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Jan L. Lorenzen: Erich Honecker. Eine Biographie

Relativ vollmundig bewirbt der Rowohlt Taschenbuch Verlag eine Neuerscheinung, die sich als erste große "zusammenfassende Darstellung" über das Leben Erich Honeckers ausgibt. "Sie zeigt, wer Honecker war, warum ihm diese einmalige politische Karriere gelang und wie er scheiterte", heißt es dazu im Pressetext. Ein großer Anspruch für ein schmales Taschenbuch von 239 Seiten Umfang - wobei schon allein die Form der Veröffentlichung stutzig macht; erscheinen doch Biographien mit einem derartigen Exklusivitätsanspruch als Erstausgabe selten im Paperback-Format. Gerade mal 15 Seiten weniger umfasst ein zweites Honecker-Buch aus dem Christoph-Links Verlag, das sich allerdings auch nur den letzten Lebensjahren des entmachteten SED-Chefs widmet. Udo Scheer hat beide Bücher für Sie gelesen.

Udo Scheer | 15.10.2001
    Die Faszination Macht, inszenierter Jubel und gnadenloser Absturz, das ist der Stoff, aus dem Neugier wächst. Bereits im vergangenen Jahr hat der Hallenser Historiker und Journalist Henrik Eberle in seinen bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienenen "Anmerkungen zu Honecker" die kommunistische Heldenbiographie Honeckers um zahlreiche Legenden und Auslassungen bereinigt. Dabei stützte er sich auf einen respektablen Fundus unterschiedlichster Quellen - ausdrücklich ohne den Anspruch, damit eine komplette Biographie vorzulegen.

    Jan N. Lorenzen wählte einen anderen Ansatz. Für den 1969 in Hamburg geborenen und heute in Ostdeutschland arbeitenden Historiker und freien Journalisten war es nach eigenem Bekunden spannend herauszufinden, wie dieser hölzern wirkende "mittelmäßige Mann" sich achtzehn Jahre an der Spitze des Politbüros halten konnte. Seine Methode dabei ist ein Novum in der biographischen Literatur. Statt sich auf authentische Berichte und Nachlässe zu stützen, nutzt er nahezu ausschließlich verfügbare Bücher - Memoiren, Erinnerungen und Forschungen zur DDR-Geschichte - für seine Annäherung an Erich Honecker. Erstaunlicherweise finden sich in dieser Bücherliste jedoch weder Honeckers "Moabiter Notizen" aus dem Jahr 1994 noch die "Gespräche mit Margot Honecker" aus dem Jahr 2000. Zur Erhellung der frühen politischen Gehversuche Honeckers verwendet Lorenzen weitgehend distanzlos gar den 1980 im Ostberliner Dietz-Verlag erschienenen und so ideologisch wie propagandistisch aufgeladenen Band "Erich Honecker. Aus meinem Leben".

    Mit Sechzehn wurde Honecker zum Ortsgruppenleiter des Kommunistischen Jugendverbandes in seinem saarländischen Heimatort Wiebelskirchen ernannt, mit Achtzehn belohnte ihn die Zentrale mit einem Lehrgang an der Moskauer Leninschule. "Ich war im Land meiner Träume", zitiert Jan N. Lorenzen Honeckers rückblickenden Überschwang. Unbedarft nimmt der Autor diesen Stab auf und erklärt: "Das Jahr, in dem Honecker in der Sowjetunion lebte, vom Sommer 1930 bis zum Sommer 1931, war ein vergleichsweise gutes Jahr in der wirtschaftlichen Umgestaltung der Sowjetunion - oder genauer: Es war etwas weniger schrecklich im Vergleich zu den Jahren davor und danach ..."

    Zitat Ende. Zur Erinnerung: In diesem "vergleichsweise guten Jahr" erhoben sich drei Millionen Bauern gegen die stalinistische Zwangskollektivierung, 20.000 Todesurteile waren die Antwort, eine Industriekrise nach dem brachial betriebenen Aufbau der Schwerindustrie erschütterte das Land, zur gleichen Zeit ließ Stalin die Partei von 250.000 "rechten Abweichlern" säubern. Vor diesem Hintergrund ist Honeckers Zynismus: "Ich war im Land meiner Träume" schwer zu überbieten. Vom Verfasser einer Biographie dürfte man erwarten, dass er eine derart dogmatische Selbstdarstellung kritisch hinterfragt.

    Ähnlich unkritisch folgt Lorenzen auch Honeckers Schilderung seiner 1937 vom NS-Volksgerichtshof verhängten zehnjährigen Zuchthausstrafe. Diese Haft, so Honecker, sei eine schwere Prüfung seiner Standhaftigkeit gewesen. Während in Henrik Eberles "Anmerkungen zu Honecker" herausgearbeitet ist, wie Honecker sich für seine spätere Widerstandsvita zum Hauptangeklagten im NS-Volksgerichtsprozess gegen "Bruno Baum und andere" stilisierte, wie er als Kalfaktor im Zuchthaus über Privilegien verfügte und in der DDR den Mythos verbreiten ließ, er habe im Zuchthaus eine Parteizelle gegründet, bestätigt Jan N. Lorenzen Honecker postum, der habe diese Prüfung "zweifellos bestanden".

    Verglichen mit Jan N. Lorenzens Arbeit liegt von Henrik Eberle die weitaus prägnantere Neubewertung von Honeckers Biographie vor. Er zeigt klarer, wie Honecker 1947 beginnt, die FDJ als Kaderreserve der SED zu profilieren, wie er Geschmack an der Macht findet und lernt, sie skrupellos für die eigene Karriere zu nutzen. Mitte der 50er Jahre intrigiert er erfolgreich gegen die "Abweichler" Schirdewan und Wollweber und stützt als einziger die vakante Herrschaft Walter Ulbrichts. 1961 zeichnete er als zweiter Mann nach Ulbricht für die Organisation des Mauerbaus verantwortlich. 1968 ist er maßgeblich an den Vorbereitungen zum Einmarsch der Nationalen Volksarmee in der CSSR beteiligt. Der nach außen hin unscheinbare Honecker entwickelt sich zum eigentlichen kommunistischen Hardliner und Reformfeind innerhalb der SED. Nach seinem Putsch gegen Ulbricht versucht Honecker das Volk durch zeitweilige kulturelle Liberalisierung und Verbesserung der sozialen Situation für die SED-Politik zu gewinnen.

    Lediglich im Mittelteil seines politischen Porträts gelingt Jan N. Lorenzen ein lesenswertes Wechselspiel in der Betrachtung von Honeckers selbstherrlichem Führungsstil und den Folgen für die DDR. Leider vermisst man darüber hinaus das, was eine Biographie ausmacht: Einblicke in Honeckers Persönlichkeitsstruktur, etwa in seinen hocheffizienten, zugleich jede Kritik abweisenden Arbeitsstil oder die Hintergründe seiner plötzlichen späten Männerfreundschaft mit dem rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu. Auch Schlaglichter auf sein weitgehend abgeschirmtes Privatleben, dass bei Eberle sogar feuilletonistisch gestaltet ist, sucht man vergebens. Tatsächlich erweist sich die vom Verlag vollmundig als "erste groß angelegte Honecker-Biographie" angepriesene Arbeit vor allem als Zusammenschnitt schon vorliegender Literatur, als eine Fleißarbeit mit sehr begrenztem Eigenanteil - eine energiesparende Methode, die sonst angehende Doktores an Universitäten gern aufgreifen, um sich ihren Hut zu verdienen.

    Besonders augenfällig wird dieses Manko an eigener Tiefenrecherche im knapp gefassten Abriss der letzten Lebensjahre Erich Honeckers. Hier lohnt der Vergleich mit Thomas Kunzes "Staatschef a.D.", ein Buch, das ausschließlich den Zeitraum von Honeckers Absetzung bis zu seinem Tod reflektiert.

    Erich Honecker: Vierzig Jahre Deutsche Demokratische Republik, das waren 40 Jahre heroische Arbeit, vierzig Jahre erfolgreicher Kampf für den Aufstieg unserer sozialistischen Republik, für das Wohl des Volkes. Wir werden auch weiterhin im Sinne der Erkenntnis von Karl Marx handeln, dass es darauf ankommt, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern die Welt zu verändern.

    Am Vorabend des 7. Oktober 1989 will sich Honecker s e i n e n 40. Jahrestag der DDR keinesfalls vergällen lassen. Ernüchtert und verärgert durch die vielen "Gorbi-Gorbi"-Rufe ordnet er hartes Durchgreifen an, sobald der Staatsgast seine Rückreise antritt. Noch am 7. Oktober lösen Polizeieinheiten die Demonstrationen für Meinungsfreiheit und Reformen in mehreren Städten brutal auf. Mehr als 1.000 Menschen werden festgenommen. 70.000 in Leipzig am 9. Oktober sind dann jedoch zu viele für die Sicherheitsorgane.

    Von diesem Tag an bricht das bis dahin so unantastbare, fest zementierte SED-Regime atemberaubend rasant in sich zusammen. Am 17. Oktober kippt Willi Stoph die Tagesordnung der Politbüro-Sitzung. Erich Honeckers Gesicht versteinert, als der Vorsitzende des Ministerrates - für ihn vollkommen überraschend - seine Absetzung fordert.

    An diesem Punkt setzt Thomas Kunzes Biographie der letzten Lebensjahre des einst mächtigsten Mannes der DDR ein, eines Mannes, der mit natürlicher Intelligenz und ausgeprägtem Willen zur Macht ausgestattet war und den einst ein feines Gespür für Feinde ausgezeichnet hatte. Der Leipziger Historiker, der vor eineinhalb Jahren mit "Nicolae Ceausescu - Eine Biographie" das lesenswerte Psychogramm des machtbesessenen und zugleich von Minderwertigkeitskomplexen verfolgten rumänischen Diktators vorgelegt hat, recherchierte für sein neues Buch nicht nur in diversen Archiven. Was seine Arbeit besonders auszeichnet, sind eingeflochtene Erinnerungen und Einschätzungen unterschiedlichster Zeitzeugen. Unter ihnen finden sich die letzten beiden DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow und Lothar de Maizière, Egon Krenz, Günter Schabowski, der ehemalige Gorbatschow-Berater Georgij Schachnasarow und Abdallah Franji, der PLO-Vertreter in Deutschland, der die Familie Honecker mutmaßlich im Auftrag Arafats unterstützte. Kunze sprach mit bundesdeutschen Ermittlern, mit Honeckers Anwalt Friedrich Wolff und vielen anderen. Besonders überraschend war für ihn die Sensibilität und diplomatische Einflussnahme, mit der Altbundeskanzler Helmut Kohl versucht hatte, die Folgen des Sturzes für Honecker zu mildern.

    Margot Honecker in Chile wünschte dem Autor in einem leicht ironischen Brief "gutes Gelingen" und bezweifelte zugleich eine objektive Darstellung. Kurz darauf erschienen die durch den ehemaligen chilenischen KP-Generalsekretär Louis Corvalán geführten "Gespräche mit Margot Honecker".

    Thomas Kunze: Sie wollte natürlich auch mit diesem Buch Geld verdienen und hatte meines Erachtens kein Interesse an Interviews zu einem ähnlichen Thema. Aber ihr Interviewband, und das wurde ihr ja auch in der deutschen Presse kritisch nachgesagt, ist keinerlei Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des zweiten deutschen Staates. Das Interview, das Corvalán mit Margot Honecker führte, verdient eigentlich nicht das Wort Interview. Interview bedeutet auch kritisches Nachfragen. Corvalán beschränkte sich auf braves Ablesen, und Frau Honecker reagierte mit Stereotypen aus der Zeit des Klassenkampfes.

    Kunze rekonstruiert minutiös die dramatische Sitzung des Politbüros am 17. Oktober und die vorbereitete Rücktrittserklärung Honeckers "aus gesundheitlichen Gründen".

    Die neue Führung mit dem ungeliebten Kronprinzen an der Spitze läuft in den Folgewochen - vom Volk getrieben - den Ereignissen hinterher. Kunze dokumentiert, je problematischer die Situation für Staatschef Egon Krenz und Ministerpräsident Hans Modrow wird, um so mehr Schuldzuweisungen richten SED-Führungskader und Medien an Honecker. In Wandlitz kommt es zum Presseauflauf.

    Honecker sieht sein Lebenswerk zerstört: Demokratische Parteien werden zugelassen, Helmut Kohl verkündet am 28. November den 10-Punkte-Plan für die deutsche Einheit, Krenz verzichtet am 1. Dezember auf den Führungsanspruch der SED. Der Generalstaatsanwalt der DDR ermittelt gegen die Mächtigen von gestern - so auch gegen Honecker. Das Verfahren findet jedoch keinen Abschluss, die Ermittlungsunterlagen werden am Vorabend der deutschen Einheit an die Generalstaatsanwaltschaft der Bundesrepublik übergeben.

    Honecker und seine Frau, denen ihr Haus in Wandlitz gekündigt ist, sind ohne Wohnsitz. Einzig Pastor Uwe Holmer, der Leiter des kirchlichen Pflegeheims Lobetal, bietet ihnen Aufnahme, bis die Honeckers Anfang April 1990 Asyl im sowjetischen Militärhospital Beelitz finden. Bei erneuten Untersuchungen auf Haftfähigkeit stellen die Ärzte Leberkrebs fest. Am 30. November 1990 erlässt die Berliner Staatsanwaltschaft Haftbefehl wegen des von Honecker 1961 verfügten und 1974 bekräftigten Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze.

    Die Ausreise Honeckers wird zur Chefsache zwischen Moskau und Bonn. Der Ausweisung aus der russischen Hauptstadt entzieht sich der inzwischen ungebetene Gast im Dezember 1991 durch Flucht in die dortige chilenische Botschaft. Die Ironie der Geschichte will es, dass er als letzter Botschaftsflüchtling der DDR für internationale Pendeldiplomatie sorgt, bis er am 29. Juni 1992 mit einer russischen Militärmaschine nach Deutschland ausgeliefert wird, während seine Frau zu ihrer Tochter nach Chile fliegt. Ärztliche Gutachter erkennen trotz Leberkrebs auf Haftfähigkeit und eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit.

    Am dritten Dezember 1992 gibt Honecker vor dem Berliner Landgericht eine 70-minütige Erklärung ab. Er fordert, die Mauerschüsse im weltgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen, und prangert an, der Prozess gegen ihn sei nichts als die Fortsetzung des Kalten Krieges. Während die ehemaligen Armeeminister Heinz Kessler und Fritz Streletz wegen Anstiftung zum Totschlag zu 7 ½ bzw. 5 ½ Jahren verurteilt werden, gelingt es Anwalt Wolff, den Prozess gegen den einstigen Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrates einstellen zu lassen: Das Verfahren verletze die Würde des todgeweihten Patienten. Für die Opfer des von ihm erlassenen Schießbefehls hat Honecker kein Wort des Bedauerns. Am 13. Januar 1993 wird er nach Chile ausgeflogen. Bis zu seinem Tod am 29. Mai 1994 wird er keinen Fuß mehr auf deutschen Boden setzen.

    Thomas Kunze legt mit dieser sachlich-fundierten Biographie außerordentliche Einblicke frei in das Leben dieses diktatorischen Machthabers und dieses so uneinsichtigen wie zunehmend verbitterten Kommunisten. Zugleich bewertet er die Problematik der juristischen und politischen Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur. Resümierend schreibt Kunze: "Die bundesdeutsche Justiz ist an der Aufgabe gescheitert, mit dem Strafgesetzbuch über die Geschichte des zweiten deutschen Staates richten zu wollen."

    Thomas Kunze: Der einzige Prozess, der gegen Honecker, der gegen die übrigen Politbüro-Mitglieder einen Sinn gemacht hätte, wäre ein politischer Prozess gewesen. Ein solch politischer Prozess ist in einem demokratischen Staat nicht zu führen. Die bundesdeutsche Justiz hat große Probleme, die kriminelle Vergangenheit von DDR-Politikern zu richten. Das liegt zum Einen am Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes. Die Justiz ist darauf angewiesen, anhand von DDR-Gesetzen Recht zu sprechen. Wie DDR-Gesetze entstanden sind, wissen wir alle. Wir wissen, der Artikel 1 der DDR-Verfassung - 'führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse' - ließ natürlich dem Handeln von SED-Funktionären einen außerordentlich breiten Spielraum.

    Udo Scheer über Jan L. Lorenzen: "Erich Honecker. Eine Biographie". Erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 239 Seiten zum Preis von DM 17,41 und Thomas Kunze: Staatschef a.D.. Die letzten Jahre des Erich Honecker. Christoph Links Verlag, Berlin, 222 Seiten für 38,- DM.