Dreck wert sind, und alles, was sie um sich herum sehen, ist der Beweis dafür. Sie kämpfen und kämpfen, aber sterben wie die Fliegen und begegnen sich dann auf dem Müllhaufen ihres Lebens, wie die Fliegen."
Als "Beale Street Blues" 1974 erschien, waren die meisten Weggefährten Baldwins bereits ermordet: Meadgar Evans, Malcolm X, Martin Luther King. In einem Interview zu dem Buch sagte er: Ich bin jetzt 49 Jahre alt und habe keine alten Freunde. Drei Jahre zuvor, 1971, hatte Baldwin einen offenen Brief an Angela Davis geschrieben, die ebenso wie Fonny unter falscher Anklage im Gefängnis saß - in ihrem Fall wegen eines bewaffneten Überfalls, bei dem sie erwiesenermaßen nicht anwesend war.
"Liebe Schwester, der amerikanische Triumpf, der gleichzeitig die größte Tragödie Amerikas ist, besteht darin, dass es schwarze Menschen dazu gebracht hat, sich selbst zu hassen. In meiner Kindheit haben sich Schwarze jedes Wochenende auf der Lennox Street die Köpfe eingeschlagen, und niemand hat ihnen oder mir erklärt, dass es Absicht war, dass wir uns gegenseitig umbringen, dass wir zusammengepfercht sind wie Tiere, damit wir uns selbst als Tiere betrachten."
Dass Tish und Fonny es schaffen, in einem Land zu sich und zueinander zu stehen, das ihnen jeden Tag sagt, dass schwarze Männer ihre Frauen sowieso verlassen, dass schwarze Haare und schwarze Körper hässlich sind, ist bereits eine Leistung. Dazu kommt, dass Fonny nicht nur Tish liebt, sondern auch seine Arbeit. Er will Bildhauer werden.
"Die Leidenschaft, die Fonny gerettet hat, hat ihn auch in Schwierigkeiten gebracht und ins Gefängnis. Er hat nämlich sich selbst gefunden, so richtig, innen drin: Und das hat man gemerkt. Er ist niemandes Nigger. Und das ist ein Verbrechen in diesem beschissenen freien Land. Von irgendwem muss man der Nigger sein. Wenn man niemandes Nigger ist, dann ist man ein böser Nigger."
Ein unglaublich aktuelles Buch
Es ist beinahe unglaublich, dass der Roman bereits 45 Jahre alt ist. Angesichts der ständigen Enthüllungen über strukturellen Rassismus in der Polizei und im amerikanischen Gefängnissystem ist es schwer, "Beale Street Blues" nicht als "Black Lives Matter Blues" zu lesen: Trayvon Martin, Eric Garner, Michael Brown, Rekia Boyd... Und Tish und ihre Familie setzen alles daran, dass der nächste Name auf der Liste nicht Fonny Hunt wird.
"Der Junge muss da raus. Fertig. Und wir müssen ihn rausholen. Fertig. Und das Wichtigste ist, Mann, dass wir nicht die Nerven verlieren. Diese Arschlöcher, diese Weißärsche, diese Fotzenfressen haben schon lange genug unsere Kinder umgebracht.«
Der Roman, der fließend zwischen schwarzem Slang und der Sprache des Alten Testaments wechselt, wurde wunderbar behutsam von Miriam Mandelkow ins Deutsche übertragen. Angefangen bei seinem Titel, der im Original "If Beale Street Could Talk" lautet, nach der bekanntesten Zeile des W. C. Handy Songs "Beale Streat Blues" von 1916. In Amerika denkt jeder - oder zumindest jeder Schwarze - dabei an Ella Fitzgerald, die in einem Club den "Beale Street Blues" singt, während Nat King Cole sehnsüchtig von draußen hineinschaut. Ein deutsches Lesepublikum hat diesen Bezugsramen nicht, weshalb der Neuübersetzung eine Vorbemerkung von James Baldwin vorangestellt ist:
"Jeder in Amerika geborene Schwarze ist in der Beale Street geboren, ob in Jackson, Mississippi, oder in Harlem in New York: Die Beale Street ist unser Erbe."
Bei aller Zeitlosigkeit gibt es dann doch Elemente, die den Roman in den 70er Jahren verorten. So rauchen alle ständig in Anwesenheit der schwangeren Tish. Ihre Mutter und Schwester geben ihr ständig Whiskey und Brandy, weil das "gut für das Baby" ist. Und dann ist da noch die Anklage, die selbstverständlich als falsch identifiziert wird: Vergewaltigung. Heute wäre es schwierig, einen Roman zu schreiben, dessen Opfer offensichtlich lügt. Im Kontext von Vergewaltigungen die Möglichkeit einer Falschbeschuldigung zu erwägen ist ein Tabuthema, während Anfang der 70er Jahre noch die Polizei davon ausging, dass die meisten Vergewaltigungs-Anzeigen von hysterischen Exfreundinnen gemacht würden.
Leben auf derselben Müllhalde
Tatsächlich impliziert Baldwin nie, das Opfer - eine zutiefst traumatisierte Puertorikanerin - würde die Unwahrheit sagen. Bei einer polizeilichen Gegenüberstellung identifiziert sie Fonny zwar. Allerdings ist er der einzige Schwarze in dem Line-up, also glaubt sie unter dem Druck des weißen Officer Bell, der eine offene Rechnung mit Fonny hat, dass er der Täter sein muss. In einer brillanten Spiegelung schickt Baldwin Tishs Mutter später nach Puerto Rico, um Fonnys Anklägerin zu finden, nur um von der noch heftigeren Armut in den Favelas erschüttert zu sein.
"Ich kann kein Spanisch, und sie können kein Englisch. Aber wir hocken auf der gleichen Müllhalde. Aus dem gleichen Grund. Wer auch immer Amerika entdeckt hat, der hat es verdient, in Ketten nach Hause geschleift zu werden und da zu sterben."
Unglaublicherweise ist "Beale Street Blues" ein optimistischer Roman. Für jeden Officer Bell mit seinem offenen Rassismus und Sadismus gibt es mindestens zwei Weiße, die persönliche Nachteile in Kauf nehmen, um Tish und Fonny zu unterstützen. Diese Weißen werden menschlich, indem sie die schwarzen Charaktere des Buchs menschlich behandeln. Solidarität ist nicht nur möglich, sie ist lebenswichtig. Deswegen wird Fonny aus seiner Prüfung gestärkt hervorgehen. Sein Freund Daniel, den Officer Bell ebenfalls verhaftet, um zu verhindern, dass er Fonny ein Alibi geben kann, wird - höchstwahrscheinlich - daran zerbrechen, weil er kein Sicherheitsnetz aus Menschen hat, die alle legalen und illegalen Mittel einsetzen, um ihn zu befreien.
"Wenn wir was erreichen wollen, schaffen wir das nur, wenn wir uns entschließen, es zu tun. Viele von unseren Lieben, viele von unseren Männern sind im Gefängnis gestorben, ja: aber nicht alle."
"Beale Street Blues" bricht einem das Herz, wieder und wieder, doch er setzt es auch immer wieder neu zusammen, stärker und widerstandskräftiger.
James Baldwin: "Beale Street Blues"
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow.
Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 224 Seiten, 20 Euro.
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow.
Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 224 Seiten, 20 Euro.