Endlich ist er da, der junge Doktorand. Ganze zwei Jahre haben die Greilachs auf ihn gewartet. Immer wieder war etwas dazwischen gekommen, doch nun, da er tatsächlich unangekündigt eines Abends mit dem Auto erschienen ist, müssen zunächst die Bilder im Kopf mit der Realität in Einklang gebracht werden. Denn Florian - so der Vorname des Doktoranden – entspricht durchaus nicht den Vorstellungen, die sich Natascha Greilach von dem jungen Mann gemacht hat. Sportlich hätte er sein müssen, mit schwarzen Locken und dunklen Augen. Der, den sie nun beherbergt, ist ein schwerfälliger, scheuer Kettenraucher, der immerzu auf sein Mobiltelefon starrt. Doch nach der ersten Enttäuschung ist die Gastgeberin fest entschlossen, sich von solchen "Kleinigkeiten" nicht abschrecken zu lassen. Zu sehr ist der junge Mann im Laufe der Zeit zu einem Anker für ihre Sehnsüchte geworden.
"Es war ja nicht seine Schuld, dass sie ihn sich so anders ausgemalt hatte. Vielmehr war ihre derzeitige Situation daran schuld. Wie hätte sie auch sonst mit ihrem Mann hier in dieser dunklen Mühle die letzten zwei Jahre überstehen sollen? Das war doch kein Leben. Manchmal antwortete er nicht einmal mehr, wenn sie zu ihm sprach."
Defizite und Gesprächsgefechte
Die Ankunft des jungen Doktoranden lässt Jan Peter Bremer zunächst aus der Sicht von Natascha Greilach schildern. Rasch bringt sie in einem inneren Monolog die Defizite zur Sprache, unter denen sie seit Jahren leidet. Ihr Mann, ein in die Jahre gekommener Kunstmaler, scheint sich in seinem Gram über das zunehmende Desinteresse an seinem Werk immer mehr in sich zurückzuziehen. Allein zu zweit in der Abgeschiedenheit einer umgebauten Mühle fühlt sich seine Frau übersehen, unterfordert, ausgehöhlt von dem täglichen Einerlei. Jedes Gespräch mit dem Künstlergatten wird zu einem Gefecht, zu einem von Frust getriebenen und mit Vorwürfen durchsetzten Ringen – sogar nachts, im Bett.
""Du sprichst."
Natascha Greilach riss den Kopf herum und sah mit weit geöffneten Augen zu ihrem Mann hinab, der aus seinem Kissen zu ihr hinaufschaute. "Wie bitte?", fragte sie.
"Du sprichst", wiederholte er.
Sie schüttelte den Kopf. "Wie kommst du denn darauf?"
"Wie kommt man wohl darauf", antwortete er, während sich seine Augen wieder schlossen, "dass ein anderer spricht".
"Das frage ich doch dich. Du kannst mir nicht einfach vorwerfen, dass ich spreche."
Er öffnete wieder die Augen. "Du hast wahrscheinlich im Schlaf gesprochen."
"Ich habe doch gar nicht geschlafen."
"Dann hast du eben laut gedacht."
Sie schlug mit der Faust auf die Matratze. "Ich denke nicht laut!", rief sie.
"Jetzt ist aber mal gut", zischte ihr Mann und richtete sich auf "was soll der junge Doktorand denken, wenn er dich hört.""
Natascha Greilach riss den Kopf herum und sah mit weit geöffneten Augen zu ihrem Mann hinab, der aus seinem Kissen zu ihr hinaufschaute. "Wie bitte?", fragte sie.
"Du sprichst", wiederholte er.
Sie schüttelte den Kopf. "Wie kommst du denn darauf?"
"Wie kommt man wohl darauf", antwortete er, während sich seine Augen wieder schlossen, "dass ein anderer spricht".
"Das frage ich doch dich. Du kannst mir nicht einfach vorwerfen, dass ich spreche."
Er öffnete wieder die Augen. "Du hast wahrscheinlich im Schlaf gesprochen."
"Ich habe doch gar nicht geschlafen."
"Dann hast du eben laut gedacht."
Sie schlug mit der Faust auf die Matratze. "Ich denke nicht laut!", rief sie.
"Jetzt ist aber mal gut", zischte ihr Mann und richtete sich auf "was soll der junge Doktorand denken, wenn er dich hört.""
Zwischen Beckett und Loriot
Was denkt der junge Doktorand? Diese Frage stellt sich der Leser sehr bald in diesem mal an Loriot, mal an Beckett erinnernden Kammerstück über ein alterndes Paar, das schamlos seine Sehnsüchte auf den fremden Besucher projiziert. In dessen Person scheinen sich gleich zwei attraktive Eigenschaften zu vereinen: Er ist jung, und er ist ein Doktorand - ein Experte also, der nun tatsächlich gekommen ist, um eine Arbeit über das kaum noch rezipierte Werk Günter Greilachs zu verfassen. Während seine Frau den Besucher als willkommene Abwechselung in ihrem tristen Künstlergattinnenalltag sieht, betrachtet der Maler ihn als Adressaten für seine egozentrischen Botschaften.
"Gerade mit seinem jüngsten Werkzyklus, den er erst vor einigen Wochen abgeschlossen hatte, hatte er sich noch einmal selbst übertroffen. Regelrecht gepackt hatte es ihn. Wie aus einem tiefen, dunklen See, so hatte er die Motive zu sich heraufgefischt. Insofern hätte der junge Doktorand zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Das hatte er ihm gestern sogar noch gesagt."
Junger Mann in der Zwickmühle
Späten Ruhm, wenn nicht gar Unsterblichkeit erhofft sich der Künstler von dem jungen Mann, ohne nach dessen Interessen und Befindlichkeiten zu fragen. Florian ist da, und zwar seinetwegen, nichts anderes zählt für Günter Greilach. Seine Frau, die ebenfalls die Aufmerksamkeit des gemeinsamen Gastes auf sich zu ziehen sucht, um endlich wieder Wertschätzung zu erfahren, wird zu einem Störfaktor. In erschütternd komischen Dialogen treibt Jan Peter Bremer die Selbstentblößung des alternden Paares weit über jede Peinlichkeitsgrenze. Zwischendurch wechselt er geschickt immer wieder die Perspektiven, bis schließlich, etwa in der Mitte des Buches, auch der unfreiwillige Zeuge des verbalen ehelichen Gemetzels, der junge Doktorand, seine Motive für die Anwesenheit an diesem Ort offenbart. Florian ist nämlich mitnichten ein Doktorand, sondern ein junger Mann, der in Berlin seine Bestimmung darin gefunden hat, in einem Sprachcafé mit Geflüchteten zu arbeiten. Allein die Drohung seiner Mutter, ihm den Geldhahn abzudrehen, wenn er nicht seine als Abiturient in Erwägung gezogene Künstlerkarriere forciert, hat ihn zu Günter Greilach in die Mühle geführt, wo er nun gewissermaßen in der Zwickmühle sitzt.
"Dass er nur aufgrund der Drohung seiner Mutter zu ihm gefahren war, war doch keine Geschichte, die diesen Mann interessierte. Dennoch musste er ihm irgendwie die Wahrheit sagen. Auf keinen Fall durfte er ihn in dem Glauben belassen, er säße an einer längeren Arbeit über sein Werk. Auch dass er nicht, wie es gestern vielleicht bei Herrn Greilach angekommen war, seit Jahren und das hauptsächlich im Internet über ihn recherchiere, musste er ihm in diesem Zusammenhang erklären."
Ein fast zeitloser Roman
Aus dieser Konstellation hat Jan Peter Bremer eine hochkomplexe und dennoch leicht erzählte Geschichte über die Absurditäten des Daseins entwickelt. Der Blick des Autors auf seine Protagonisten ist unbestechlich, jedoch nie unbarmherzig. Wenn er nach und nach die Täuschungen und Selbsttäuschungen seiner krisengeschüttelten Figuren bloßlegt, macht er sie zugleich in ihrer eigenen Logik verständlich. Die Angst vor Vergänglichkeit, den schwierigen Umgang mit Bedeutungsverlust im Alter, die vergiftete Routine einer erstarrten Beziehung, die unstillbare Sehnsucht nach Anerkennung, dem Gefühl, gebraucht zu werden, den rasenden Stillstand im Elfenbeinturm – all das hat Jan Peter Bremer in seinem kammerspielartigen Roman verdichtet, der trotz seiner Kürze nie überfrachtet wirkt. Das liegt vor allem an einer auf jeden Ballast verzichtenden, präzisen Sprache, sowie an Bremers Talent, seine Geschichte zwischen Komik und Tragik perfekt auszutarieren. So ist "Der junge Doktorand" - abgesehen von der Flüchtlingsthematik - ein fast zeitloser Roman geworden, in dem der Autor sogar noch Platz für ein paar Seitenhiebe gegen Provinzialität und Ränkespiele im Kunstbetrieb findet. Ein Buch, das, so schnell es sich liest, nachwirkt, weil es auf fast spielerische und stets originäre Weise von existenziellen Bedrängnissen und den Zumutungen des Lebens erzählt, vor denen niemand gefeit ist.
Jan Peter Bremer: "Der junge Doktorand"
Berlin Verlag
176 Seiten, 20 Euro.
Berlin Verlag
176 Seiten, 20 Euro.