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25 Jahre nach dem Tour-Sieg
Jan Ullrich - Biographie eines Grenzgängers

Held der Landstraße, Lokomotive für den Radsport, Galionsfigur eines Leistungsbetrugs: Vor 25 Jahren gewann Jan Ullrich die Tour de France. Doch wer dieser Ausnahmeathlet wirklich ist, blieb bis heute ein Rätsel.

Von Jürgen Kalwa |
Jan Ullrich bei der Tour de France 1997
Jan Ullrich bei der Tour de France 1997 (dpa / picture alliance / Augenklick/Roth)
Der Film ist schrullig und spielerisch, aber arbeitet sich an Fragen mit Tiefgang ab: Was ist Realität? Was ist Identität? Er heißt "Being John Malkovich".
"Da ist so ein Türchen in meinem Büro. Es ist eine Pforte, und sie führt in das Innere von John Malkovich. Man sieht die Welt durch John Malkovichs Augen."
Auf so etwas müssen es die beiden Dokumentarfilmer Ole Zeisler und Uli Fritz abgesehen haben, als sie mit ihrem Projekt begannen: "Being Jan Ullrich". Denn das wäre was: Die Welt endlich durch die Augen des einstigen Radsportidols zu sehen, das vor 25 Jahren Fans und Reportern den Atem raubte. Als Ullrich auf dem Weg hinauf nach Andorra die Weltelite abhängte, ehe irgendwann der Absturz begann.          

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"Jan Ullrich jetzt scheint er noch ein bisschen Gas zu geben. Die Startnummer 8. Team Deutsche Telekom."

In das Innere des Protagonisten drangen die Filmemacher aber nicht vor

In das Innere des Protagonisten drangen die Filmemacher aber nicht vor. Denn der weigerte sich mitzumachen. Seine unmittelbare Beteiligung besteht aus angejahrten Archivschnipseln. Aber muss man das bedauern? Ullrich gab, nachdem die ARD die insgesamt 160 Minuten lange, fünfteilige Doku ausgestrahlt hatte, auf Instagram folgenden extrem kurzen Kommentar ab: 
"Natürlich habe ich mir die auch angeschaut. Und es hat große Emotionen in mir geweckt. Ich weiß, ich habe ein sehr intensives Leben hinter mir. Mit allen Höhen und Tiefen."

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Höhen. Tiefen. Große Emotionen

Höhen. Tiefen. Große Emotionen. Gewiss. So etwas können Filmbilder wachrufen. Weil sie Nähe inszenieren und Menschen beim Denken und Reden einfangen. Aus den Aussagen und Mutmaßungen formen sich Gefühle und Projektionen. Und ein Narrativ.
Wer mehr will, muss sich mit anderen Augen an ein solches Thema heranpirschen. Am besten beim Lesen von Büchern wie den beiden, die vor wenigen Tagen erschienen sind und Ullrichs Karriere ebenfalls ohne dessen Input nachzeichnen. Beide Autoren - der in New York lebende deutsche Journalist Sebastian Moll und der in Berlin lebende englische Journalist Daniel Friebe – bemühten sich durchaus. Friebe im Gespräch mit dem Deutschlandfunk:
"Ich habe es mehrfach versucht. Das erste Mal 2015, als ich seinen damaligen Manager in Gütersloh getroffen habe."

"Ich wollte die ganze Geschichte erzählen"

Aber wer sein Buch liest, wird feststellen: "Jan Ullrich: The Best There Never Was" kommt auf seinen mehr als 400 inhaltsreichen Seiten sehr gut ohne die Mitwirkung der Hauptfigur aus. Warum? Der Engländer versucht gar nicht erst, sich in das Innere von Ullrich hineinzubohren. Er liefert mit dem Bericht seiner Recherchen und den zahllosen Gesprächen mit anderen Fahrern und Rivalen, mit Managern und Helfern, seinen Blick auf die Welt: einen Blick von außen, der zum Verständnis einer so komplexen Figur wie Ullrich schlichtweg unersetzlich ist.
Nicht nur der Aufwand war enorm. Das fertige Puzzle wirkt wie das Meisterwerk eines Rembrandt oder Hieronymus Bosch - detailreich, sensibel, sachkundig, dicht und üppig.  
“Ich wollte die ganze Geschichte erzählen. Jan Ullrich im Kontext seiner schwierigen Kindheit und des DDR-Sportsystems, des riesigen Gebildes namens Telekom und des westdeutschen Sportsystems. Und vor allem im Kontext des Profi-Radsports, in dem Betrug gang und gäbe war, aber von den Beteiligten nicht als Betrug betrachtet wurde.”
Es dauerte Jahre, um aus dem umfangreichen Material das zu formen, was sich nun durch den Text zieht.           
"Ein kühler, leidenschaftsloser Blick ohne das Bedürfnis, etwas oder irgendjemanden bloßzustellen."

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Die Rolle des Publikums und der Medien in diesem System

Das Konzept von Sebastian Moll für sein Buch "Ulle - Geschichte eines tragischen Helden" funktioniert auf eine ähnliche Weise. Denn ihm, der während Ullrichs großer Zeit als Reporter mehrfach die Tour de France begleitet hatte, war ein, wie er es nennt, holistischer Ansatz wichtiger.
"Weil mein primäres Interesse nicht so sehr die Details waren. Wie war das jetzt wirklich? Wann hat er das erste Mal EPO genommen? Sondern weil ich am Beispiel von Jan Ullrich das ganze System ‘Radsport’ oder vielleicht sogar ‘Spitzensport insgesamt’ beleuchten wollte."
In diesem System, sagt Moll, hätten auch das Publikum und die Medien eine wichtige Rolle gespielt. Das scheint seine Helden hierzulande immer zunächst ekstatisch zu feiern. Was jedoch irgendwann droht, mächtig umzukippen:   
"Ich glaube, dass Jan Ullrich durchaus ein Opfer dieser Dynamik war. Diese Empörungsorgie, die 2006 in Deutschland losgebrochen ist. Das hat mir damals schon sauer aufgestoßen. Das war Sportbetrug, einerseits. Aber dieses Ausmaß an Kriminalisierung und Ausgrenzung, das fand ich völlig überzogen. Aber ich bin mal gespannt, ob sich das Bild jetzt ein bisschen wandelt. Und wie jetzt rund um das 25. Jubiläum von Ullrichs Tour-Sieg Ullrichs Vita noch mal verhandelt wird. Das da vielleicht auch wieder Türen aufgehen."
Türen wie die im Kino zu seinem Innersten und zu seiner Identität allerdings vermutlich nur, wenn Ullrich endlich reinen Tisch macht. Und nicht nur erklärt, wieso er sich damals gedopt hat. Sondern auch, weshalb er all die Jahre um diesen Teil der Geschichte einen großen Bogen gemacht hat. Davon hätten alle etwas. Aber vor allem auch der Mann im Zentrum dieser Geschichte.
Daniel Friebe: „Jan Ullrich: The Best There Never Was“ (Pan Macmillan, auf Englisch, 464 Seiten, 22,80 Euro) 
Sebastian Moll: „Ulle - Jan Ullrich. Geschichte eines tragischen Helden“ (Delius-Klasing, 180 Seiten, 22 Euro
Ole Zeisler/Ulli Fritz: „Being Jan Ullrich“ (fünfteilige Fernsehdokumentation der ARD)