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Japan
Monarchie unter Beobachtung

Kaiser Akihito steht für ein Japan als zivilisierte, friedliebende Nation, die aus den hegemonialen Irrwegen der Vergangenheit gelernt hat. Der neuen nationalistischen Regierung ist er damit offenbar ein Dorn im Auge.

Von Jürgen Hanefeld |
    Ein ungeheurer Vorgang: Beim Herbstfest des Tenno am 31. Oktober im Akasaka Imperial Garden überreicht ein Gast dem Kaiser einen Brief. Mit versteinertem Lächeln gibt der Monarch das ungeöffnete Schreiben an den Obersten Kammerherrn weiter. Woanders wäre das vielleicht keiner Erwähnung wert. In Japan aber: ein Eklat! - Taro Yamamoto, der ihn verursacht hat, ist ein 39-jähriger Anti-Atomkraft-Aktivist, der im Sommer in das japanische Oberhaus gewählt worden ist. Nur deshalb konnte er an dem Empfang teilnehmen. Kurz darauf erklärt er vor Reportern:
    "Ich wollte seine Majestät nur auf die Folgen von Fukushima hinweisen. Es ist vielleicht nicht höflich, ihn direkt anzusprechen. Aber ich wollte ihm sagen, wie die verstrahlten Kinder leiden, unter welchen entsetzlichen Bedingungen die Arbeiter in der Kraftwerksruine schuften und wie miserabel das ganze Problem behandelt wird. Ich wüsste nicht, wie man den Kaiser dadurch politisch missbrauchen könnte."
    Die Folgen: Wütende Abgeordnete fordern Yamamotos Rauswurf aus dem Parlament, seitenlange Beschimpfungen des Missetäters in den Zeitungen, Empörung allenthalben. Am Ende wird Yamamoto von der Teilnahme an kaiserlichen Zeremonien ausgeschlossen. Die öffentliche Übergabe des Briefes gilt im politischen Japan nicht nur als Verletzung der Etikette, sondern als Verstoß gegen die Verfassung.
    "Artikel 4 der japanischen Verfassung besagt, der Kaiser darf nur solchen Staatsakten beiwohnen, welche die Verfassung vorsieht. Er darf keinerlei Macht gegenüber der Regierung ausüben."
    Nach allgemeiner Auffassung bedeutet das: Der Kaiser nimmt nur an politisch neutralen Zeremonien teil. Der Vorwurf an den aufmüpfigen Abgeordneten lautet, er habe das Gartenfest in eine politische Bühne verwandelt und den Kaiser für seine Mission benutzt. Das sei der schlimmste Vorfall dieser Art seit 1947, schäumte ein Parlamentarier, und bezog sich dabei auf das Jahr, in dem Japans Verfassung in Kraft trat. Aus dem Palast verlautete später, seine Majestät habe den Brief nicht gelesen.
    In prächtige Brokatgewänder gekleidet, versetzen die 26 "Hofmusiker des Kaiserlichen Haushalts" - wie sie offiziell heißen - im eigens zu diesem Zweck errichteten Palast-Theater das Publikum in eine andere Zeit. Sie spielen genau so und tanzen genau das, was sie von ihren Vorfahren gelernt haben. Kein Ton ist verändert, kein Schritt ist aufgeschrieben. Einige Stücke sind seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert - von Generation zu Generation. Noch unter den heutigen Hofmusikern sind Söhne, Enkel und Urenkel früherer Hofmusiker zu finden. Eine ungebrochene Tradition. Eine Tradition wie die Dynastie der Kaiser selbst. Der offiziellen Chronologie zufolge ist der amtierende Monarch der 125. auf dem Chrysanthemen-Thron.
    "Der Ursprung der japanischen Monarchie liegt im Frühnebel der Geschichte. Alten Chroniken zufolge stammt der erste Tenno von der Sonnengöttin Amaterasu ab. Er soll das Kaiserhaus im Jahre 660 vor unserer Zeitrechnung begründet haben. Doch erst im Laufe der Jahrhunderte schälen sich aus der langen Reihe mythischer Himmelsfürsten auch historische Gestalten heraus. Als gesichert gilt, dass die kaiserliche Familie auf eine 1300 Jahre währende Geschichte zurückblicken kann. Tenno Akihito repräsentiert damit die älteste Erbmonarchie der Welt.
    Vorbild und Symbol seines Volkes
    Zwischen den beiden Begebenheiten, der Vorführung der Kaiserlichen Hofkapelle und dem Gartenfest des Tenno, lagen keine zwei Wochen. Beide Ereignisse finden nur zweimal im Jahr statt, beide vor ausgesuchtem Publikum. Und doch zeigen sie den Spagat, den Japan seinem Kaiser abverlangt - zwischen uralter, festgefügter Tradition und den Anforderungen einer modernen Monarchie. Die Gartenfeste sind eine Nachkriegserfindung. Verdiente Bürger, Künstler, Sportler, Wissenschaftler werden vom Kaiser begrüßt. Für den Tenno eine willkommene Gelegenheit, mit dem Volk zu verkehren. Vor dem Krieg hat es das nie gegeben. Da galt der Kaiser als lebender Gott und war dem Volk gänzlich entrückt. Die Gartenfeste bezeugen das Gegenteil: die Verbürgerlichung des Tenno. Akihito ist kein Gott, sondern ein Mensch, ein tadelloser allerdings, Vorbild und Symbol seines Volkes.
    Der Kaiser als Symbol, das bedeutet: Ohne sich in Politik, Militär oder Religion einzumischen, ist er Ausdruck des Geistes der Verfassung; vor allem von Artikel 9, dem Verzicht auf Krieg, der Gleichheit der vier Stände, der Redefreiheit. Ein Symbol der Demokratie.
    Professor Yuji Otabe ist Spezialist in diesen Fragen, ein Historiker, der einst in die Regierungskommission zur Reform des Kaiserhauses berufen wurde. Die eher abstrakte Funktion des Kaisers als Symbol, sagt Otabe, sei aber nur eine von Dreien.
    Die erste ist natürlich der Kaiser als Oberhaupt der vornehmsten Familie des Landes. Das Kaiserhaus ist ja von alters her Dreh- und Angelpunkt der japanischen Kultur im geistigen, politischen und militärischen Sinne. Das ist der Kern, das Fundament, das aus alter Zeit überliefert ist.
    Dabei regierte der Tenno als allumfassende Autorität nur im siebten und achten Jahrhundert. Danach war seine Funktion fast immer eingeschränkt. 700 Jahre lang - von 1185 bis 1867 - wurde Japan von Shogunen regiert, von mächtigen Militärherrschern. Den Tenno beließen sie im Amt, weil jede stabile Herrschaft eine übergeordnete Legitimation braucht. Deren Quelle war in Japan der Tenno. Alle Shogune ließen sich deshalb vom Tenno im Amt bestätigen, auch wenn der gar keine Alternative hatte.
    Dann aber gibt es noch die dritte Funktion. Eine Rolle, die dem Kaiser niemand nehmen und niemand abnehmen kann: Der Tenno nicht nur Oberhaupt der vornehmsten Familie und Symbol der Demokratie, er ist auch Oberster Priester des Shinto.
    "Im religiösen Sinn verbindet der Tenno Götter und Menschen miteinander. Schließlich ist er ein Nachfahre jenes Wesens, das von der Sonnengöttin auf die Erde geschickt wurde. Auch wenn die meisten Japaner das für einen Mythos halten: Es bleibt die vornehmste Aufgabe des Kaisers, die japanische Kultur und Tradition zu wahren."
    Ohne den Tenno würde der staatlich geleitete Shinto großen Schaden nehmen
    Professor Nobutaka Inoue ist Shinto-Spezialist an einer von zwei Universitäten in Japan, die das Fach lehren und Priester ausbilden. Shinto sei Japans ureigene Religion, sagt er. Ihre sprichwörtlichen "acht Myriaden Götter" sind Geister, die in jeder Blume, jedem Baum, jedem See oder Berg vorkommen können, in Naturerscheinungen aller Art, aber auch als Gegenstände, Menschen oder abstrakte Wesen. Angebetet werden sie in sogenannten Schreinen. Das können kleine Simse im heimischen Hausflur sein, ein überdachter Altar irgendwo neben dem Treppenabgang zur U-Bahn, oder ein großes, prachtvolles Gebäude in einem parkartigen Gelände.
    "Es gibt im Shinto zwei Strömungen: den staatlich organisierten Shintoismus und den volkstümlichen Glauben an die beseelte Natur. Für die meisten Japaner ist das gar keine Religion, sondern ein Bündel von Gewohnheiten, von Sitten und Gebräuchen. Zum Beispiel besucht man zu Neujahr oder an anderen Feiertagen einen Schrein. Das gehört einfach zur japanischen Kultur. Dieser zivile Shintoismus hat eine lange Geschichte und wird weiter existieren, unabhängig von Schicksal der Kaiserfamilie. Die aber gehört historisch gesehen zum Staats-Shinto. Ohne den Tenno würde der staatlich geleitete Shinto großen Schaden nehmen."
    Gemeint ist die "Jinja Honcho", eine Körperschaft, die rund 80.000 religiöse Anlagen verwaltet und betreibt, und zwar seit 1946, als die amerikanischen Besatzer die Trennung von Staat und Religion verfügten. Bis dahin war der politische Shintoismus als Staatsreligion sogar offiziell mit dem Tenno als Staatsoberhaupt verbunden. Doch obwohl die Nachkriegsverfassung das alles beseitigt hat, arbeiten zahllose national-konservative Gruppierungen an seiner Wiederauferstehung.
    Ihr Einfluss reicht tief ins Parlament. 250 Abgeordnete, mehr als ein Drittel, sind als Shinto-Lobby organisiert, darunter 16 der 19 Minister im amtierenden Kabinett von Shinzo Abe. Der Regierungschef selbst ist sogar Präsident der Shinto-Parlamentsgruppe, deren Mission es ist - Zitat - "die spirituellen Werte Japans wiederzubeleben". Der im Ausland bekannteste Shinto-Schrein heißt Yasukuni. Dort wird auch der hingerichteten Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg gedacht. Doch das stört Minister der rechtslastigen Regierung Abe ebenso wenig wie ultrakonservative Mitglieder des Parlaments. Im Gegenteil. Zum Frühlingsfest im April pilgerten 168 Abgeordnete hierher, mehr als jemals zuvor. Dabei weiß jeder Japaner: Als Amtsträger dort zu erscheinen oder - wie der derzeitige Premierminister - Spenden an den Schrein zu entrichten, ist ein politisches Bekenntnis.
    Der Kaiser hat als Kind schon bittere Erfahrungen mit dem Krieg gemacht. Er wurde mehrmals verschickt, hatte ständig Angst vor dem Tod, der Niederlage, dem Auslöschen seiner Familie. All das hat zu einer tiefen Beschäftigung mit Artikel 9 der Verfassung geführt, dem Pazifismusgebot. Das sagt er auch bei jeder Gelegenheit öffentlich.
    "Wenn ich an die Kriegszeit zurückdenke, wünsche ich nichts sehnlicher, als dass sich das schwere Unheil des Krieges nie wiederholen möge. Im tiefen Gedenken an die Opfer des Krieges bete ich um Frieden der Welt und das weitere Gedeihen unseres Landes."
    Der Kaiser am 15. August dieses Jahres, dem Gedenktag für die Kriegstoten. Wenige Tage nach der Kernkraft-Katastrophe in Fukushima, sprach er in einer bewegenden Rede den Opfern Trost zu:
    "Ich möchte, dass Sie wissen, wie tief mich der Mut jener Opfer bewegt, die die Katastrophe überlebt und all ihre Kräfte zusammengenommen haben, um zu zeigen, dass sie weiterleben werden."
    Zum Frieden zu mahnen und dem Volk nahe zu sein, so könnte man die Botschaft Akihitos beschreiben. Der Sohn des Kriegskaisers Hirohito hat seine Regentschaft unter das Motto "Heisei" gestellt, "Frieden überall". Damit hat sich die japanische Monarchie nach dem Krieg mit der neuen, demokratischen Gesellschaft verbündet, ist vom Gipfel einer autoritären Ordnung zu humanen Werten und Idealen herabgestiegen. In Akihito verkörpert sich das moderne, weltoffene Japan. Als erster Kaiser heiratete er eine Frau nach seinem Willen, eine Bürgerliche auch noch. Als erstes Kaiserpaar erzogen Michiko und Akihito ihre Kinder selbst, schickten ihre Söhne zum Studium in die USA. Seinem Motto getreu repräsentiert der Heisei-Tenno sein Land als zivilisierte, friedliebende Nation, die aus den hegemonialen Irrwegen der Vergangenheit gelernt hat. Und steht damit der neuen, nationalistischen Regierung im Wege. Der Historiker Yuji Otabe hat keine Zweifel:
    "Premierminister Abe möchte die Verfassung ändern und das politische System der Vorkriegszeit wieder einführen. Damit will er die Probleme des Landes überwinden. Der Tenno als Friedenskaiser ist dabei ein Störfaktor. Deshalb will Abe den Kaiser auf seinen eigenen politischen Kurs zwingen."
    Shinzo Abe ist erst seit einem Jahr an der Macht, in der japanischen Politik aber eine altbekannte Figur. Mit der Parole "Steh auf, Japan!" hat er dem Wahlvolk die Erweckung aus jahrzehntelanger Lethargie versprochen. Er will aufrüsten: moralisch und militärisch. Das beginnt bei der Frage der Kriegsverbrechen, die er erneut relativieren und am liebsten aus den Schulbüchern tilgen möchte, setzt sich fort über die permanenten Hakeleien mit den Nachbarn China und Südkorea und manifestiert sich in einer deutlichen Aufrüstung der sogenannten Selbstverteidigungskräfte, also dem Militär, dessen Aufgaben so lange "neu interpretiert" werden, bis sie von einer regulären Streitmacht nicht mehr zu unterscheiden sind. Gerade hat der Regierungschef sogenannte Sicherheitsgesetze durchs Parlament gepeitscht, die es ihm erlauben, kritische Beamte und Journalisten nach Gutdünken bis zu zehn Jahre wegzusperren. Er sei kein militanter Nationalist, hatte Abe auf seiner USA-Reise im Sommer ungefragt erklärt. Aber viele halten ihn genau dafür. Als Krönung seiner historischen Rolle rückwärts wünscht sich der Premierminister nichts weniger als eine neue Restauration:
    "Er will die Verfassung so ändern, dass der Kaiser der Regierung folgen muss. Ich habe den Eindruck, dass Abe schon begonnen hat, jüngere Mitglieder der kaiserlichen Familie für seine Zwecke einzuspannen und damit auch deren Rollenbild zu verändern."
    Der Auftritt einer kaiserlichen Prinzessin bei der Bewerbung Tokios als Olympiastadt 2020 war eines von vielen Indizien für diese Absicht. Akihito, der Heisei-Tenno, dürfte gegen diese Instrumentalisierungsversuche immun sein. Aber auch sein Nachfolger, Kronprinz Naruhito?
    "Naruhito gehört zur Nachkriegsgeneration. Seine Frau, Kronprinzessin Masako, hat sich als Karrierefrau auf internationalem Parkett bewegt. Das Paar steht sicher nicht für einen engstirnigen Nationalismus."
    Im Volk, sagt der Professor, herrsche weiterhin die Vorstellung, der Tenno sei, wenn schon nicht göttlich, so doch auch nicht nur von dieser Welt. 40 Mal im Jahr vollführt Akihito im Namen seines Volkes die Shinto-Rituale, so wie es seit Jahrtausenden die Pflicht des Tenno ist. Der Trost, den er und seine Familie spenden, ist dem Himmel näher als der irdischen Banalität:
    "Politiker sind schmutzig, bestechlich und missbrauchen ihre Ämter. Für Mitglieder des Kaiserhauses gilt das nicht. Ihr öffentliches Auftreten ist makellos. Sie gelten als Idealbild einer schöneren, besseren Welt."
    Sein Kollege Inoue teilt diese Meinung:
    "Der Tenno ist Teil der kulturellen Identität. Er verkörpert die Vollkommenheit in der japanischen Kultur. Politiker können das nicht. Dazu werden sie vom Volk viel zu sehr verachtet. Tennos wie Hirohito und Akihito sind ja auch im Ausland würdige Vertreter Japans. Deshalb haben sie den Rückhalt des Volkes."
    Um diese Rolle weiterhin spielen zu können, meint Professor Otabe, dürfe die kaiserliche Familie nicht in die Politik hineingezogen werden. Ganz im Gegenteil:
    "Ich meine, man sollte das Kaiserhaus von allen Zwängen der Verfassung befreien und seine Mitglieder als vornehmste Familie des Landes staatlich unterstützen. Sie könnten wieder nach Kyoto ziehen, weit weg von den Niederungen der Tokioter Politik. Man kann ihnen auch eigene wirtschaftliche Aktivitäten erlauben, was bisher nicht der Fall ist. Hauptsache ist: Der Staat muss ihre weitere Existenz garantieren."