Es war stockdunkel an jenem 10. Oktober 1944, als drei deutsche Besatzungssoldaten mit zwei jungen niederländischen Mädchen über den Deich des Dorfes Rhoon in der Nähe von Rotterdam spazierten. Sie hatten gefeiert. Nun brachten Walter Loos, Heinz Willems und Ernst Lange die Schwestern Dien und Sandrien de Regt nach Hause.
"Dann, auf Höhe der Flachsfabrik, stieß Ernst einen grauenhaften, hohen Schrei aus. Im selben Moment hörten sie ein Zischen. Niemand begriff auf Anhieb, was los war, auch Ernst Lange nicht. Walter Loos dachte, sie seien in einen Hinterhalt gelockt worden. Ernst sprang bestimmt einen Meter hoch und fiel dann längelang zu Boden, als habe er keine Kontrolle mehr über seine Gliedmaßen. ... Ernst merkte als Erster, woher die Hitze kam. Er rief Loos zu: 'Elektrischer Strom, Herr Bootsmann.' ... Ernst stieß ächzend hervor, er komme nicht von der Leitung los.
Walter Loos war außer sich vor Schreck, Angst, Wut. Er war der Ranghöchste, er würde für die Folgen geradestehen müssen; das war ihm sofort klar. Als Erstes mussten die Mädchen weg, danach würden Heinz und er schauen, was sie für den Soldaten Lange tun konnten. Zuerst die Spuren verwischen; offiziell befanden sie sich schließlich auf einem Wachgang."
Walter Loos war außer sich vor Schreck, Angst, Wut. Er war der Ranghöchste, er würde für die Folgen geradestehen müssen; das war ihm sofort klar. Als Erstes mussten die Mädchen weg, danach würden Heinz und er schauen, was sie für den Soldaten Lange tun konnten. Zuerst die Spuren verwischen; offiziell befanden sie sich schließlich auf einem Wachgang."
Als dann endlich Hilfe kam, war es für Ernst Lange zu spät. Der 18-jährige deutsche Matrose lebte nicht mehr. Jedoch erst nach Kriegsende sollte sich herausstellen, dass Langes Vorgesetzter Loos mit Schuld war am Tod des Matrosen.
Doch wer oder was hatte das Stromkabel, das die Flachsfabrik versorgte, genau zu der Uhrzeit abgerissen und auf die Deichstraße gelegt, zu der gewöhnlich die Soldaten mit ihren Mädchen vorbeikamen? Ein Sturm? Oder war es ein Sabotageakt des niederländischen Widerstands? Vielleicht hat sich auch ein Niederländer dafür rächen wollen, dass sich die de-Regt-Schwestern mit dem Feind einließen. Das Buch "Die Vergeltung. Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung" des niederländischen Schriftstellers Jan Brokken geht aber nicht nur der Frage nach, wie das Stromkabel auf den Deich kam. Das Buch versucht auch, die Schuldigen für die vielen dramatischen Ereignisse zu benennen, die auf Langes Tod folgten.
Brokken gibt seinem Buch die Struktur eines klassischen Kriminalromans. Zunächst stellt er die fünf Menschen vor, denen der Anschlag galt, um dann Schritt für Schritt die Schuldigen aufzuspüren. Und weil Brokken obendrein sehr lebhaft erzählt, ist "Die Vergeltung" sehr spannend zu lesen.
Die Deutschen beschlossen, als Vergeltung für den Tod des Soldaten Lange sieben männliche Dorfbewohner zu erschießen. Der reiche Bauer de Kooning, dessen Sohn einer der sieben Todeskandidaten war, kaufte seinen Sohn gegen zwei Schweine frei. Dafür musste der Sohn einer armen Familie, die ebenfalls de Kooning hieß, sein Leben lassen:
"Ist es verwerflich, seinen Sohn mit zwei Schweinen freizukaufen? Ich sehe nicht ein, warum. ... Das Schmerzliche daran ist nur, dass ein anderer als Wechselgeld für die Freilassung seines Sohnes dienen sollte. Ein armer de Kooning musste für einen reichen de Kooning büßen. Das erregte Unmut im Dorf, eine Wut, die man nicht sah, die aber zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang unterschwellig weiterkroch."
Autor Jan Brokken, Jahrgang 1949, kam als kleiner Junge nach Rhoon, als sein Vater dort die Stelle des Pfarrers übernahm. So hat Brokken selbst erlebt, wie der Tod des Soldaten Lange und dessen Folgen die Bewohner der Ortschaft noch über viele Jahre beschäftigte. Brokken schreibt denn auch in der Ich-Form, schlüpft, wenn man so will, in die Rolle des Ermittlers. Seine persönlichen Erfahrungen fließen auch in das Buch ein, doch sie sind nicht seine Hauptquelle. Vielmehr wertet Brokken Gerichts- und Polizeiakten und historische Dokumente aus, und er stützt sich auf Interviews mit 185 Augenzeugen, unmittelbar Beteiligten oder deren Nachkommen.
Darstellung von Sichtweisen und Interpretationen aller Beteiligten
Brokkens Buch zeichnet aus, dass es detailgenau Sichtweisen und Interpretationen aller Beteiligten darstellt und sie auf ihre Schlüssigkeit überprüft. Der Autor, obwohl Niederländer, ergreift dabei nicht durchweg für seine Landsleute Partei. Brokken weist einerseits nach, dass zwar der deutsche Bootsmann Walter Loos ein Kriegsverbrecher war, doch dessen achtzehnjährigen Untergebenen Ernst Lange zählt er, obwohl der Soldat zu den Besatzern zählte, zu den Opfern des Krieges. Brokken schreibt mitfühlend über ihn:
"Aus irgendeinem Grund denke ich, dass man Ernst Lange, noch bevor er sein Abitur machen konnte, von einem Provinzgymnasium genommen hat, wie Zehntausende sechzehn-, siebzehn- und achtzehnjährige Jungen in den Monaten April und Mai 1944. Und dass er von einem Moment zum anderen Mathematik, Chemie, Griechisch, Latein, Hölderlin, Kleist und Wilhelm Meisters Lehrjahre gegen eine sechswöchige militärische Blitzausbildung und einen gerade mal siebenstündigen Schießkurs eintauschen musste, wonach er wie insgesamt achtzigtausend andere Knaben in ein Gebiet geschickt wurde, das sie bis zum letzten Mann verteidigen sollten."
Die Hafenstadt Rotterdam und ihre Umgebung zählten zu den Gegenden der Niederlande, die im Zweiten Weltkrieg die meisten Verluste zu beklagen hatten, und noch Jahrzehnte nach dem Krieg waren die Deutschen dort in weiten Teilen der Bevölkerung verhasst. Umso erstaunlicher ist nicht nur Jan Brokkens Buch, sondern auch dessen großer Erfolg in den Niederlanden. In der niederländischen Kritik hieß es denn auch, "Die Vergeltung" sei erst aus der Distanz von fast 70 Jahren möglich gewesen. Brokken begegnet nicht nur den Besatzern mit dem Bemühen um Objektivität, er kritisiert auch seine Landsleute. So wirft er ihnen beispielsweise vor, dass die rund 30 Frauen aus Rhoon, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, nach dem Krieg misshandelt und als Moffenhuren bezeichnet worden sind. Moffen, übersetzt Muffige, ist ein bis heute gebräuchliches Schimpfwort für Deutsche. Dabei ging es diesen Frauen meist nur darum, von den Soldaten etwas zu essen für ihre Kinder zu bekommen. Ihre Männer arbeiteten wie Hunderttausende Niederländer fast alle als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Außerdem wirft Brokken seinen Landsleuten vor, kollaboriert zu haben:
"Von 1938 an hielt der Postbote von Rhoon fest, wer Volk en Vaderland (Volk und Vaterland) abonniert hatte. ... Die Sympathisanten waren wie Gift in alle Gruppierungen und Bevölkerungsgruppen gesickert. Auf der Liste des Postboten standen ein Pacht- und ein Großbauer, zwei, drei Gärtner, ein Obstbauer mit lediglich einigen wenigen Apfel- und Birnbäumen und ein Obstbauer mit einer großen Plantage, ein Beamter, ein Geschäftsmann, ein Hafenarbeiter und ein ehemaliger Fischer."
"Der Widerstand war nicht populär während des Krieges"
Etliche Bewohner des 1.500-Seelen-Nestes Rhoon gehörten der National-Sozialistischen Bewegung der Niederlande an. Und die Einstellung der Menschen zum Widerstand war auch nicht durchgängig positiv:
"Der Widerstand war nicht populär während des Krieges. Der Respekt vor den Aktionen der Untergrundbewegung entstand erst in den Sechzigerjahren, als alle ungefährdet vor dem Fernseher saßen und sich die Serie 'De bezetting' ('Die Besatzung') ansahen. Während des Krieges fürchtete man in einem Dorf wie Rhoon die illegalen Heldentaten mindestens ebenso wie die versehentlich geflogenen englischen Bombenangriffe. Auf eine mutige Widerstandstat folgte fast immer eine feige Vergeltung der Besatzer."
Der Mikrokosmos Rhoon steht für die Niederlande, die ab dem 29. Mai 1940 von den Nazis besetzt waren. Und wie die Menschen in Rhoon verhielten sich damals 8,8 Millionen Niederländer - sie waren Widerständler oder von den Ideen der Nazis überzeugt, sie versuchten, sich aus allem heraus zu halten oder waren Mitläufer, sie schlugen wirtschaftlichen Profit aus der Nazi-Herrschaft oder sie hatten Schlimmes zu erdulden. Jan Brokken konfrontiert den Leser mit rund zwei Dutzend Menschen aus Rhoon, und jeder von ihnen steht für eine bestimmte Haltung, eine bestimmte Rolle in dem besetzten Land.
Was 1944 und danach in Rhoon geschah, hätte auch in jedem anderen besetzten Land und unter Okkupationen jeglicher ideologischer Ausrichtung geschehen können. Auch das macht Jan Brokkens Buch "Die Vergeltung" zu einem lesenswerten Buch von universellem Interesse.
Jan Brokken: "Die Vergeltung. Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung", aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 397 Seiten, 19,99 Euro.