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Jan Costin Wagner "Sommer bei Nacht"
Literarischer Kriminalroman mit Tiefgang

In kurzen Dialogen und mit neuen Ermittlern spielt der neue Krimi "Sommer bei Nacht" von Jan Costin Wagner dieses Mal in Südhessen. Dort ist ein fünfjähriger Junge entführt worden - und trotz einer Vielzahl von Hinweisen aus der Bevölkerung tappt die Polizei lange im Dunkeln.

Von Tilman Winterling |
Der Schriftsteller Jan Costin Wagner und sein Buch "Sommer bei Nacht"
Der Schriftsteller Jan Costin Wagner und "Sommer bei Nacht" (Buchcover Galiani Verlag / Autorenportrait Susanne Schleyerr)
Auf einem südhessischen Flohmarkt verschwindet der fünfjährige Jannik. Seine Mutter und seine Schwester hatten ihn nur kurz aus den Augen gelassen. Aufnahmen der Überwachungskamera eines Parkhauses in der Nähe bringen bald Gewissheit. Ein Fremder hat ihn entführt. Auf den Bildern sieht man einen Mann, Jannik und einen riesigen Teddybären.
"Also. Ein Flohmarkt. In einer Schule. Draußen, auf der großen Wiese. Lehrer, Eltern, Schülerinnen und Schüler. Tische mit Sachen, die verkauft werden. Gegen Mittag kommen die Meinigers. Mutter, Tochter und der kleine Jannis. Kurz darauf, nachdem Mutter und Tochter Sachen in einen der Klassenräume gebracht haben, ist Jannis weg."
Die Polizisten Ben Neven und Christian Sandner beginnen schwierige Ermittlungen. Im Flohmarktgetümmel hat niemand etwas gesehen. Auf den Bildern der Überwachungskamera ist der Mann nicht zu identifizieren und keiner der wenigen Zeugen liefert verwertbare Hinweise.
Zeit- und Leidensdruck für die Ermittler
Der Teddy, den der entführte Jannik auf den Bildern im Arm hält, liefert eine erste Spur. In einem ungeklärten Fall von Kindesentführung in Innsbruck spielte ebenfalls ein großer Teddybär eine Rolle. Die Kollegen in Österreich sind allerdings keine Hilfe und haben damals offenbar nur sehr nachlässig versucht aufzuklären.
"Christian nickt. Natürlich nicht. Da wird nichts sein. Keine Verknüpfung, keine Erkenntnis, die sich einstellt, keine Tür, die im überraschenden Moment eine Verbindung zwischen den Räumen eröffnet. Es gibt keine Verbindung, nur einen Schatten, der sich über einen Tivoli und einen Flohmarkt legt. Einige Sekunden lang, dann scheint wieder die Sonne."
Für Neven und Sander beginnt aufwendige Ermittlungsarbeit. Das Auswerten von mehreren hundert Hinweisen aus der Bevölkerung ist zäh und ohne Lösegeldforderung oder andere Kontaktaufnahme durch den Entführer steigt der Zeit- und Leidensdruck für die Ermittler. Nicht nur weil die Schwester von Jannik sich täglich nach dem aktuellen Stand erkundigt, sondern auch weil die Verbrechen alle Beteiligten emotional schwer belasten.
"Es geht ihm nah, obwohl er keine Kinder hat. Vielleicht deshalb? Er weiß es nicht. Wenn er Kinder erlebt, zum Beispiel die Töchter seiner Schwester, dann geht ihm das Herz auf. Genau so fühlt es sich an. Dann kristallisiert sich ein Wort heraus, das sich komisch anfühlt, aber er denkt es immer wieder, wenn er die Kinder im Garten seiner Schwester spielen sieht. Unschuld."
Die Lektüre erinnert an eine Busfahrt
Wagner bleibt in "Sommer bei Nacht" seinem lakonischen Stil treu. In schnellen Schnitten geht es dabei von Figur zu Figur. Die rasche Szenenfolge und die damit verbundenen Sprünge stehen im deutlichen Gegensatz zu den langsam vorankommenden Ermittlungen der Polizei. Beeindruckend dabei der Effekt, den Wagner damit auf den Leser erzeugt. Die Lektüre erinnert an eine Busfahrt im Berufsverkehr: behäbiges Anfahren und anschließend starke Beschleunigung, abruptes Abbremsen an der nächsten Ampel und allgegenwärtig die Gespräche fremder Fahrgäste im Ohr.
Die zu belauschenden Gespräche sind in "Sommer bei Nacht" nicht nur die der Ermittler, sondern auch die der Angehörigen und des Täters. Das Stimmengewirr ist für die eigentlich Handlung in vielerlei Fällen unerheblich. Im ersten Drittel sind ganze Szenen auf den ersten Blick völlig überflüssig, fügen sich am Ende aber zu einem stimmigen Bild.
"Er betrachtet die Nummer, die Ziffernfolge, Zahlen, die er nicht kennt. Nicht in dieser Reihenfolge. Natürlich kennt er die Zahlen, jede für sich, aber in dieser Abfolge ergeben sie keinen Sinn."
Emotionen werden nicht adressiert
In "Sommer bei Nacht" werden die Charaktere ohne Hast entwickelt, ihre Abgründe und Verletzungen langsam ausgelotet. Dieser Krimi ist kein Pageturner, will es aber auch nicht sein. Wagner wird dabei nie voyeuristisch, baut eine leicht emotionslose Distanz zum Verbrechen, aber auch zu seinen Protagonisten auf.
Emotionen beim Leser werden hier nicht direkt adressiert oder hervorgerufen, sondern nahezu unmerklich aufgebaut. Die Hälfte von "Sommer bei Nacht" ist bereits gelesen, bis man realisiert, wie geschickt Wagner bisher mit einem spielte. Absolut konsequent ist daher, dass der Showdown der Kriminalhandlung sich auf einer halben Seite abspielt, ein Ausbruch der unmerklich aufgestauten Spannung.
Der eigentliche Höhepunkt des Romans ist dagegen eine Talkshow, an der Ben Neven teilnimmt. Durch die Medienpräsenz hofft man auf neue Hinweise aus der Bevölkerung. Hier brechen aktuelle gesellschaftliche Themen mit Wucht auf Ermittler und Leser ein.
Keine "hard boiled detectives"
Im Rahmen der Ermittlungen wurde ein dauercampender Hausmeister befragt und die Bilder um den Missbrauchsfall von Lügde sind sofort gegenwärtig. Aufhänger der Talkshow sind dabei eigentlich Ermittlungen im Umfeld eines bekannten Sportlers, der im Verdacht des Besitzes von Kinderpornographie steht. Auch hier lassen sich gleich Bezüge zu Berichterstattung aus dem vergangenen Jahr herstellen.
In kurzer Zeit prasseln Fragen auf den Leser ein. Wie sollte über Verbrechen an Kindern berichtet werden? Wie viel Emotionalität darf sich die Strafverfolgung leisten? Mit diesen lässt Wagner einen aber allein. Stattdessen taumeln seine Figuren in der eigenen Hilflosigkeit. Sie sind keine "hard boiled detectives", keine überzeichneten Loser oder Helden, sondern schlicht Menschen mit individuellen Erinnerungen und Problemen.
Herausragende Figur unter ihnen ist Landmann. Aus der Nebenrolle als pensionierter Ermittlungshelfer rutscht er in die Fragen nach dem eigenen Umgang mit dem tragischen Verlust eines Kindes und steht dafür sinnbildlich für alle Beteiligten. Denn am Ende sind alle rat- und hilflos und auf sich allein gestellt: Eltern, Ermittler, sogar die Verbrecher selbst.
Wagner beschreibt viele verschiedene Stadien und Formen der Verzweiflung von Eltern in Sorge um ihre Kinder. Anders als seine Ermittler, die Erklärungen für die Eltern der Entführten suchen, will Wagner die Fragen aber nicht beantworten. Er will Fragen stellen und den Leser damit allein lassen. In diesem Fall eine hervorragende Methode statt eines bloßen Krimis, einen literarischen Kriminalroman zu schaffen.
Jan Costin Wagner: "Sommer bei Nacht"
Galiani Berlin, 320 Seiten, 20 Euro.