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Jan Brandt: Tod in Turin
Autofiktionaler Hyperrealismus

"Gegen die Welt" war Jan Brandts erster Roman - und ein durchschlagender Erfolg. 2011 wurde er dafür für den Buchpreis nominiert. Diese Nominierung und ihre Folgen spielen in Brandts neuem Werk "Tod in Turin" eine Rolle. Der Ich-Erzähler unternimmt darin eine Reise zur Turiner Buchmesse. Dabei handelt es sich um Brandt selbst - vermutlich zumindest.

Von Martin Krumbholz |
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    Der Autor Jan Brandt (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
    Los geht es mit dem Buchpreis. Den hat Jan Brandt 2011 für seinen Roman "Gegen die Welt" nicht bekommen, obwohl er auf der Shortlist stand und obwohl sein Buch mit Abstand das umfangreichste war - Länge sei doch entscheidend, heißt es einmal, halb spaß-, halb ernsthaft im neuen Text. Dass der Buchpreis und vor allem sein Ausbleiben Autoren sehr beschäftigen kann, weiß man ja spätestens seit Thomas Glavinic' "Das bin doch ich". Auf das Buchpreisbuch, das den Buchpreis nicht gewonnen hat, folgt ein Buchpreisverarbeitungsbuch, und so eins ist auch "Tod in Turin". Mit "Tod in Venedig" oder "Tod in Rom", also mit Thomas Mann oder Wolfgang Koeppen hat es nichts zu tun, denn weder wird der Schauplatz fiktionalisiert, im Gegenteil, noch gibt es eine literarische Fabel; und der hier "Ich" sagt, scheint doch kein anderer zu sein als Jan Brandt.
    "Ich mag Turin, ich mag Turin sogar sehr, alles ist so bombastisch und alt, so überzogen mit Patina, mit einem morbiden Glanz. Alles modert, stirbt, verwelkt und ist in diesem Zustand des Moderns, Absterbens, Verwelkens konserviert. Ich wünschte, ich könnte bleiben."
    Fabelhafte Comics
    Er bleibt nur drei Tage auf der Turiner Buchmesse im Mai 2012, doch für die Beschreibung dieser drei Tage braucht er 200 Seiten und fast ebenso viele Fußnoten - Jan Brandt ist ein gründlicher Rechercheur und ein sorgfältiger Beschreiber. Zu den Fußnoten später. Zunächst noch einmal zur Frage des Genres, an der man hier nicht vorbeikommt. "Tod in Turin" ist also kein Roman, und es ehrt Autor und Verlag, dass sie das Buch auch nicht so nennen. Der Untertitel lautet: "Eine italienische Reise ohne Wiederkehr, mit Zeichnungen von Tom Smith." Die Comics des Engländers Tom Smith, soviel gleich vorweg, sind fabelhaft. Nicht wiedergekehrt, also gestorben wird selbstredend nicht, weder stirbt Jan Brandt noch sein Alter Ego im Text - schon deswegen nicht, weil es kein "anderes" Ich ist, sondern dasselbe. In einer seiner Frankfurter Poetikvorlesungen schreibt Daniel Kehlmann, fast gleichaltrig mit Brandt, "natürlich" meine der Schriftsteller immer sich selbst, wenn er "ich" sage. Nur bestehe die Übereinkunft eben darin, so zu tun, als sei das Gegenteil der Fall.
    "Und tatsächlich spricht er ja auch nicht von dem Ich, das ins Kino geht, Kaffee trinkt, Freunde trifft und die Zeitung durchblättert, sondern von einem anderen - einem böseren, liebevolleren, offeneren, ängstlicheren, wahrhaftigeren Ich..."
    Viele entbehrliche Informationen
    Kehlmann spricht von Romanen, Fiktionen. Brandt tut genau das, was der Schriftsteller Kehlmann zufolge nicht tut: Er berichtet von einem Ich, das ins Kino geht, Freunde trifft, die Zeitung durchblättert. Die Kehlmannsche Konvention, so zu tun, als sei das Gegenteil der Fall, spielt für Brandt keine Rolle. Und doch haben wir es nicht mit einem reinen Journal zu tun, sondern mit einem autofiktionalen Text, der möglicherweise Spurenelemente an Fiktion enthält, die kaum zu identifizieren sind. Man erwischt sich mitunter dabei, dass man einiges, das hübsch ausgedacht klingt, für höchstwahrscheinlich authentisch hält. Überprüfen lässt sich das nicht. Als Genretitel bietet sich an: autofiktionaler Hyperrealismus. Denn der Detaillismus, mit dem Brandt die drei Tage in Turin und jede noch so unbedeutende Einzelheit beschreibt, ist imponierend, aber auch imponierend maßlos. Interessiert einen das alles so sehr? Wohl kaum. Doch die Sache hat natürlich System, Quantität soll umschlagen in Qualität. Daher drängt der Überschuss an Material aus dem Text heraus in die annähernd 200 Fußnoten, die ihrerseits viele entbehrliche Informationen enthalten und empfindlich den Lesefluss stören. Doch lässt man sie nicht einfach außer acht, weil man insgeheim befürchtet, etwas Interessantes, Kostbares oder auch nur Amüsantes zu verpassen. So hat Brandt den Leser gnadenlos am Angelhaken. Ganz amüsant ist schon die Fußnote 5, in der Brandt die "Top Ten" der an einen Autor gerichteten "Killerfragen" auflistet:
    1. Was wollen Sie damit eigentlich sagen?
    2. Wie autobiografisch ist der Roman?
    3. Warum wohnen Sie in Berlin?
    4. Können Sie vom Schreiben leben?
    5. Haben Sie irgendwelche Hobbys?"
    6. Arbeiten Sie schon an etwas Neuem? (beliebig ausblenden)
    7. ...
    "Tod in Turin" ist auch eine Literaturbetriebssatire, aber nur am Rande. "Tod in Turin" ist eine kokett-selbstironische Marketing-Satire, wenn es da heißt:
    "Alle deutschsprachigen Schriftsteller von Weltrang haben über ihre italienische Reise geschrieben."
    Um diese im Grunde unbestrittene Tatsache zu belegen, werden auf 20 Seiten gut ausgewählte Zitate aufgelistet, von Ingeborg Bachmann -
    "In Rom sah ich, dass alles einen Namen hat und man die Namen kennen muss. Selbst Dinge wollen gerufen werden."
    ... über Goethe -
    "Auch ich in Arkadien!"
    ... bis hin zu Rolf Dieter Brinkmann:
    "Also der große Schrott der Abendländischen Geschichte erwartet Dich hier..."
    Dann, auf Seite 90, legt Brandt nach langem Anlauf selber los:
    "Und jetzt ich."
    Ein eitles, aber auch erhellendes Buch
    Er berichtet von den Tücken des Hotels Lingotto, von Pressedamen, von netten und geistreichen Kollegen, er erzählt die berühmte Episode von Nietzsche, der aus Mitleid ein Kutschenpferd umarmt, und er gibt damit an, dass er weder Dostojewski noch Joyce oder Borges gelesen habe. Kafka? "In der Schule, glaube ich." Von Angeberei kann man natürlich nur sprechen, wenn man unterstellt, dass es stimmt, andernfalls ist es nur Koketterie. Gleichwohl zitiert der Autor in Fußnote 94 Dostojewskis berühmten Satz aus dem "Idioten", Schönheit werde die Welt retten. Und in Fußnote 151 zitiert er die Verlegerin Susanne Schüssler, die ihm erklärt habe:
    "Jetzt sage ich etwas Ketzerisches: Vor dreißig, vierzig Jahren war die deutsche Literatur auch bedeutender als heute. Solch eine Ansammlung von großen Autoren wie in der Nachkriegszeit haben wir nicht momentan..."
    So ketzerisch ist das nicht einmal; in der Tat macht einen nicht unbeträchtlichen Teil der heute relevanten Literatur die Backlist aus. Brandt widerspricht der Verlegerin übrigens nicht. Vielleicht auch angesichts dessen - zugespitzt gesagt: Der Betrieb ist potenter als die Literatur, der er dient - fällt Brandts Resümee gegen Ende des Buchmessenbesuchs ausgesprochen melancholisch aus.
    "Ich weiß, dass man nicht hochbegabt oder großartig sein muss, um zu erkennen, dass Buchmessen eine abgrundtiefe Trauer innewohnt. Nirgendwo ist die Einsamkeit größer als dort, wo man von vielen gleichgesinnten Menschen umgeben ist. (...) Ein Rundgang an den Hunderten Ständen, an den Tausenden Büchern vorbei genügt, um sich der Bedeutungslosigkeit und Endlichkeit bewusst zu werden. Und trotzdem tun alle so, als bereite es ihnen unendliches Vergnügen, sich selbst zur Schau zu stellen. (...) darum wird nachts auch so hart gefeiert, darum ziehen die büchermüden Horden von einer Party zur anderen: Es ist eine Art trotzige Selbstbehauptung, ein egoistisches Wiederaufbauprogramm, ein wütendes Antanzen, Antrinken, Anficken gegen den körperlichen und geistigen Verfall."
    Resümee zum Buch: "Tod in Turin" ist ein zu langes - Länge ist nicht entscheidend -, recht eitles, in seinen diskursiven Passagen aber oft auch erhellendes und durchaus unterhaltsames Buch.
    Jan Brandt: Tod in Turin. Eine italienische Reise ohne Wiederkehr, mit Zeichnungen von Tom Smith. DuMont, 304 Seiten, 19,99 Euro.