Japan, das Reich der Zeichen, ist das Land, in dem der Reisende als Leser unterwegs ist und im Theater und in der Kalligrafie, in den Restaurants und Kaufhäusern, im Straßenverkehr und in den Spielhallen vor allem eines entziffert: dass die Zeichen auf ihn gewartet haben.
Stefanie Diekmann betrachtet in ihrem Essay "Japan Projektionen" das Verhältnis von Entdeckung und Verkennung Japans durch seine westlichen Besucher, ausgehend von den Miniaturen in dem Buch "Das Reich der Zeichen", das Roland Barthes 1970 publiziert hat.
Stefanie Diekmann, Professorin für Medienwissenschaften, lehrt seit 2012 an der Stiftung Universität Hildesheim, war zuvor Professorin für Medien und Theater an der LMU München und hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zu den Themen Film, Fotografie, Intermedialität und Dokumentation publiziert.
Das komplette Manuskript zum Nachlesen:
"Ein Traum: eine fremde (befremdliche) Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen."
In diese Formel fasst es der französische Theoretiker und Essayist Roland Barthes, der in den 60er-Jahren drei Mal nach Japan gereist ist. Er reist in einer Phase seiner Karriere, in der er sich bereits aus der Marginalität herausgearbeitet hat, die seine Existenz im Paris der 50er-Jahre bestimmte. Die Kontakte, die Vortragseinladungen, auch ins Ausland, sind nach Büchern wie Am Nullpunkt der Literatur, Mythen des Alltags oder Kritik und Wahrheit zahlreicher geworden; nicht lange vor der ersten Begegnung mit Japan steht ein längerer Arbeitsaufenthalt in den USA; aber auch wenn er davor und danach noch sehr viel unterwegs gewesen ist, hat keine dieser Reisen vergleichbaren Einfluss auf das Schreiben des Autors Barthes gehabt wie die nach Tokio und Kyoto.
1970, drei Jahre nach dem dritten und letzten Besuch, publiziert Roland Barthes Das Reich der Zeichen - L’empire des signes. Ein Bericht, so könnte man es nennen. Nur dass Barthes seine Textsammlung nicht so verstanden wissen will, was er gleich im ersten Abschnitt sehr deutlich formuliert.
"Ich kann auch ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen oder zu analysieren [...], irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen [...] aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. Und dieses System werde ich Japan nennen."
Man wäre versucht zu sagen: Er hat Nerven. Oder: Was fällt ihm eigentlich ein. Die Absage an Realitätsdarstellung, Report, Berichterstattung, die Das Reich der Zeichen einleitet, ist durchaus als kleiner Affront inszeniert. Und es ist zugleich der Versuch, von Anfang an eine andere Perspektive der Beschreibung zu etablieren. Nicht Japan als empirische Realität, sondern Japan als phantasmatisches Szenario. Keine Erklärungen zum Wesen der japanischen Kultur, sondern eine Sammlung von kurzen Texten, die vor allem von Distanz und Differenz handeln. Keine Deutung der japanischen Symbole, sondern die Entdeckung eines Symbolsystems, das von dem westlichen vollständig verschieden sein könnte.
Das Reich der Zeichen gehört mit den Titeln Fragmente einer Sprache der Liebe und Die helle Kammer bis heute zu den meist gelesenen Büchern des Essayisten Barthes. Der Affront zum Auftakt hat also nicht geschadet; tatsächlich könnte gerade der Umstand, dass sich ein Autor hier geradezu demonstrativ eine Lizenz zur Projektion ausstellt, viel zur Akzeptanz des Buches beigetragen haben.
Die ersten Abschnitte befassen sich mit der japanischen Küche
Roland Barthes reiste unter anderem auf Einladung von Maurice Pinguet, der damals als Direktor des französisch-japanischen Instituts in Tokio lebte. Dass Kenner der japanischen Kultur wie Maurice Pinguet den Ausführungen später sogar eine gewisse ethnographische Korrektheit bescheinigen, kann da eher als Postskriptum betrachtet werden.
Die ersten Abschnitte über die Erfahrungen des Reisenden im Reich der Zeichen befassen sich mit der japanischen Küche. Von Sushi, den kleinen Päckchen, die im gehobenen Fast Food-Angebot der Gegenwart so präsent sind, ist dabei keine Rede. Vielmehr beschreibt Barthes die japanische Esskultur als eine, in der Zubereitung und Verzehr, Kochen und Konsum in der Wahrnehmung scheinbar nicht voneinander zu trennen sind. Eine Küche ohne Backstage, wenn man so will, in der die Speisen im Rohzustand aufgetragen und vor den Augen der Tischgesellschaft zubereitet werden:
"Der Sukiyaki ist ein Ragout, dessen Bestandteile sämtlich bekannt und erkennbar sind, weil er vor Ihnen am Tisch, an Ort und Stelle, zubereitet wird, während Sie ihn essen. – [E]ßbare Blätter, Gemüse, eingemachte Zitronen, cremige Würfel aus Sojabohnenpaste, rohes Eigelb, rohes Fleisch und weißer Zucker. – [A]ll diese rohen Zutaten, die zunächst wie auf einem holländischen Gemälde zusammengestellt und angeordnet sind."
Das muss ihm gefallen haben. Sowohl der Aspekt des Arrangements - Barthes liebt Szenen und Tableaus - als auch die Zubereitung der Speisen bei Tisch, die der japanischen Küche in seinen Augen jeden Zug von Magie oder Geheimnistuerei nimmt. Der Reisende, seit seinem Buch über die Mythen des Alltags ein Experte darin, Zeichensysteme in ihre Bestandteile zu zerlegen, scheint nichts dagegen zu haben, wenn ihm diese Arbeit hin und wieder erspart bleibt. In seinen Schilderungen transformiert sich die Küche Japans in das Gegenprogramm all der produkt- und effektorientierten Erscheinungen, mit denen er sich als Kritiker in den Mythen des Alltags befasst hat.
Über den Geschmack des Essens schreibt er auffallend wenig. Sehr viel mehr hingegen über Bewegungen und Gesten. Die japanische Küche nach Barthes ist zunächst ein visuelles Ereignis, danach ein performatives, durch präzise Abläufe bestimmtes, wobei er sich mehr für die Gesten der Zubereitung als für die des Verzehrs interessiert. Dass die Zusammenstellung der Nahrungsmittel einer Mahlzeit als variabel vorzustellen sei, bemerkt er gleich zu Beginn, um danach, vor allem in einem Abschnitt mit dem Titel Stäbchen, zu schildern, wie bei Tisch mit dem japanischen Essbesteck operiert wird:
"Zunächst haben die Stäbchen - ihre Form sagt dies bereits zu Genüge - eine deiktische Funktion: Sie zeigen die Nahrung, bezeichnen das Stück und verleihen ihm - durch die Auswahlgeste schlechthin, d.h. durch den Index - Existenz. [...] Eine weitere Funktion des Stäbchenpaares liegt darin, das Stück Speise einzuklemmen, [...] um sie aufzuheben und zu bewegen. [...] Darin liegt ein ganzes Verhalten gegenüber der Nahrung. Deutlich sieht man dies an den langen Stäbchen des Kochs, die nicht zum Essen dienen, sondern der Vorbereitung: niemals sticht, schneidet, spaltet, verletzt das Stäbchen; es hebt nur auf, es wendet und bewegt."
Dieser prozessuale, choreografisch inspirierte Entwurf ist nicht frei von Prätention. Speisen als Partitur; Essen als Szenografie; Zerteilen, Anordnen, Bewegen als eine Kunst der Zubereitung, die alles in Handlungen und Gebärden auflöst. Die entsprechenden Texte formulieren Vergleiche mit dem Haiku, der japanischen Malerei, der Kalligrafie; und sie begeistern sich sehr betont für eine Dingwelt, die weder Schwere noch Substanz zu kennen scheint, und in der alles, inklusive der Speisen, vor allem dazu geschaffen ist, Gesten und zeremonielle Handlungen zu ermöglichen.
So wie die vier, fünf Abschnitte über die Esskultur im Land der Zeichen die Frage nahe legen, ob in ihnen nicht eine ganze Poetologie enthalten ist, könnte man auch die Frage formulieren, was diese Texte über das Verhältnis von Barthes zur Materialität erzählen: über seine Begeisterung für das Fragmentarische, Prozessuale, Partikularisierte, die in der westlichen Küche nur noch den Überfluss und die falschen Effekte zu sehen vermag. Ein paar Seiten später, wenn der Fokus von Beobachtungen in Restaurants zu Beobachtungen im Theater wechselt, wird diese Entgegensetzung sich wiederholen. Auf der Bühne des japanischen Theaters erblickt der Reisende eine Zergliederung der Zeichen, Abstraktion und Stilisierung; dazu eine besondere Schnelligkeit und Beweglichkeit der Akteure. Auf der westlichen Bühne hingegen verortet er jenen Schauspieler-Typus, der von ihm etwas bösartig als ein "gut gefettete[r] Muskel" bezeichnet wird.
Auch sonst vermittelt Das Reich der Zeichen den Eindruck, dass das Glück des Reisenden Roland Barthes wesentlich darin besteht, Materialitäten, Objekten, Körpern in einer Form zu begegnen, die er seit Langem gesucht, bislang aber nicht allzu häufig angetroffen hat. Als müsste Japan besucht oder erfunden werden, um quer durch die Schilderungen von Speisen, Schriftzügen, Paketen, Bühnenszenen, Stadtplänen und Straßenszenen einen Körper zu evozieren, der nur aus Eleganz, Zurückhaltung und Funktionalität zu bestehen scheint - wie die Körper der Spieler und Puppen des japanischen Theaters - und so leicht und so grafisch organisiert ist wie eine Origami‑Skulptur.
Barthes verordnet sich eine Diät nach der anderen
Dass Barthes sehr hart daran gearbeitet hat, seinen eigenen Körper nach diesen Prinzipien zu modellieren, ist anderswo nachzulesen. Zum Beispiel in der Biographie, die von dem Verlagshaus Éditions du Seuil zu seinem 100. Geburtstag in Auftrag gegeben wurde. Von Diäten wird dort erzählt, Radikalkuren und dem drakonischen Regime, das Barthes sich in regelmäßigen Abständen auferlegt habe, fast als müsste die Biographie jenes Autors, in dessen Spätwerk der Körper im Zustand der Beiläufigkeit und der gelassenen Beherrschung eine so große Rolle spielt, mit einer zweiten Erzählung versehen werden, die stattdessen von Disziplin und Regulierung handelt. Barthes, der sich eine Diät nach der anderen verordnet, ist akademischer Gossip. Aber es ist auch der Versuch, etwas von der Gewaltsamkeit kenntlich zu machen, die den sehr programmatischen Diskurs der Leichtigkeit grundiert.
Wenn der Körper bei Roland Barthes in Paris ein Gegenstand des Konflikts bleibt und die funktionale Eleganz nur hin und wieder und in einzelnen Werken auftritt - zum Beispiel: im Theater Brechts, in der Malerei Cy Twomblys oder in einigen alten Fotografien -, dann figuriert Japan im Universum des Autors Barthes seit dem ersten Besuch als dasjenige Land, in dem die leichten Gesten allerorten anzutreffen sind. Da der Reisende über so vieles schreibt - Orte der Hochkultur und Orte der Alltagskultur, Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände, Bühnenauftritte, Straßenszenen und Bahnhöfe -, entsteht in der Lektüre der Eindruck, dass hier auf eine Welt geblickt wird, die überall nach demselben Prinzip organisiert ist und weder Ausnahmen noch Schattenseiten kennt, jedenfalls nicht in den Beschreibungen desjenigen, der sie durch seine Texte betrachtet.
"[D]ie Sicherheit und Unabhängigkeit der Geste verweist nicht länger auf Selbstgewissheit [...], sondern auf einen grafischen Modus der Existenz. Das Schauspiel der japanischen Straße (oder allgemeiner: des öffentlichen Raumes), das so erregend ist wie das Produkt einer jahrhundertealten Ästhetik, welche von jeglicher Vulgarität gereinigt ist, hängt nie von einer Theatralität (einer Hysterie) des Körpers ab. [...]."
Wer einen kritischeren Reisebericht zu lesen wünscht, hat andere Lektüre-Optionen, zum Beispiel die Bücher Japanische Chronik oder Das Leere und das Volle des Schweizer Reiseschriftstellers Nicolas Bouvier. Das erste wird 1976 publiziert, das zweite 2010, posthum und mit großem Abstand, auch wenn die Reisenden Barthes und Bouvier sich ungefähr zur selben Zeit in Japan aufgehalten haben.
Bouviers Das Leere und das Volle, Bericht über einen etwa zweijährigen Aufenthalt in Tokio und Kyoto bis 1966, ist kein elegisches Buch. "Man darf keine empfindsame Seele nach Japan mitbringen," formuliert der Autor an einer Stelle, was ziemlich genau den Gegenentwurf zu jener Disposition markiert, von der die Beschreibung Japans bei Barthes bestimmt ist.
In seinen Notizen aus dem japanischen Alltag setzt Bouvier auf Ironie, die von Fall zu Fall ziemlich krude ausfallen kann, hin und wieder aber auch aufmerksam und erhellend. Bemerkungen über den japanischen Ästhetizismus, über die Stilisierung von Gesten und Objekten, über Hierarchiebewusstsein, die Umständlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs, die latente Feindseligkeit, mit der man dem Europäer gelegentlich begegnet, wechseln mit der pointierten Beschreibung von Ladenszenen, Radiosendungen, Busfahrten, fast immer grundiert von demselben gut gelaunten Euro-Chauvinismus, der heutzutage nicht mehr besonders goutiert wird, während die phantasmatische Schilderung, die Das Reich der Zeichen entfaltet, nach wie vor ihre Liebhaber findet.
Auf der Folie der sehr offensichtlichen Unterschiede, die zwischen den Japan-Büchern von Bouvier und Barthes bestehen, wird das, was sie verbindet, umso auffälliger. Es gibt etwas, das die Texte der beiden gemeinsam haben, und zwar die Darstellung in Form der Miniatur, des verdichteten Ausschnitts. In Das Reich der Zeichen wie in Das Leere und das Volle ist der Ausschnitt zum bestimmenden Modell der Textproduktion geworden.
Als könnte man über Japan gar nicht anders schreiben. Oder als gefiele sich das Schreiben über Japan am besten in diesem Format, das man imitativ nennen kann, gerade im Fall von Barthes, der seine Präferenz für die kleinen Formen immer wieder zum Ausdruck gebracht hat:
"Geschmack an der Aufteilung: Parzellen, Miniaturen, Schattenringe, leuchtende Präzisionen [...], der Blick auf die Felder, die Fenster, der Haiku, der Federstrich, die Schrift, das Fragment, die Photographie."
Schreiben wie in einem Haiku, das heißt: Schreiben in Fragmenten - die Barthes als Modelle der Präzisierung ansieht, in denen eine Beobachtung oder ein Moment scharf gestellt und festgehalten werden kann, ganz wie in der Fotografie, über die er ein paar Jahre später das Buch Die helle Kammer verfassen wird. Das mimetische Begehren ist hier sehr offen artikuliert: Wenn Japan das Land der Aufteilungen und der Rahmungen ist, dann muss das Schreiben über Japan nicht nur von Aufteilungen und Rahmungen handeln, sondern sich analog zu ihnen gestalten: als eine Sammlung von Ausschnitten, in denen einzelne Eindrücke in Szene gesetzt und gegeneinander abgegrenzt werden.
Das ist zutreffend. Und auch wieder nicht. Der zitierte Abschnitt kann als Anweisung verstanden werden kann, die Schreibweise den Gegenständen anzugleichen, über die geschrieben wird: Haiku, Kabuki, Kalligrafie, Fotografie, Details und punktuelle Eindrücke. Ebenso aber handelt er davon, dass ein Autor wie Barthes gerade in seinen späten Texten die Gegenstände immer auch danach auswählt, dass sie seinem Schreiben entsprechen. Und wenn er dafür bis nach Japan reisen muss. Um dann, einmal in Japan angekommen, einen Filter zwischen sich und die Welt der Erscheinungen zu schieben, unter dessen Einwirkung Japan sich in ein ästhetisches Programm transformiert.
Barthes’ Ausführungen zu diesem Programm sind in den Miniaturen, die Das Reich der Zeichen versammelt, um einen zentralen Begriff organisiert. Nicht den des Körpers, wenngleich dieser explizit und implizit sehr gegenwärtig ist. Auch nicht um den des Zeichens, selbst wenn der Titel des Buches genau das nahe legt. Der zentrale Begriff indes ist hier derjenige der Schrift: von Abschnitt zu Abschnitt immer wieder verwendet und gleich zu Beginn mit einer gewissen Dramatik eingeführt.
"Der Autor hat nie und in keinem Sinne Japan photographiert. Eher gilt das Gegenteil: Japan hat ihn mit vielfachen Blitzen erleuchtet: oder besser noch: Japan hat ihn in die Situation der Schrift versetzt."
Fotos, vor allem von schönen jungen Männern
Das stimmt übrigens nicht. Erstens macht Barthes auf seinen Reisen durchaus Fotos, vor allem von schönen jungen Männern, aber er stellt nur ein paar davon für die Illustration seines Japan-Buches zur Verfügung. Und zweitens baut er dieses Buch aus Texten auf, die wie Fotos gestaltet sind: ausschnitthaft, fokussiert, von den vorangehenden und nachfolgenden Ausschnitten klar abgegrenzt.
So oder so: Von jetzt an wird er Schrift überall sehen. Die Speisen erscheinen ihm als geschriebene Nahrung. Die Spur, die seine Bewegung durch die Straßen der japanischen Städte und Bahnhöfe legt, wird als eine eigene Schrift vorgestellt. Spielzüge, Bilder, Inneneinrichtungen sind "geschrieben"; und "geschrieben" nennt Barthes auch das Gesicht im japanischen Kabuki-Theater und sogar die Stimme der Puppenspieler, die sich entlang einer komplizierten Partitur artikuliert. In den tiefen Verbeugungen zur Begrüßung erkennt er eine grafische Form, ebenso in den Augenlidern der Japaner und in den Bewegungen ihrer Hände. Und noch die Demonstrationen japanischer Studenten müssen nach Auffassung des Reisenden als Skripte und Akte der Einschreibung betrachtet werden, in denen der Vollzug wichtiger ist als die Botschaft.
Eben dies: Dass die Botschaft hinter den Vollzug und die Mitteilung hinter die Geste zurücktrete, ist das, was Barthes im japanischen Gebrauch der Zeichen zu erkennen vermeint. Wenn Japan eine Situation ist, dann markiert diese Situation in seiner intellektuellen Biographie jenen Moment, in dem er endgültig beschließt, das, was er "Schrift" nennt, zuallererst gestisch und grafisch zu begreifen, das heißt: nicht mehr im Sinne der Kommunikation, die ihn als Begriff ohnehin nie besonders interessiert hat, sondern im Sinne einer Performanz, in der Schriftzeichen, andere Zeichen und überhaupt jede Form der Markierung eingesetzt werden, um sie auszustellen, und nicht, um eine Lesart zu forcieren.
Für den Semiologen Roland Barthes, der seit seinen frühen Studien über die Mythen des Alltags damit befasst gewesen ist, die Zeichen als Zeichen kenntlich zu machen, ihrem allzu automatischen Verständnis entgegen zu wirken und Zeichensysteme akribisch zu demontieren, muss die Idee des leeren, entlasteten Zeichens eine glückliche Vorstellung gewesen sein. Sein Buch fasst diese Vorstellung in das Bild eines Pakets, das wesentlich aus Umhüllungen besteht, während das, was die Pakete enthalten, sehr zweitrangig bleibt:
"[D]as Paket ist nicht leer, sondern geleert: den Gegenstand, der im Paket, oder das Signifikat, das im Zeichen ist, auffinden heißt sie wegwerfen: Was die Japaner allenthalben mit geschäftiger Energie transportieren, sind letztlich nur leere Zeichen. Denn in Japan gibt es Transportmittel, wie man sie nennen könnte, in Hülle und Fülle [...], Pakete, Taschen, Koffer, Tücher [...], jedermann trägt auf der Straße ein Bündel mit sich, ein leeres Zeichen, das energisch beschützt wird und eilig transportiert werden muss."
Die Schrift und alles, was Barthes als "geschrieben" bezeichnet - wie gesagt: Die Speisen, die Bilder, die Straßen, die Gesichter, die Gesten - wären Teil dieses Transportsystems, das um eine konstitutive Leere herum gebaut ist, die das System aber nicht gefährdet, sondern, ganz im Gegenteil, seine Entfaltung erst ermöglicht. Nach seiner dritten Reise schreibt der erlöste Zeichentheoretiker:
"Von der Tiefe des Sinns kommt man nur um den Preis einer dreifachen Qualität los, die allen [in Japan; SD] hergestellten Dingen auferlegt wird: sie müssen präzise, beweglich und leer sein."
Analog zu diesem Konzept liest der Reisende Roland Barthes auch den Haiku: Favorisiertes Studien- und Projektionsobjekt aller westlichen Japan-Liebhaber, die ihn gerne als die hohe Kunst der Auslassung beschreiben. Barthes macht da keine Ausnahme, aber er beansprucht zugleich, diese sehr japanische Variante der kleinen (Text-)Form besser verstanden zu haben als andere Reisende vor ihm. Analog zu den zahllosen grafischen Gebärden, von denen er die japanische Kultur durchsetzt sieht, seien die drei Zeilen des Haiku nicht dazu bestimmt, Sinn zu verdichten oder gar zu verrätseln, sondern eher dazu, ihn auszuhebeln und die Aufmerksamkeit für einen Moment innehalten zu lassen.
"Bei all seiner Klarheit will der Haiku doch nichts sagen, und gerade aufgrund dieser doppelten Voraussetzung scheint er offen für den Sinn zu sein (...) wie ein höflicher Gastgeber. - [D]ie Wege der Interpretation können den Haiku mithin nur verfehlen."
Dem höflichen Gast des höflichen Gastgebers ist sehr daran gelegen, die Regeln der Gastfreundschaft nicht zu verletzen. Der Reisende, der ein ehrgeiziger Reisender ist und außerdem von dem Begehren nach einem Körper, einer Schrift, einer Spracherfahrung im Zustand der Entlastung umgetrieben, wird auf jegliche Interpretation des Haikus verzichten, nicht aber darauf, den Widerstand, den der Haiku der Interpretation entgegensetzt, seinerseits zu interpretieren: Als eine Befreiung vom Sinn, so steht es tatsächlich als Überschrift über einem Textfragment. Und letztlich meint Barthes damit nicht nur den Haiku, sondern all das, woraus er seinen Entwurf des Landes Japan zusammengesetzt hat.
"Haiku (so nenne ich jeden diskontinuierlichen Zug, jedes Ereignis im japanischen Leben, wie sie sich meiner Lektüre darbieten)."
Dass Roland Barthes, anders als etwa der Reisende Nicolas Bouvier, kein Japanisch spricht, wohl aber Japanisch schreibt, passt zu dieser Haltung. Japanisch lernen oder es zu lernen versuchen, würde nach der Logik seiner Lektüren bedeuten, der Sprache habhaft zu werden, sie mit Inhalten zu füllen, während Das Reich der Zeichen ganz um die Idee des Entzugs und der Leere aufgebaut ist. Japanisch schreiben, das heißt: Schriftzeichen aufs Papier setzen, Schreiben als grafische Tätigkeit zu praktizieren, bedeutet hingegen, noch in Paris ein höflicher Gast zu bleiben, sich Japan und seinen Zeichen nicht aufzudrängen und stattdessen Gesten und Handhabungen zu imitieren.
Es gibt in Barthes’ autobiografischen Notizen von 1975 wie in der umfangreichen Biographie der Éditions du Seuil von 2015 mehrere sehr charmante Fotos, die ihn in seinem Arbeitszimmer zeigen, die japanischen Tuschen, Pinsel, Tinten, Schreibpapiere des Schriftenmalers unmittelbar in Reichweite. Unter einem der Fotos ist zu lesen: "Barthes als Kalligraph". Und einige Ergebnisse dieser kalligrafischen Aktivität, irgendwo zwischen Schrift-Bild und Zeichnung, werden auf der gegenüber liegenden Seite abgebildet. Um ernsthafte Übung geht es dabei nicht, da Ernsthaftigkeit als Anstrengung und vor allem als Versuch einer forcierten Annäherung genau das ist, was in die Beziehungen des Reisenden zum Reich der Zeichen nicht eintreten darf.
Um es noch einmal anders zu formulieren: Japan kann für Barthes nur unter der Bedingung eine Bedeutung annehmen, dass er Japan nicht versteht. Und auch keine Anstalten dazu macht. Was andere Reisende vor und nach ihm beklagt haben: Das Evasive der japanischen Kultur, die Erfahrung, in ständiger Distanz gehalten zu werden, wird in dem Buch Das Reich der Zeichen kurzerhand zu denjenigen Qualitäten erklärt, die den Umgang mit Japan nicht nur nicht verhindern, sondern ihn eigentlich ausmachen.
"Es gibt nichts zu greifen."
So lautet der letzte Satz. Und das ist, jedenfalls im Werk des Reisenden Roland Barthes, als das Resümee einer sehr glücklichen Begegnung zu betrachten.
Japan Projektionen - Der Reisende im Reich der Zeichen. Von Stefanie Diekmann. Mit Frauke Poolman und Bernd Reheuser. Technik: Andreas Fulford. Regie: Anna Panknin. Redaktion: Barbara Schäfer.