Die Angst vor dem Neuen ließ sich immer schon zu einem Wahn hochstilisieren, der sich in nächster Zeit als notorische Begleiterscheinung der Finanzkrise gewiss neu ausbreiten wird.
Im Europäischen Parlament halten die Europa-Feinde Einzug und wir könnten bald vor der paradoxen Situation stehen, dass eines der wichtigsten Einigungsmerkmale der Europäer darin besteht, dass sie Europa hassen. Aber selbst wenn die Entwicklung so weitergeht und das Europäische Parlament zu einer Art Internationale der Nationalisten wird, wäre das immer noch himmelweit von jenen historischen Aktivitäten entfernt, mit denen die Nationalisten des 20. Jahrhunderts ihre Träume zu verwirklichen pflegten.
Neuerdings ist allerorts ein seltsames Gezirpe vernehmbar, das die europäischen Politiker aufgeschreckt und zu hitzigen Beratungen zusammengeführt hat. Es ist das Gejammer jener Investmentgruppen, die seit dem April 2005 im populären Sprachgebrauch als Heuschrecken bezeichnet werden. Sie könnten eigentlich damit zufrieden sein, dass die Banken in Prag, Budapest und Bukarest mittlerweile vertraute westeuropäische Namen tragen. Sie könnten mit Genugtuung zurückblicken auf ein Jahrzehnt, in dem sie dem einfachen Sparbuchkunden eine Verzinsung von zwei bis drei Prozent, sich selbst aber eine Rendite von 15 bis 20 Prozent gegönnt haben. Anstatt Europa dankbar dafür zu sein, dass sie ein Jahrzehnt lang die Weiden ungeniert abgrasen durften, jammern nun auch diese Wanderheuschrecken und erwarten vom europäischen Steuerzahler nichts geringeres, als dass er das von ihnen ratze-putz kahlgefressene Land neu bepflanzt.
Und so bin ich schließlich bei der vierten Sorte von Jammerern angekommen, bei jenem Chor, dem ich selbst von Zeit zu Zeit meine Stimme leihe. Die sind es leid, dass sich die Organisation der gemeinsamen Warenwelt derart in den Vordergrund gedrängt hat, dass Europa heute vor allem den Bedürfnissen der Geschäftemacher gehorcht. Die sind es leid, dass seit dem 1. November 1993, seit dem Tag, an dem der EU-Vertrag in Kraft getreten ist, dieses Europa nicht als gemeinsames Projekt für alle europäischen Menschen verstanden wird, sondern den Mitgliedstaaten dazu dient, eigene wirtschaftliche Vorteile und politische Posten herauszuschlagen.
Bei diesem Gerangel um Macht, Geld und Einfluss hat sich ein beachtliches europäisches Haupt herausgebildet, das sich jedoch gerne bedeckt hält. Denn nicht erst seit der Ost-Erweiterung leidet der europäische Körper an einer schweren dysfunktionalen Störung, die sich darin äußert, dass die Glieder meinen, sie müssten das Haupt bekämpfen.
Und doch hat sich unter der Hand etwas Gewaltiges verändert, das uns nur nicht mehr auffällt, weil es schnell zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In den 60er-Jahren machte mein Vater mit uns Kindern einen Ausflug, um uns den Eisernen Vorhang zu zeigen. Wir mussten nicht weit fahren, nicht einmal 25 Kilometer, dann standen wir unweit von Gmünd auf einem Feldweg und blickten zu einem in der Ferne sichtbaren Wachturm. Da drüben, sagte er, ist eure Großmutter geboren. Mein Vater hielt sich einen Feldstecher vor die Augen und drehte am Rädchen. Der Tscheche schaut uns an, sagte er. Sicher ist er bewaffnet. Ich bekam es mit der Angst zu tun, stieg ins Auto ein und duckte mich.
Zwanzig Jahre später, Anfang der 80er-Jahre, fuhr ich mit dem Zug von Wien über Prag nach Berlin. Durch die Abteile strömten Heerscharen von Uniformierten, mit Fahndungsbüchern, Stempelkissen, Leitern, Spiegeln und Taschenlampen. Sie inspizierten nicht nur die Papiere der Reisenden, sondern auch alle Hohlräume des Zuges. Als sie abgezogen waren, ging ich in den Speisewagen. Der Kellner steckte den 50-Schilling-Schein, mit dem ich meinen Kaffee bezahlen wollte, in seine Hosentasche und brachte mir als Wechselgeld zwei Flaschen Bier und zwei Limonaden. Zu verhandeln gab es darüber nichts.
Während ich es mir bei einer Zigarette gemütlich sein ließ und mein umfangreiches Trinkprogramm in Angriff nahm, zogen draußen riesige Buchstaben vorbei, die auf Hausdächern und in Wiesen gepflanzt waren. In der CSSR verstand ich immer nur das Wort "socialistický". Nördlich von Bad Schandau konnte ich dann ganze Sätze verstehen: "Alles für das Wohl des Volkes und den Frieden". Mein Waggon machte dazu derartige Freudensprünge, dass der Kaffee alle Augenblicke aus der Tasse schwappte und der Deckel des Aschenbechers ein ums andere mal zuklappte.
Heute bin ich auf dieser Strecke, zwischen Wien und Leipzig, Woche für Woche unterwegs. Zwar ist die Eisenbahn nach Prag noch nicht ganz so schnell wie der legendäre Expresszug in der Monarchie es war, aber der Kaffee schwappt nur noch selten aus der Tasse und die Aschenbecher sind gleich ganz verschwunden. Wenn mir gerade danach ist, steige ich in Prag aus, um mit der Schriftstellerin Radka Denemarková einen Mokka zu trinken, oder ich treffe in Brünn, der Geburtsstadt meines Großvaters, Jirí kamen, oder ich komme in Olmütz im Café 87 mit einer slowakischen Studentin ins Gespräch, die auf eine sehr eloquente, aber zugleich seltsam aufgeregte Art auf mich einredet, bis ich herausfinde, dass sie ihr Deutsch nicht in der Schule, sondern beim jahrelangen Zuschauen von RTL2 gelernt hat.
Und wenn ich dann zur Abwechslung wieder einmal mit dem Auto unterwegs bin und es stellt sich bei einer Routinekontrolle heraus, dass ich meinen Personalausweis vergessen habe, kostet mich das lediglich eine Verwaltungsstrafe von 30 Euro. Aus meinem Führerschein, so erklärt mir der Beamte in langsam gesprochenem Deutsch, gehe leider nicht meine Staatsbürgerschaft hervor. Wie soll denn auch ein tschechischer Polizist an meinem Gesicht ablesen können, ob ich wirklich ein Europäer bin und nicht doch vielleicht ein Fremder?
Kurzbiografie:
Josef Haslinger, geboren 1955 in Zwettl, Niederösterreich. Er studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Germanistik in Wien. 1980 promovierte er über die "Ästhetik des Novalis" und erhielt den Theodor-Körner-Preis. Von 1976-92 war Haslinger Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Wespennest". Nach seiner Promotion arbeitete Haslinger als Wissenschaftler mit Lehraufträgen und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den Vereinigten Staaten. Sein erstes literarisches Werk, den Erzählband "Der Konviktskaktus", veröffentlichte Haslinger 1980. Über die Landesgrenzen hinweg bekannt wurde er als Autor von Essays, in denen er sich kritisch mit sozialen und politischen Themen auseinandersetzt, zum Beispiel in "Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich" (1987). Diese Schrift stieß auf große Resonanz und machte Haslinger zur zentralen Figur der Kritik an Kurt Waldheim, dem Kandidaten für das Amt des österreichischen Staatspräsidenten. 1992 folgte der viel beachtete Band "Das Elend Amerikas. 11 Versuche über ein gelobtes Land". 1995 erzielte Haslinger einen Überraschungserfolg mit dem Roman "Opernball", einem Politthriller über die Zusammenhänge zwischen Medien, Politikerinteressen und der Gesellschaft. Der Roman wurde verfilmt, ebenso wie "Das Vaterspiel" (2000), in dem er die österreichischen Sozialdemokraten kritisiert. Zuletzt erschien "Phi Phi Island" (2007), in dem Haslinger seine Erlebnisse während des Thailand-Urlaubs im Winter 2004 verarbeitet, als er mit seiner Familie nur knapp den Tsunami überlebte. Haslinger erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, unter anderem im Jahr 2000 den Preis der Stadt Wien und den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels. Seit 1996 lehrt er als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Josef Haslinger lebt in Wien und Leipzig.
Mehr zur Europawahl finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.
Im Europäischen Parlament halten die Europa-Feinde Einzug und wir könnten bald vor der paradoxen Situation stehen, dass eines der wichtigsten Einigungsmerkmale der Europäer darin besteht, dass sie Europa hassen. Aber selbst wenn die Entwicklung so weitergeht und das Europäische Parlament zu einer Art Internationale der Nationalisten wird, wäre das immer noch himmelweit von jenen historischen Aktivitäten entfernt, mit denen die Nationalisten des 20. Jahrhunderts ihre Träume zu verwirklichen pflegten.
Neuerdings ist allerorts ein seltsames Gezirpe vernehmbar, das die europäischen Politiker aufgeschreckt und zu hitzigen Beratungen zusammengeführt hat. Es ist das Gejammer jener Investmentgruppen, die seit dem April 2005 im populären Sprachgebrauch als Heuschrecken bezeichnet werden. Sie könnten eigentlich damit zufrieden sein, dass die Banken in Prag, Budapest und Bukarest mittlerweile vertraute westeuropäische Namen tragen. Sie könnten mit Genugtuung zurückblicken auf ein Jahrzehnt, in dem sie dem einfachen Sparbuchkunden eine Verzinsung von zwei bis drei Prozent, sich selbst aber eine Rendite von 15 bis 20 Prozent gegönnt haben. Anstatt Europa dankbar dafür zu sein, dass sie ein Jahrzehnt lang die Weiden ungeniert abgrasen durften, jammern nun auch diese Wanderheuschrecken und erwarten vom europäischen Steuerzahler nichts geringeres, als dass er das von ihnen ratze-putz kahlgefressene Land neu bepflanzt.
Und so bin ich schließlich bei der vierten Sorte von Jammerern angekommen, bei jenem Chor, dem ich selbst von Zeit zu Zeit meine Stimme leihe. Die sind es leid, dass sich die Organisation der gemeinsamen Warenwelt derart in den Vordergrund gedrängt hat, dass Europa heute vor allem den Bedürfnissen der Geschäftemacher gehorcht. Die sind es leid, dass seit dem 1. November 1993, seit dem Tag, an dem der EU-Vertrag in Kraft getreten ist, dieses Europa nicht als gemeinsames Projekt für alle europäischen Menschen verstanden wird, sondern den Mitgliedstaaten dazu dient, eigene wirtschaftliche Vorteile und politische Posten herauszuschlagen.
Bei diesem Gerangel um Macht, Geld und Einfluss hat sich ein beachtliches europäisches Haupt herausgebildet, das sich jedoch gerne bedeckt hält. Denn nicht erst seit der Ost-Erweiterung leidet der europäische Körper an einer schweren dysfunktionalen Störung, die sich darin äußert, dass die Glieder meinen, sie müssten das Haupt bekämpfen.
Und doch hat sich unter der Hand etwas Gewaltiges verändert, das uns nur nicht mehr auffällt, weil es schnell zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In den 60er-Jahren machte mein Vater mit uns Kindern einen Ausflug, um uns den Eisernen Vorhang zu zeigen. Wir mussten nicht weit fahren, nicht einmal 25 Kilometer, dann standen wir unweit von Gmünd auf einem Feldweg und blickten zu einem in der Ferne sichtbaren Wachturm. Da drüben, sagte er, ist eure Großmutter geboren. Mein Vater hielt sich einen Feldstecher vor die Augen und drehte am Rädchen. Der Tscheche schaut uns an, sagte er. Sicher ist er bewaffnet. Ich bekam es mit der Angst zu tun, stieg ins Auto ein und duckte mich.
Zwanzig Jahre später, Anfang der 80er-Jahre, fuhr ich mit dem Zug von Wien über Prag nach Berlin. Durch die Abteile strömten Heerscharen von Uniformierten, mit Fahndungsbüchern, Stempelkissen, Leitern, Spiegeln und Taschenlampen. Sie inspizierten nicht nur die Papiere der Reisenden, sondern auch alle Hohlräume des Zuges. Als sie abgezogen waren, ging ich in den Speisewagen. Der Kellner steckte den 50-Schilling-Schein, mit dem ich meinen Kaffee bezahlen wollte, in seine Hosentasche und brachte mir als Wechselgeld zwei Flaschen Bier und zwei Limonaden. Zu verhandeln gab es darüber nichts.
Während ich es mir bei einer Zigarette gemütlich sein ließ und mein umfangreiches Trinkprogramm in Angriff nahm, zogen draußen riesige Buchstaben vorbei, die auf Hausdächern und in Wiesen gepflanzt waren. In der CSSR verstand ich immer nur das Wort "socialistický". Nördlich von Bad Schandau konnte ich dann ganze Sätze verstehen: "Alles für das Wohl des Volkes und den Frieden". Mein Waggon machte dazu derartige Freudensprünge, dass der Kaffee alle Augenblicke aus der Tasse schwappte und der Deckel des Aschenbechers ein ums andere mal zuklappte.
Heute bin ich auf dieser Strecke, zwischen Wien und Leipzig, Woche für Woche unterwegs. Zwar ist die Eisenbahn nach Prag noch nicht ganz so schnell wie der legendäre Expresszug in der Monarchie es war, aber der Kaffee schwappt nur noch selten aus der Tasse und die Aschenbecher sind gleich ganz verschwunden. Wenn mir gerade danach ist, steige ich in Prag aus, um mit der Schriftstellerin Radka Denemarková einen Mokka zu trinken, oder ich treffe in Brünn, der Geburtsstadt meines Großvaters, Jirí kamen, oder ich komme in Olmütz im Café 87 mit einer slowakischen Studentin ins Gespräch, die auf eine sehr eloquente, aber zugleich seltsam aufgeregte Art auf mich einredet, bis ich herausfinde, dass sie ihr Deutsch nicht in der Schule, sondern beim jahrelangen Zuschauen von RTL2 gelernt hat.
Und wenn ich dann zur Abwechslung wieder einmal mit dem Auto unterwegs bin und es stellt sich bei einer Routinekontrolle heraus, dass ich meinen Personalausweis vergessen habe, kostet mich das lediglich eine Verwaltungsstrafe von 30 Euro. Aus meinem Führerschein, so erklärt mir der Beamte in langsam gesprochenem Deutsch, gehe leider nicht meine Staatsbürgerschaft hervor. Wie soll denn auch ein tschechischer Polizist an meinem Gesicht ablesen können, ob ich wirklich ein Europäer bin und nicht doch vielleicht ein Fremder?
Kurzbiografie:
Josef Haslinger, geboren 1955 in Zwettl, Niederösterreich. Er studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Germanistik in Wien. 1980 promovierte er über die "Ästhetik des Novalis" und erhielt den Theodor-Körner-Preis. Von 1976-92 war Haslinger Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Wespennest". Nach seiner Promotion arbeitete Haslinger als Wissenschaftler mit Lehraufträgen und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den Vereinigten Staaten. Sein erstes literarisches Werk, den Erzählband "Der Konviktskaktus", veröffentlichte Haslinger 1980. Über die Landesgrenzen hinweg bekannt wurde er als Autor von Essays, in denen er sich kritisch mit sozialen und politischen Themen auseinandersetzt, zum Beispiel in "Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich" (1987). Diese Schrift stieß auf große Resonanz und machte Haslinger zur zentralen Figur der Kritik an Kurt Waldheim, dem Kandidaten für das Amt des österreichischen Staatspräsidenten. 1992 folgte der viel beachtete Band "Das Elend Amerikas. 11 Versuche über ein gelobtes Land". 1995 erzielte Haslinger einen Überraschungserfolg mit dem Roman "Opernball", einem Politthriller über die Zusammenhänge zwischen Medien, Politikerinteressen und der Gesellschaft. Der Roman wurde verfilmt, ebenso wie "Das Vaterspiel" (2000), in dem er die österreichischen Sozialdemokraten kritisiert. Zuletzt erschien "Phi Phi Island" (2007), in dem Haslinger seine Erlebnisse während des Thailand-Urlaubs im Winter 2004 verarbeitet, als er mit seiner Familie nur knapp den Tsunami überlebte. Haslinger erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, unter anderem im Jahr 2000 den Preis der Stadt Wien und den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels. Seit 1996 lehrt er als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Josef Haslinger lebt in Wien und Leipzig.
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