Amy Zayed: Mit der Stimme könnten sie gut Märchen erzählen?
Jarvis Cocker: Ich liebe es, Märchen zu erzählen! Ganz ehrlich! Mein Sohn ist jetzt elfeinhalb, und so langsam wächst er aus dem Alter heraus, in dem man noch gern von seinem Vater Geschichten vorgelesen bekommt; und ich bin nun total traurig, weil mir das solchen Spaß macht. Manchmal mache ich das in meiner Radiosendung bei BBC6Music, dann überkommt es mich einfach und ich lese eine Geschichte oder ein Gedicht vor. Ich liebe es auch, Geschichten vorgelesen zu bekommen. Denn schließlich ist das doch die Urform der Kommunikation. Alle Geschichten wurden einmal erzählt. Die ersten Geschichten der Menschheit musste man erzählen, denn schreiben konnte man ja damals noch nicht.
Zayed: Wie kam die Idee zustande, nach Köln zu kommen und mit Chilly Gonzales aufzutreten. Und vor allem: Was für ein Projekt ist das überhaupt?
Cocker: Die Idee mit Gonzales Songs zu schreiben hatte ich schon lange. Wir haben uns in den vergangenen Jahren oft getroffen und vor etwa zwei Jahren verbrachte ich mal Zeit in einem Hotel in Los Angeles und in meinem Hotelzimmer stand ein Klavier. Und ich dachte: Super! Wäre es nicht toll, hier ein paar Songs zu schreiben? Ich stellte mir vor, dass dieses Klavier all die Ereignisse, die in dem Zimmer stattgefunden haben, irgendwie gespeichert hat, und mir diese einfach vorspielen könnte. Und dann fiel mir ein: Mist! Ich kann ja gar kein Klavier spielen! Und dann dachte ich an Gonzales, rief ihn an und wir vereinbarten, dass er die Musik, und ich die Texte schreiben würde. Und dann haben wir, immer wenn wir Zeit hatten, an den Songs gearbeitet!
Spontane Filme
Zayed: Und? Was wird weiter damit? Machen Sie nun zusammen ein Album draus oder irgendetwas anderes?
Cocker: Wir wissen noch nicht genau, was wir draus machen wollen. Ob's eine reine Bühnenshow wird, also eine Art Musicaltheater oder einfach nur eine Platte oder sogar ein Film. Ich bin spaßeshalber letztens nach Los Angeles geflogen, und hab Sachen gefilmt, die dazu passen könnten. Was wir auf jeden Fall wollen, ist dass es eine Mischung aus Film, Theater und Musikelementen wird. Irgendwie gefällt mir der Gedanke, mir einzubilden, wir hätten eine neue Form der Unterhaltung geschaffen.
Zayed: Sie scheinen ja Gefallen an Filmen gefunden zu haben, nach der Pulp-Dokumentation, die kürzlich in Großbritannien erschienen ist und auch demnächst hierzulande erscheint. Wie empfanden sie die Arbeit an der Dokumentation? War es schön, in Gedanken wieder in die alten Zeiten zurückzugehen, oder war es eher lästig?
Cocker: Irgendwie war ich froh, dass diese letzte Tour, die wir 2012 gespielt haben, irgendwie dokumentiert wurde. Ich hatte die Idee schon irgendwie von Anfang an, dieses besondere Ereignis zu dokumentieren. Aber ich bin leider jemand, der sehr viele Ideen hat, sie aber meistens nicht bis zur Umsetzung bringt. Und dann hab ich Florian Habicht, den Filmregisseur getroffen. Er hat mich über einen gemeinsamen Freund kontaktiert, als er in London war für das London Filmfestival. Er zeigte mir den Film, den er dort zeigte und schlug vor, einen Film über Pulp zu drehen. Wir tauschten Ideen aus und obwohl wir uns kaum kannten, machten wir uns innerhalb ein paar Wochen daran, den Film zu drehen. Ich mochte die Tatsache, dass alles so spontan war. Was mir auch gefiel war, dass Habicht diese Schräge Idee hatte, in meine Heimat Sheffield zu fahren, wo er selbst noch nie war, um zu versuchen herauszufinden, inwiefern die Stadt Pulp beeinflusst hat. Er hat dann dort irgendwelche Leute getroffen, die er dann im Film eingesetzt hat.
Zayed: Das genau ist es ja auch, was den Film ausmacht. Haben Sie inhaltlich irgendwas eingebracht?
Cocker: Die Klopapierszene erinnert an die frühen Pulp-Tage. Damals wollten wir immer ein schönes Bühnenbild zaubern. Aber wir hatten kein Geld und waren arbeitslos und Klopapier ist billig und einfach zu beschaffen. Man kauft einfach mehrere Rollen in verschiedenen Farben und wedelt damit herum! Sieht super aus! Bloß da gibt's ein paar Haken. Erstens ist Toilettenpapier leicht entflammbar, und zweitens stolpert man da schnell drüber, also würde jedes Venue es heutzutage auf der Stelle verbieten, aber damals war's kein Problem und viele Pulp Konzerte endeten oft in einem Riesenchaos, weil so viele Leute hinfielen. Als wir dann 2012 unsere Reunion-Tour spielten, wollte ich dieses alte Pulp-Gefühl wieder heraufbeschwören, also haben wir das Publikum aufgefordert, mit Toilettenpapier herumzuwerfen und so eine Art Kunstwerk zu schaffen. Eine Art Hommage, die gleichzeitig aber auch diesen Look der Bühnenshow von damals verkörpert. Und es hat gut funktioniert, es war ein toller Moment!
Eine "demokratischere" Musikwelt
Zayed: Geht es in der Popmusik nicht sowieso eher darum, ein Stück Geschichte oder Zeitgeist zu transportieren oder darzustellen?
Cocker: Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen in der Musik ein zentraler Teil meiner Kultur war. Die Leute definierten sich über die Musik, die sie hörten. Es gab die Punks, die Mods, die Rocker usw. Und man hatte das Gefühl, dass man eine lebenswichtige Entscheidung getroffen hat, wenn man diese oder jene Richtung einschlägt, die einen auch später noch prägen würde. Und die Charts waren damals auch noch viel wichtiger als heute. Man wollte unbedingt wissen, wie der Lieblingssong abgeschnitten hatte, ob er aufgestiegen oder abgestiegen war. Es war eine Art Wettbewerb unter Freunden. Das ist schon lange nicht mehr so. Die Charts interessieren heute niemanden mehr.
Zayed: Das ist aber auch ein sehr britisches Kulturmerkmal. Ich erinnere mich, als ich das allererste Mal Ende der 80er mit Engländern zu tun hatte, und alle sich Sonntags nachmittags vors Radio setzten um die Charts zu hören, und total gespannt waren, was ihre Lieblingsband nun machte. So was kannte ich aus Deutschland nicht und fand das genial. Wissen sie woher das kommt?
Cocker: Weil es eine Art nationaler Zeitvertreib war. Es gehörte einfach dazu! Man hatte das Gefühl, dass man, wenn man eine Platte gekauft hatte, etwas zu dem Erfolg der Lieblingsband beigetragen hatte! Ich will nicht nostalgisch werden und heulen, dass alles früher besser war, weil es ja nun nichts bringt, aber es hatte etwas Besonderes. Klar haben Plattenfirmen versucht, Bands zu hypen! Das gab's immer! Aber wenn Leute die Band nicht mochten, brachte das nichts, dann hat niemand die Platte gekauft! Und dann wiederum kamen manchmal Platten und Bands aus dem Nichts, und die Leute spielten verrückt. Ganz ohne Hype. Das fand ich irgendwie demokratischer als heute! Aufregender! Spannender! Ich vermisse das heute total, aber wie gesagt, heulen bringt nichts!
Sexuelles Burn-out
Zayed: Richard Hawley ist ja ein guter Freund von Ihnen. Während Hawleys Texte ja nun sehr romantisch sind, sind ihre ja zwar auch oft Liebeslieder, aber die sind oft sehr direkt und es geht auch oft mal um Sex. Sie zeigen offen, dass Ihnen Sex in einer romantischen Beziehung wichtig ist. Ist das etwas, was Ihnen persönlich wichtig ist, sollte das öfter in der Popkultur auftauchen?
Cocker: Interessant, dass Sie mich darauf ansprechen. Gonzales und ich haben einen Song geschrieben. Er heißt: „Fuckin' on heroin". Es ist ein witziger Song. Aber heute hab ich mich wirklich gefragt: Muss das sein? Ich schreibe solche Songs nicht, einfach nur um widerliche Texte zu schreiben oder einfach schlüpfriges Zeug. Aber es gibt doch schon genug Songs, die von ganz gewöhnlichen Dingen handeln. Und irgendwie war es immer mein Ziel, Popmusik zu machen, aber Themen anzusprechen, die vielleicht etwas unbequem sind. Das unterhält mich irgendwie.
Zayed: Ich hab mal mit jemand anderem gesprochen. Lassen sie mich nachdenken. Es war ihr anderes ich: Darren Spooner! So hieß der. Und der hat mir mal erzählt, dass er das schlimm findet wie sehr Sexualität in den Medien schon fast voyeuristisch gezeigt wird. Und zwar so sehr, dass die Menschen davon eingeschüchtert werden. Sieht das Ihr heutiges Ich genauso?
Cocker: Viele Leute hielten Darren immer für einen unzivilisierten Rüpel, aber manchmal hatte er recht. Nein jetzt ehrlich! Ich habe kürzlich einen Artikel in der Zeitung gelesen, wo drinstand, dass italienische Männer zur Impotenz tendieren und sogar öfter mit Potenzproblemen zum Arzt gehen. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber die Theorie dahinter ist für mich, dass man immer jünger mit Sex konfrontiert wird. Allein durchs Internet. Und das ist eine Art virtuelle Sexualität. Ein Trugbild, was den Menschen vorgegaukelt wird. Und wenn die Leute dann mal einen richtigen Partner haben, dann erleiden sie eine Art Burn-out, bevor der Spaß eigentlich wirklich angefangen hat. Und das glaube ich wirklich.