Wo die westliche Kritik im Fremden zunächst nur die Bestätigung des Eigenen suchte und sich darauf beschränkte, die Liste der Meisterwerke und -regisseure um ein paar japanische Titel und Namen zu erweitern, erhob sie in den 70er-Jahren die japanische Filmästhetik zum Fetisch des absolut Anderen. Auf der Strecke bleibt in beiden Fällen - und in vieler Hinsicht bis heute - die komplexe Normalität einer faszinierenden Filmkultur.
Lukas Foerster betrachtet in seinem Essay der Japan Projektionen die Geschichte der europäischen und amerikanischen Rezeption des japanischen Kinos.
Lukas Foerster hat an der FU Berlin Filmwissenschaft und Japanologie studiert. Er lebt in Zürich und arbeitet als Filmjournalist, Medienwissenschaftler und freier Kurator.
Das komplette Manuskript zum Nachlesen:
Eine Kinovorführung ist immer schon eine Projektion im doppelten Sinne: Zum einen werden bewegte Bilder vermittels einer technischen Apparatur auf eine Leinwand geworfen; zum anderen sind die Zuschauer nicht einfach passive Konsumenten, die lediglich audiovisuelle Reize in sich aufnehmen - ganz im Gegenteil projizieren sie ebenfalls ihre Fantasien, Wünsche und Leidenschaften auf, über und in die Bilder, die vor ihnen erscheinen. Wenn dann auch noch eine kulturelle Differenz dazukommt; wenn die Bilder auf der Leinwand von einer Lebenswirklichkeit zeugen, die sich von der des Publikums fundamental unterscheidet, wird es noch einmal komplizierter; denn dann kommen wieder andere, kollektive Projektionen ins Spiel: die Bilder und Vorstellungen, die sich jede Gesellschaft von einer Anderen macht. Und die stets eng verbunden sind mit dem Bild, das sich eine Gesellschaft von sich selbst macht.
Dreharbeiten zu einem Film, der so - hoffentlich - nie gedreht wurde
Solche Überlegungen bilden auch einen unter mehreren Ausgangspunkten von Christian Krachts Roman "Die Toten", der 2016 erschienen ist. Gleich im ersten Kapitel werden die Dreharbeiten zu einem Film beschrieben, der so - hoffentlich - nie gedreht wurde. Der Roman imaginiert einen sogenannten Snuff-Film: Eine verborgene Kamera zeichnet einen rituellen Selbstmord auf, in allen blutigen Details. Ort der Handlung ist Japan.
"Ein junger, gutaussehender Offizier hatte diese oder jene Verfehlung begangen, weshalb er sich nun im Wohnzimmer eines ganz und gar unscheinbaren Hauses im Westen der Stadt bestrafen wollte. Die Linse der Filmkamera wurde an ein entsprechendes Loch in der Wand des Nebenzimmers geführt, dessen Ränder man mit Tuchstreifen wattiert hatte, damit das Surren des Apparats nicht die empfindliche Szenerie störe: Der Offizier kniete sich hin, öffnete die weiße Jacke links und rechts, fand prüfend mit nahezu unmerklich zitternden, gleichwohl präzise suchenden Fingerspitzen die gesuchte Stelle, verneigte sich und tastete nach dem vor ihm auf einem Sandelholzblock liegenden, hauchscharfen tantō. Er hielt inne, horchte, hoffte darauf, noch einmal das Geräusch des fallenden Regens zu hören, aber es ratterte lediglich leise und maschinell hinter der Wand."
Die Toten entspinnt eine literarische Fabulation entlang der politischen und ästhetischen Verwerfungen der frühen 1930er-Jahre. Es geht um Schweizer Filmregisseure und japanische Filmpolitik, um Charlie Chaplin und Siegfried Kracauer, um die Kinometropole Berlin am Vorabend des Faschismus und um Hollywood. Binnen kürzester Zeit haben sich alle beteiligten Figuren hoffnungslos in ihre wechselseitigen Projektionen verstrickt.
Schockierende Grenzüberschreitung als hervorstechendes Merkmal
Die wild wuchernde Erzählung legt keinen allzu großen Wert auf historische Sorgfalt, und schert sich auch kaum um innere Zwangsläufigkeit. Es dürfte dennoch kaum ein Zufall sein, dass an ihrem Beginn die Fantasie eines japanischen Kinos steht, dessen hervorstechendes Merkmal die schockierende Grenzüberschreitung darstellt. Das Fantasma des absolut Anderen, des mit europäischer Kultur und Moralvorstellungen rigoros Unvereinbaren taucht bis heute regelmäßig auf, wenn die europäische Imagination sich mit Japan und japanischer Kulturproduktion beschäftigt - gelegentlich offen, häufiger verdeckt, getarnt. Kaum nötig zu erwähnen, dass ein solches Fantasma weniger über sein vermeintliches Objekt aussagt, als über diejenigen, die sich ihm hingeben.
Das weiß natürlich auch Christian Kracht. Die eigentliche Pointe der eingangs zitierten Passage besteht darin, dass die blutrünstig-morbide Filmfantasie, mit der Die Toten eröffnet, auch innerhalb der Erzählwelt des Romans gerade kein authentisches Beispiel japanischen Filmschaffens ist. Der Produzent des fiktionalen Films, der Ministerialbeamte Masahiko Amakasu, hat ihn für den Export in Auftrag gegeben. Später schickt er die Filmrollen, auf die der rituelle Selbstmord gebannt ist, nach Deutschland - in der Hoffnung, dadurch für ein transkontinentales Filmprojekt Mitstreiter zu finden. Sein Zielpublikum hat er genau studiert.
"Er würde den Film nach Berlin schicken, gleich morgen. Am Ende lief es doch darauf hinaus, dass wirkliche Empfindungen sich eher um eine Fotografie oder einen Film kristallisieren als etwa um eine verbale Äußerung oder gar einen Slogan. Das Leiden des Offiziers in dem Film war gleichzeitig verzückt und unerträglich, eine Transfiguration des Schreckens zu etwas Höherem, Göttlichem - die Deutschen würden das doch gut verstehen in ihrer makellosen Todessehnsucht."
Amakasu spekuliert gleichzeitig auf den Reiz des Exotischen und auf dessen Widerhall in der unterstellten deutschen Nationalseele. Darin bekommt Kracht etwas Entscheidendes am Mechanismus transkultureller Projektionen zu fassen:
Dem europäischen Blick auf Japan entspricht immer schon ein japanischer Gegenblick, der Projektion eine Gegenprojektion.
Dem europäischen Blick auf Japan entspricht immer schon ein japanischer Gegenblick, der Projektion eine Gegenprojektion. Nicht nur macht sich Europa ein Bild vom japanischen Kino, auch das japanische Kino macht sich ein Bild von Europa. Konkret heißt das: Wenn das japanische Kino die Landesgrenzen verlässt und sich einem europäischen Publikum vorstellt, dann kalkuliert es seine Wirkung auf dieses Publikum mit ein.
Voraussetzung für solche wechselseitigen Projektionen auf das Eigene und Andere ist freilich, dass man sich gegenseitig überhaupt wahrnimmt. Dass es zu interkultureller Kommunikation kommt, ist nicht selbstverständlich. Im Bereich des Kinos war es zum Beispiel nicht immer selbstverständlich, dass es so etwas wie eine internationale Filmgeschichtsschreibung gibt, zu der auch japanische Filme zählen. Das Kino wurde zwar schon um 1910 als neue Weltsprache gefeiert, als ein Medium der Völkerverständigung, das die künstlichen Barrieren zwischen den Nationalstaaten zu transzendieren in der Lage sei; das Beispiel Japans zeigt allerdings, dass derartige Hoffnungen insbesondere in den ersten Jahrzehnten der Kinematografie weitgehend unerfüllt geblieben waren.
In Japan entstanden bereits im Jahr 1898 indigene Filmproduktionen, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etablierte sich eine reichhaltige Filmkultur mit eigenen Genres und einem eigenen Starsystem. Und sogar eine eigenständige Vorführpraxis wurde entwickelt, was sich zum Beispiel an der spezifisch japanischen Figur des Filmerzählers, genannt benji, zeigt.
Das Ausland, schon gar das europäische, bekam von all dem so gut wie nichts mit. Der japanische Kinomarkt war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast komplett isoliert - zumindest nach außen hin. Das heißt: Zwar wurden amerikanische und auch gelegentlich europäische Produktionen in Japan vorgeführt, aber anders herum erreichte kaum eine japanische Filmkopie europäischen Boden.
Ein Meilenstein: Kurosawas"Rashomon"
Das änderte sich schlagartig im Jahr 1951, als Akira Kurosawas multiperspektivisch erzählter Historienkrimi Rashomon auf dem Internationalen Filmfestival von Venedig präsentiert wurde. Rashomon gewann dort den Hauptpreis, den Goldenen Löwen, und wurde anschließend in zahlreiche internationale Filmmärkte exportiert. In den Folgejahren erreichte eine ganze Reihe weiterer japanischer Filme die europäische Festival- und Kinoszene.
Die japanischen Filme, die in den 1950er-Jahren in Europa zumeist als isolierte Meisterwerke vorgeführt wurden, bildeten nicht im entferntesten die Breite, nicht einmal eine Art Durchschnitt der japanischen Produktion ab und wurden kaum einmal als Produkte einer komplex ausdifferenzierten Filmindustrie wahrgenommen.
Godzilla: erster von vielen Exporterfolgen der japanischen Populärkultur
Zwar beschränkte sich bereits die erste Welle der cinephilen Japanbegeisterung nicht nur auf die damals wie heute überschaubare Filmkunstszene. Das Echsenmonster Godzilla, das zum ersten Mal 1954 die Leinwände unsicher machte, entwickelte sich zum ersten von vielen Exporterfolgen der japanischen Populärkultur - zum Vorgänger von Super Mario, Sailor Moon und Pokémon. Der Schwerpunkt der (europäischen) Importe lag jedoch auf aufwendig produzierten Filmen mit historischen Sujets.
Kurosawa, der "westlichste” der japanischen Meisterregisseure?
Der zentrale Protagonist des japanischen Kinos in Europa und den USA in dieser ersten Phase ist Akira Kurosawa. Den Publikumserfolg, der Rashomon noch versagt blieb, holt er mit seinen geradlinigeren, actionbetonten Samuraifilmen wie Die sieben Samurai oder Yojimbo - der Leibwächter nach. Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, dass Kurosawa der "westlichste” unter den japanischen Meisterregisseuren sei. Was zumindest insoweit nachvollziehbar ist, als Kurosawas Werk tatsächlich auf vielfältige Art mit Traditionen der europäischen und amerikanischen Kunst und Populärkultur interagiert: Zum einen verfilmte der Regisseur Arbeiten europäischer Literaten wie Shakespeare und Dostojewski; zum anderen wurden seine eigenen Filme wiederholt von Regisseuren in Hollywood und anderswo adaptiert. Selbst in dem vermeintlich uramerikanischen Popkulturmythos Star Wars steckt Kurosawa-DNA: Die beiden Roboter R2/D2 und C3PO sind zwei Figuren aus dem Historienfilm Die verborgene Festung nachempfunden.
Kurosawa selbst war nicht immer glücklich mit seiner Rolle als Aushängeschild der ganzen Filmkultur. Insbesondere war er der Ansicht, dass das Ausland an seinen Filmen das Falsche feiere:
Kurosawa selbst war nicht immer glücklich mit seiner Rolle als Aushängeschild der ganzen Filmkultur. Insbesondere war er der Ansicht, dass das Ausland an seinen Filmen das Falsche feiere:
"1951, als ich den goldenen Löwen für Rashomon entgegen nahm, hatte ich erklärt, dass der Preis mir noch mehr bedeutet hätte, wenn ich ihn für einen Film erhalten hätte, der ebenso viel vom gegenwärtigen Japan zeigt, wie De Sicas Fahrraddiebe vom gegenwärtigen Italien. Heute denke ich noch immer so, denn Japan produziert tatsächlich auch Gegenwartsfilme, die es mit De Sica aufnehmen können. Und nicht nur jene mal guten, mal weniger guten Historiendramen, die für gewöhnlich alles sind, was der Westen vom japanischen Kino mitbekommt.”
Tatsächlich hatten Filmgenres, die sich enger an der japanischen Alltagskultur orientierten, auf europäischen Festivals lange einen schweren Stand - wenn sie denn überhaupt einmal dort vorgeführt wurden.
Das Publikum und auch die Filmkritik der 1950er-Jahre hatte offenbar andere Erwartungen, wenn sie sich mit einem japanischen Film konfrontiert sahen. Ein Grund dürfte gewesen sein, dass Japan und Europa einander in einer Weise fremd waren, die man sich heute kaum noch vorzustellen vermag. Japan hatte sich zwar bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der europäischen und amerikanischen Moderne geöffnet, und in der Nachkriegszeit, nach der zwischenzeitlichen selbstgewählten faschistischen Isolation, die Bemühungen um demokratische Ideale und den Anschluss an den Weltmarkt noch einmal forciert.
Aber für viele westliche Beobachter war Japan nach wie vor ein archaisches Reich der Wunder und merkwürdigen Rituale. Anders kann man sich die Kurzkritik nicht erklären, die der Spiegel 1951 Rashomon anlässlich der Premiere in Venedig widmete:
"Ältestes Samurai-Theater und faszinierend stille Landschaftsaufnahmen in einem Film ohne Handlung. Für Nicht-Japankenner der aufschlußreichste Film der Biennale.”
Eine absurde Beschreibung ist das schon angesichts der Tatsache, dass dieser vorgebliche "Film ohne Handlung” heute vor allem als Erzählexperiment gefeiert wird.
Anlässlich des Deutschlandstarts neun Monate später liest sich das, wieder im Spiegel, schon ganz anders:
"Für europäische Augen fremdartiger, doch faszinierender Bild- und Tonstil, wenige äußere Hintergründe: nur Wald und Tempel, die nicht ablenken. Wenige Gesichter, alle zwischen Starre und Ekstase ihren Ausdruck stufend, Schwert- und Ringkämpfe im Übergang zum Tanztheater, viel rhythmisches Keuchen, Hohnlachen und Lustgeheul. Kenner-Sensation, auf der vorjährigen Biennale in Venedig preisgekrönt, aber - laut Abstimmung - kein Publikumserfolg bei den Berliner Filmfestspielen."
"Fremdartig, doch faszinierend", "Kenner-Sensation", doch "kein Publikumserfolg". - Die gefühlte Andersartigkeit japanischer Filme wird benannt und teilweise auch geschätzt, aber lediglich im Sinne einer Begeisterung für das Exotische und Spektakuläre. Die Maßstäbe, an denen man die Filme misst, bleiben die eigenen. Und werden dann noch per Abstimmung nivelliert.
In dem 1965 erschienenen ersten umfangreichen Buch über Kurosawa in englischer Sprache geht es dem amerikanischen Filmhistoriker und Japanexperten Donald Richie vor allem darum, den Regisseur in die Liste der Meisterregisseure des Weltkinos einzutragen. Über Rashomon schreibt er: "In diesem Film [...] ließ sich der Regisseur nicht von den Beschränkungen des japanischen Denkens einengen und öffnete sich dadurch der Welt. Rashomon spricht zu allen, nicht nur zu Japanern."
Damit fasst Richie die Erwartungen zusammen, die in den 1950er- und noch bis weit in die 1960er-Jahre an das japanische Kino gerichtet wurden: Es wird als eine Art Schatztruhe betrachtet, die sich, nachdem sie jahrzehntelang verschlossen war, nun endlich der Welt öffnen und ihre Reichtümer mit dieser teilen solle.
Der Horizont solcher Überlegungen ist ein humanistischer Universalismus, der für weite Teile der Filmkritik bis heute ein nicht hinterfragbares Ideal darstellt. Wie der Cowboy und die femme fatale sind aus einer solchen Perspektive auch der Samurai und die Geisha transkulturell lesbare Typisierungen, und die Geschichten, in denen sie platziert werden, gehen uns alle an.
Der demokratische Idealismus, der sich in einer solchen Sichtweise ausdrückt, hat viel mit der spezifischen Zeit zu tun, in der er entsteht: mit den Hoffnungen der unmittelbaren Nachkriegszeit auf eine neue Form der nicht nur politischen, sondern auch kulturellen Weltgemeinschaft. So gesehen stellen die in den 1950er-Jahren aufblühenden Filmfestivals und ihre Verlängerungen in den Filmclubs, später in den Arthauskinos, eine parallele Entwicklung dar zur politischen Integration der Nationalstaaten in Institutionen wie den Vereinten Nationen oder der Europäischen Gemeinschaft.
Kino als Völkerverständigung
Donald Richie kann exemplarisch stehen für eine erste Generation von europäischen wie amerikanischen Filmbegeisterten und -kritikern, die in den 1950er-Jahren das japanische Kino für sich entdecken. Richie bereiste Japan 1947 zum ersten Mal, als Begleiter der amerikanischen Besatzungstruppen, anschließend verbrachte er den größten Teil seines restlichen Lebens dort. Sein umfangreiches Werk umfasst Schriften zu diversen Aspekten der japanischen Kultur und Ästhetik, von einem Buch über die japanische Küche bis zu einem historischen Roman über den Krieger Kumagai.
Seine Begeisterung fürs japanische Kino ist aus einer solchen universalistischen, der Völkerverständigung verpflichteten Perspektive heraus zu verstehen: Als die zentrale populäre Kunstform des 20. Jahrhunderts ist das Kino auch besonders gut dafür geeignet, zwei Kulturen einander zu vermitteln.
Gemeinsam mit Joseph L. Anderson schreibt Richie 1959 ein Buch, das bis heute als Standardwerk zum klassischen japanischen Kino gelten darf: The Japanese Film: Art and Industry ist eine umfassende Darstellung der japanischen Filmgeschichte von den Anfängen bis in die 1950er-Jahre.
Im Vorwort des Bandes heißt es: "Die wirklich guten japanischen Filme entstanden und entstehen, wie die Filme aller anderen Länder, im Angesicht von kommerziellen Einschränkungen und der Gleichgültigkeit der Führungsebene. […] Und, wie in jedem Land, entstehen diese großartigen Filme durch die Hingabe und den Mut einiger weniger Männer: eine Handvoll Regisseure, eine Handvoll Produzenten, eine Handvoll Drehbuchautoren, eine Handvoll Mitarbeiter und Schauspieler."
Der heroische Kampf einer Handvoll aufrechter Männer gegen die Mühlen des Systems - diese Form der Erzählung von Filmgeschichte funktioniert tatsächlich an jedem Ort und zu jeder Zeit. Offensichtlich ist allerdings auch, dass das Moment des Fremden, nicht Integrierbaren, oder auch nur irgendein Begriff von Differenz, dabei komplett verloren geht.
Die absolute Differenz
Es muss einen denn auch nicht wundern, dass sich der europäische und amerikanische Blick auf das japanische Kino radikal ändert, wenn ab Mitte der 1960er-Jahre eben diese Differenz zum zentralen Begriff der Kulturkritik wird. Im Anschluss an Jacques Derridas Überlegungen zur différence, aber auch an die politischen Entkolonialisierungsbewegungen in Südamerika und anderswo, geraten humanistische und universalistische Welterklärungsmodelle unter Druck oder genauer gesagt: unter Ideologieverdacht.
Die radikale politische Kritik sieht in der Rede von der Völkerverständigung nur die Verschleierung der real nach wie vor wirkmächtigen geostrategischen Macht; und die radikale ästhetische Kritik sehnt sich nicht nach einer Weltsprache, die jeder versteht, sondern nach Alteritätserfahrungen, die Selbstverständlichkeiten infrage stellen.
Für die Filmtheorie heißt Differenz vor allem: Differenz zu Hollywood
Im engeren Bereich der Filmtheorie heißt Differenz vor allem: Differenz zum Hollywoodkino. Hollywood: Das ist aus der Perspektive der politisch ambitionierten Filmkritik der 1970er-Jahre nicht nur eine filmindustrielle Macht, die das Filmschaffen anderer Länder und alternative Kinoformen unsichtbar werden lässt. Für Theoretiker(innen) wie Laura Mulvey und Jacques Aumont ist das - von Hollywood dominierte - Mainstreamkino darüber hinaus eine audiovisuelle Zurichtungsmaschine, die unsere Wahrnehmung und damit unseren Blick auf die Welt manipuliert.
Kurzum: Das Mainstreamkino ist und produziert Ideologie, und zwar nicht nur durch die Geschichten, die es erzählt, sondern auch und insbesondere durch die Art, wie es diese Geschichten erzählt.
Daran schließt sich natürlich eine weitere Frage an: Wie kann das Kino dem Würgegriff des falschen Bewusstseins entkommen? Wo finden sich Alternativen zur Allgegenwart des Hollywood-Idioms?
Die Antworten fallen unterschiedlich aus: Einige Kritikerinnen und Kritiker wenden sich dem abstrakten Avantgardekino zu, andere den politisch radikalen Kinoerneuerungsbewegungen in der damals noch so genannten Dritten Welt. Und wieder andere, auch wenn das erst einmal weniger naheliegend erscheint, dem japanischen Kino.
Tatsächlich hat sich die europäische und amerikanische Filmkritik in den 1970er-Jahren intensiver und obsessiver mit dem japanischen Kino auseinandergesetzt als jemals zuvor oder jemals danach. Freilich interessiert sich diese Kritik gerade nicht mehr für das Universelle am japanischen Kino, für das, was Japan mit dem Rest der Welt in Kontakt treten lassen könnte; sondern gerade für das Trennende, für das, was unsere Wahrnehmung irritiert.
Jenseits der knallbunten Monsterfilme und düsteren Samurai‑Epen: Yasujiro Ozu
Wenn der zentrale Regisseur der ersten Phase der Japankinorezeption Akira Kurosawa war, dann ist der zentrale Regisseur der zweiten Phase Yasujiro Ozu. Nicht in knallbunten Monsterfilmen oder in düsteren Samurai‑Epen, interessanterweise auch nicht in der überaus produktiven japanischen Avantgardeszene, sondern in Ozus shomingeki, seinen Alltagsdramen über Sorgen, Leid und Hoffnungen des japanischen Kleinbürgertums, machen ganz unterschiedliche Autoren ihre persönlichen Differenzerfahrungen.
Paul Schrader, Regisseur und bekennender Japanophile, erklärt Ozu zu einem Meister des transzendentalen Stils. Der französische Filmphilosoph Gilles Deleuze erklärt ihn zum Erfinder des Zeitbilds. David Bordwell, der wahrscheinlich einflussreichste Filmwissenschaftler seiner Generation, zeigt auf, wie die Filme des Regisseurs in ihrer formalen Gestaltung Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zerstören, und sei es nur durch die strategische Platzierung einer roten Blume, die ein sorgfältig arrangiertes Figurentableau aus dem Gleichgewicht bringt.
Konkreter interessiert sich eine solche Kritik zum Beispiel für die Art und Weise, wie die Figuren in den Filmen Ozus aneinander vorbeizuschauen scheinen, wenn sie miteinander reden - selbst dann, wenn es sich um Familienangehörige handelt. Oder für die Art und Weise, in der, ebenfalls in den Filmen Ozus, Wäscheleinen, Telegrafenmasten und im Bildhintergrund vorbeifahrende Züge oft wichtiger erscheinen als die Probleme der menschlichen Hauptfiguren.
Solche Beobachtungen bilden auch den zentralen Ausgangspunkt eines Buchs, das die vermutlich reinste und radikalste Ausprägung dieser Art der Japanprojektion darstellt: Noel Burchs Studie To the Distant Observer: "Form and Meaning in the Japanese Cinema". Burch, ein in Amerika geborener Filmwissenschaftler und Filmemacher, der seit seiner Jugend in Frankreich lebt, ist kein ausgewiesener Japanexperte - anders als Donald Richie. Sein vielseitiges Interesse gilt ganz unterschiedlichen kulturellen und politischen Formationen, die er für geeignet hält, hegemoniale Vorstellungen infrage zu stellen. In "To the Distant Observer" rekonstruiert er eine alternative Filmgeschichte des japanischen Kinos, die im Kern eine Kulturgeschichte im Zeichen der Differenz ist.
"Es steht außer Zweifel, dass Japans singuläre Geschichte, beeinflusst von einzigartigen Kräften und Umständen, ein Kino hervorgebracht hat, das sich in seiner Essenz von dem jeder anderen Nation unterscheidet."
Hyperventilierende Differenzbehauptung
Mehr Differenz, oder vielleicht besser, mehr hyperventilierende Differenzbehauptung, geht nun wirklich nicht. Dass das so grundsätzlich gemeint ist, wie es sich anhört, zeigt eine Passage ein paar Seiten weiter:
"Die vielleicht größte Verstörung, die Japan uns zufügen kann, betrifft die Frage der Originalität. Denn wie ich zeigen werde, wurde Originalität in Japan, und ganz besonders im japanischen Kino, nie als eine dominante Tugend betrachtet. Insbesondere die bürgerliche Idee, dass der Künstler Erschaffer und Eigentümer seiner Arbeit sei, spielt im traditionellen japanischen Kunstverständnis keine Rolle. [...] Dies steht in einem harschen Kontrast zu westlichen Vorstellungen, für die das Bild des Künstlers als Schöpfer seiner ihm selbst zuzurechnenden Werke seit dem 18. Jahrhundert eine Art Glaubensfrage darstellt. Das japanische Sozialsystem weist das Konzept der Originalität zurück und betont stattdessen die materielle Dimension der Zirkulation von Zeichen. Dieses System zerstört das Fundament unserer Ideologie vom Schöpfer als dem ultimativ freien Menschen, vom Künstler-als-Gott, vom Buch und vom Wort.”
Es lohnt sich, an dieser Stelle ein weiteres Mal die Blickrichtung zu wechseln. Denn interessanterweise hatten die japanischen Filmverleiher und -funktionäre in den 1950er-Jahren Bedenken, die Filme Ozus auf europäischen und amerikanischen Festivals zu präsentieren. Als Grund dafür gaben sie an: Ozu sei zwar einer der besten, aber eben auch der japanischste aller japanischen Regisseure, und könne deshalb, anders als Akira Kurosawa oder Kenji Mizoguchi, im Ausland unmöglich verstanden werden. Wie sich in den darauffolgenden Jahrzehnten zeigte, war das eine Fehlkalkulation: Gerade das vermeintlich oder tatsächlich ausgestellt Japanische hat sich als eine unter Umständen sogar vermarktbare Attraktion erwiesen.
Das japanische Kino selbst verändert sich im Laufe der 60er-Jahre radikal. Die Filmindustrie, die in den 50er-Jahren eine der produktivsten weltweit war und zeitweise mehr Filme produzierte als die Hollywood-Studios, gerät in eine schwere Krise. Gleichzeitig tritt eine neue Generation junger Filmemacher an, die sich, teilweise in radikaler Manier, gegen ihre Vorgänger positioniert. Aus der Sicht der jungen Wilden des japanischen Kinos um Nagisa Oshima ist insbesondere Ozu ein Vertreter einer überkommenen Form von Kino, ein politischer wie ästhetischer Reaktionär.
Man muss diese Einschätzung nicht teilen, um sich darüber zu wundern, dass linke Kritiker in den USA und Europa ausgerechnet einen Regisseur feiern, dessen Filme wieder und wieder ein vormodern strenges Familienmodell mitsamt einer strikten Geschlechterhierarchie ins Bild setzen. Tatsächlich deutet schon der auf zweifache Weise lesbare Titel von Burchs Buch die Paradoxie seiner und vieler vergleichbarer Argumente an. To the Distant Observer - An den fernen Beobachter. Burch blickt aus der Ferne auf eine ihm fremde Kinematografie - der er gleichzeitig unterstellt, ihrerseits einen fernen, distanzierten Beobachter zu adressieren. Aus diesem bereits in der Überschrift etablierten Zirkelschluss findet sein Buch in mancher Hinsicht bis zur letzten Seite nicht hinaus. Eine als absolut gesetzte Differenz verfehlt am Ende das Fremde genauso wie das Eigene.
Normalisierungen
Einige der Debatten, die in den 70er-Jahren über das Kino und die Ideologie geführt wurden, mögen nur noch von historischem Interesse sein. Nicht zuletzt, weil heute kaum noch jemand dem Kino die wahrnehmungs- und weltverändernde Macht unterstellen dürfte, die ihm damals zugesprochen wurde. Längst ist das Kino nur noch ein mediales Angebot unter vielen, und erscheint in seinem Anspruch, sein Publikum zeitlich und räumlich exklusiv zu binden, fast schon nicht mehr zeitgemäß.
Ein anderer Grund für die scheinbare Obskurität solcher Debatten könnte darin bestehen, dass Japan heute in mancher Hinsicht näher an unsere Lebenswirklichkeit herangerückt ist. Im Internet lassen sich in Sekundenschnelle Tausende japanischer Filme und Filmclips aufrufen; und natürlich auch japanische Gerichte bestellen; selbst die physikalische Realität des Landes scheint dank Google maps und Streetview nur ein, zwei Klicks entfernt.
Umso erstaunlicher allerdings, dass man im europäischen Alltagsleben fast noch weniger vom japanischen Kino - und auch von anderen Aspekten der japanischen Kultur jenseits von Animes und Videospielen - mitbekommt als vor 30, 40 Jahren. In den deutschen Kinos laufen, wenn es hochkommt, jährlich fünf japanische Filme an, die selten mehr als eine Handvoll Leinwände erreichen; das Fernsehprogramm und selbst der DVD- und Streaming-Markt geben nicht viel mehr her. Und in Feuilletons und Magazinen findet der einst so lebendige Diskurs über das japanische Kino, über seine Fremd- oder Vertrautheit, gar nicht mehr statt.
Das betrifft selbstverständlich nicht nur Japan, und erst recht nicht nur das japanische Kino - man kann wohl generell davon ausgehen, dass die vermeintliche oder tatsächliche Verfügbarkeit von Kulturproduktionen, von Bildern, Klängen, Texten aus fernen Ländern nicht zwangsläufig zur Folge hat, dass wir im Alltag häufiger mit ihnen konfrontiert werden. Die Beschäftigung mit dem Anderen, Fremden wird an Spezialisten und Liebhaberzirkel delegiert, im Fall des Kinos an Filmfestivals, Blogs und an den akademischen Betrieb.
Die Nivellierung der Erwartungshaltungen
Damit einher geht eine Normalisierung und insbesondere eine Nivellierung der Erwartungshaltung. Kaum jemand würde heute von einem japanischen Film erwarten, dass er der Völkerverständigung Vorschub leistet und dabei hilft, eine Weltsprache zu etablieren; erst recht wird niemand mehr einen japanischen Film als Herausforderung unserer Denk- und Wahrnehmungsmuster zu begreifen versuchen. Es mag für beides gute Gründe geben; das ändert nichts daran, dass die Welt ärmer wird, sobald bestimmte Formen von Neugier auf das Andere aus ihr verschwinden.