Es ist ein schreckliches Buch, eines von diesen, die man nicht vor dem Einschlafen lesen darf - sonst drohen Albträume. Das Buch des aus Polen stammenden Historikers Jan Gross mit dem Titel "Sasiedzi" - "Nachbarn" zeichnet ein Ereignis nach, das jahrzehntelang in der polnischen Öffentlichkeit tabuisiert worden ist.
Vor genau 60 Jahren, als die deutsche Wehrmacht und die SS nach Russland marschierten, kamen sie auch nach Jedwabne, einer kleinen Ortschaft in Ostpolen. Seit Jahrhunderten lebten dort Juden und Polen miteinander. Im Sommer 1941 war dort etwa die Hälfte der Bevölkerung jüdischer Abstammung, über 1600 Menschen. Schon wenige Tage nachdem die Nazis in die Stadt kamen, begann ein grausamer Judenpogrom - von Deutschen angestiftet und organisiert und von Polen ausgeführt.
Was in Jedwabne wenige Tagen nach dem Einmarsch der SS passierte, erzählt Jan Gross anhand von Augenzeugenaussagen, die aus Akten eines 1949 in Polen geführten Prozesses stammen. Zugleich ein Beweis dafür, dass man sich seinerzeit mit dem Thema doch befasste. Zuerst wurden vereinzelt Juden umgebracht - sie wurden gesteinigt, erstochen und ertränkt. Später dann durfte man in der Stadt keine Lebensmittel an sie verkaufen. Nach zwei Wochen schließlich gab die zehnköpfige SS-Truppe den Befehl, alle in Jedwabne noch lebenden Juden zu vernichten. Zur Ausführung des Mordes haben sich aus Eigeninitiative polnische Männer gemeldet, mit dem Einverständnis der SS selbst, aber auch der örtlichen Bevölkerung. Ganz am frühen Morgen begann das Massaker:
"Alle Zusammengetriebenen mussten sich ihre eigenen Gräber graben und dabei auf Befehl singen und tanzen. Auch Kinder und Frauen wurden öffentlich und qualvoll hingerichtet. Spezielle Gruppen bewachten die Stadtgrenzen, damit niemand entkommen konnte. Am Abend wurden alle Juden in einen Stall getrieben. Um die Scheune herum gossen die Polen Benzin aus und zündeten sie dann an. Nur sieben Menschen überlebten das Massaker - in einem Versteck bei einer polnischen Familie."
Das Buch schlug in die polnische Öffentlichkeit ein wie eine Bombe und provozierte eine große Diskussion über den Antisemitismus in Polen. Und dies, obwohl eine Debatte über das jüdisch-polnische Verhältnis jahrzehntelang als Tabu galt. Um so größer ist der Schock, den dieses Buch über das Jedwabne-Massaker auslöste - insbesondere bei der jungen Generation Polens. Diese Wissenslücken sind bei der aktuellen Diskussion über das Buch von Jan Gross spürbar. Für den Autor, der Ende der 60er Jahre nach Amerika auswanderte und heute als Historiker an der New Yorker-Universität lehrt, ist eine neue Historiographie der polnisch-jüdischen Beziehungen notwendiger denn je. Jan Gross:
"Die Geschichte, wie sie heute über die polnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg erzählt wurde, ist verlogen. Die Lüge besteht darin, dass sie in Polen noch gar nicht erzählt worden ist. Nehmen wir das Beispiel von Jedwabne: Über eintausendsechshundert Menschen wurden dort von ihren polnischen Nachbarn umgebracht, und fast 60 Jahre später gibt es immer noch keinen angemessenen Gedenkstein, der daran erinnern würde. Trotz eines Prozesses, der nach dem Krieg stattgefunden hat, wurde das Thema verdrängt und tabuisiert. Anhand dieses einen Beispiels kann man schon sehen, wie groß die Geschichtslücken sind. Es ist dennoch kein polnisches Phänomen. Jedes Land in Europa, das von den Nazis besetzt war, muss sich ehrlich mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit auseinandersetzen. Denn die Demoralisierung der Bevölkerung gehörte auch zu den Methoden der Nazis. Deutschland musste als erstes der eigenen Geschichte in die Augen schauen, andere Länder kamen später, für Polen kommt die Auseinandersetzung erst jetzt. Andererseits: Wenn man bedenkt, dass es dort mehr als 40 Jahre keine Meinungsfreiheit gegeben hat, dann ist die Diskussion vielleicht doch nicht so spät gekommen." -
Nicht alle Menschen in Polen teilen diese Meinung. Die Öffentlichkeit ist gespalten. Schnell wurden Vorwürfe an den Autor laut, er habe zu wenig recherchiert und dadurch zu viel Verantwortung für den Mord in Jedwabne den Polen und zu wenig den Nazi-Uniformierten zugewiesen. Also reisten Journalisten und Historiker nach Deutschland, wo sie in den Archiven nach Dokumenten und Beweisen suchten, mit denen man die Bewohner von Jedwabne sozusagen "entschuldigen" könnte. Gefunden haben sie aber nicht viel. Jedenfalls nicht genug, um die Geschichte wieder völlig anders zu erzählen.
Zur Zeit wird die deutsche Ausgabe des Buches vorbereitet. - Der Autor hofft, dass gerade in Deutschland die Schrecken des Pogroms von Jedwabne richtig verstanden werden, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
"Wie das Buch in Deutschland aufgenommen und diskutiert wird, darüber wird die deutsche Öffentlichkeit selbst entscheiden. Ich hoffe jedenfalls, dass die deutschen Leser verstehen, dass ich damit keinesfalls Populisten oder gar Rechtsextremisten eine Argumentationshilfe reichen wollte. Denn eins habe ich in meinem Buch deutlich gemacht: Ohne die Nazis hätten solche Pogrome in Polen nicht stattgefunden. Nazis haben dazu angestiftet, es organisiert, befohlen. Deswegen darf man die Geschichte von Jedwabne nur im Zusammenhang mit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg sehen. Im unabhängigen Polen gab es keine solche Massaker zwischen irgendwelchen Bevölkerungsgruppen. Diese Methoden stammen eindeutig von den Nazis."
Am 10. Juli jährt sich das Pogrom von Jedwabne zum 60. Mal. Die einen in Polen schlagen sich jetzt auf die Brust, rufen auf, die Schuld zu bekennen und fordern dazu eine offizielle Entschuldigung bei den Opfern. Die anderen - darunter auch ein großer Teil der heutigen Bewohner von Jedwabne - wissen offenbar nicht so recht, wie sie mit der Diskussion umgehen sollen. Sie würden sie am liebsten weiter verdrängen. Welche Stimmen am sechzigsten Jahrestag schließlich überwiegen, wird für Polen mehr als nur eine symbolische Bedeutung haben. Beide Positionen - soviel ist klar - gehören jedoch zum aktuellen Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Und das wissen deutsche Leser vielleicht besonders gut.
Rozalia Romaniec über Jan Tomasz Gross' Bestseller in Polen, der dort bei Pogranicze in Sejny erschienen ist und für 30 zloty - umgerechnet 15 Mark - erhältlich ist. Die polnische Originalausgabe hat 163 Seiten. Spätestens im September soll nach Angaben des Verlagshauses C.H. Beck auch die deutsche Übersetzung erscheinen.
Vor genau 60 Jahren, als die deutsche Wehrmacht und die SS nach Russland marschierten, kamen sie auch nach Jedwabne, einer kleinen Ortschaft in Ostpolen. Seit Jahrhunderten lebten dort Juden und Polen miteinander. Im Sommer 1941 war dort etwa die Hälfte der Bevölkerung jüdischer Abstammung, über 1600 Menschen. Schon wenige Tage nachdem die Nazis in die Stadt kamen, begann ein grausamer Judenpogrom - von Deutschen angestiftet und organisiert und von Polen ausgeführt.
Was in Jedwabne wenige Tagen nach dem Einmarsch der SS passierte, erzählt Jan Gross anhand von Augenzeugenaussagen, die aus Akten eines 1949 in Polen geführten Prozesses stammen. Zugleich ein Beweis dafür, dass man sich seinerzeit mit dem Thema doch befasste. Zuerst wurden vereinzelt Juden umgebracht - sie wurden gesteinigt, erstochen und ertränkt. Später dann durfte man in der Stadt keine Lebensmittel an sie verkaufen. Nach zwei Wochen schließlich gab die zehnköpfige SS-Truppe den Befehl, alle in Jedwabne noch lebenden Juden zu vernichten. Zur Ausführung des Mordes haben sich aus Eigeninitiative polnische Männer gemeldet, mit dem Einverständnis der SS selbst, aber auch der örtlichen Bevölkerung. Ganz am frühen Morgen begann das Massaker:
"Alle Zusammengetriebenen mussten sich ihre eigenen Gräber graben und dabei auf Befehl singen und tanzen. Auch Kinder und Frauen wurden öffentlich und qualvoll hingerichtet. Spezielle Gruppen bewachten die Stadtgrenzen, damit niemand entkommen konnte. Am Abend wurden alle Juden in einen Stall getrieben. Um die Scheune herum gossen die Polen Benzin aus und zündeten sie dann an. Nur sieben Menschen überlebten das Massaker - in einem Versteck bei einer polnischen Familie."
Das Buch schlug in die polnische Öffentlichkeit ein wie eine Bombe und provozierte eine große Diskussion über den Antisemitismus in Polen. Und dies, obwohl eine Debatte über das jüdisch-polnische Verhältnis jahrzehntelang als Tabu galt. Um so größer ist der Schock, den dieses Buch über das Jedwabne-Massaker auslöste - insbesondere bei der jungen Generation Polens. Diese Wissenslücken sind bei der aktuellen Diskussion über das Buch von Jan Gross spürbar. Für den Autor, der Ende der 60er Jahre nach Amerika auswanderte und heute als Historiker an der New Yorker-Universität lehrt, ist eine neue Historiographie der polnisch-jüdischen Beziehungen notwendiger denn je. Jan Gross:
"Die Geschichte, wie sie heute über die polnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg erzählt wurde, ist verlogen. Die Lüge besteht darin, dass sie in Polen noch gar nicht erzählt worden ist. Nehmen wir das Beispiel von Jedwabne: Über eintausendsechshundert Menschen wurden dort von ihren polnischen Nachbarn umgebracht, und fast 60 Jahre später gibt es immer noch keinen angemessenen Gedenkstein, der daran erinnern würde. Trotz eines Prozesses, der nach dem Krieg stattgefunden hat, wurde das Thema verdrängt und tabuisiert. Anhand dieses einen Beispiels kann man schon sehen, wie groß die Geschichtslücken sind. Es ist dennoch kein polnisches Phänomen. Jedes Land in Europa, das von den Nazis besetzt war, muss sich ehrlich mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit auseinandersetzen. Denn die Demoralisierung der Bevölkerung gehörte auch zu den Methoden der Nazis. Deutschland musste als erstes der eigenen Geschichte in die Augen schauen, andere Länder kamen später, für Polen kommt die Auseinandersetzung erst jetzt. Andererseits: Wenn man bedenkt, dass es dort mehr als 40 Jahre keine Meinungsfreiheit gegeben hat, dann ist die Diskussion vielleicht doch nicht so spät gekommen." -
Nicht alle Menschen in Polen teilen diese Meinung. Die Öffentlichkeit ist gespalten. Schnell wurden Vorwürfe an den Autor laut, er habe zu wenig recherchiert und dadurch zu viel Verantwortung für den Mord in Jedwabne den Polen und zu wenig den Nazi-Uniformierten zugewiesen. Also reisten Journalisten und Historiker nach Deutschland, wo sie in den Archiven nach Dokumenten und Beweisen suchten, mit denen man die Bewohner von Jedwabne sozusagen "entschuldigen" könnte. Gefunden haben sie aber nicht viel. Jedenfalls nicht genug, um die Geschichte wieder völlig anders zu erzählen.
Zur Zeit wird die deutsche Ausgabe des Buches vorbereitet. - Der Autor hofft, dass gerade in Deutschland die Schrecken des Pogroms von Jedwabne richtig verstanden werden, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
"Wie das Buch in Deutschland aufgenommen und diskutiert wird, darüber wird die deutsche Öffentlichkeit selbst entscheiden. Ich hoffe jedenfalls, dass die deutschen Leser verstehen, dass ich damit keinesfalls Populisten oder gar Rechtsextremisten eine Argumentationshilfe reichen wollte. Denn eins habe ich in meinem Buch deutlich gemacht: Ohne die Nazis hätten solche Pogrome in Polen nicht stattgefunden. Nazis haben dazu angestiftet, es organisiert, befohlen. Deswegen darf man die Geschichte von Jedwabne nur im Zusammenhang mit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg sehen. Im unabhängigen Polen gab es keine solche Massaker zwischen irgendwelchen Bevölkerungsgruppen. Diese Methoden stammen eindeutig von den Nazis."
Am 10. Juli jährt sich das Pogrom von Jedwabne zum 60. Mal. Die einen in Polen schlagen sich jetzt auf die Brust, rufen auf, die Schuld zu bekennen und fordern dazu eine offizielle Entschuldigung bei den Opfern. Die anderen - darunter auch ein großer Teil der heutigen Bewohner von Jedwabne - wissen offenbar nicht so recht, wie sie mit der Diskussion umgehen sollen. Sie würden sie am liebsten weiter verdrängen. Welche Stimmen am sechzigsten Jahrestag schließlich überwiegen, wird für Polen mehr als nur eine symbolische Bedeutung haben. Beide Positionen - soviel ist klar - gehören jedoch zum aktuellen Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Und das wissen deutsche Leser vielleicht besonders gut.
Rozalia Romaniec über Jan Tomasz Gross' Bestseller in Polen, der dort bei Pogranicze in Sejny erschienen ist und für 30 zloty - umgerechnet 15 Mark - erhältlich ist. Die polnische Originalausgabe hat 163 Seiten. Spätestens im September soll nach Angaben des Verlagshauses C.H. Beck auch die deutsche Übersetzung erscheinen.