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Kommentar zu Argentinien
Die Krise geht in die nächste Runde

Mit dem Wahlsieg des selbst ernannten "Anarchokapitalisten" Javier Milei siegte die Wut auf die Politikerkaste. Doch der angekündigte Sozialabbau könnte die Wähler teuer zu stehen kommen. Turbulente Zeiten zeichnen sich ab, kommentiert Anne Herrberg.

Von Anne Herrberg |
    Der argentinische Präsidentschaftskandidat Javier Milei bei der Stimmabgabe während der argentinischen Stichwahlen am 19. November 2023 in Buenos Aires. Ein Mann mit schwarzer Jacke und wuschligem Haar wirft den Stimmzettel in eine Wahlurne.
    Blick nach rechts: Javier Milei bezeichnet sich selbst als Anarchokapitalist, er will vor allem bei staatlichen Leistungen radikal kürzen. (picture alliance / NurPhoto / Matias Baglietto)
    Die Wut hat gesiegt. Der Frust über ein Land in Dauerkrise, mit 140 Prozent Inflation, in dem die Schlangen vor den Suppenküchen immer länger werden. Gesiegt hat auch der Zorn über die regierenden Peronisten, die keine politischen Antworten mehr liefern konnten, während Bilder von Politikern auf Luxusyachten die Runde machten.

    Trump und Bolsonaro gratulierten

    Diese Wut ist verständlich. Javier Milei, der Außenseiter, der gern mit Kettensäge auftritt und auf die elitäre Politikerkaste schimpft, ist da zum Ventil geworden, vor allem für die jüngere Generation, die gar nichts anderes kennt als Krise. Er ist verständlich und gleichzeitig auch ein riesiges Drama in einem Land, das immer auch stolz auf seine sozialen Errungenschaften war.
    Mit dem historischen Erdrutschsieg des libertären Ökonomen Milei bekommt auch die globale extreme Rechte eine neue Bastion auf dem amerikanischen Kontinent. Donald Trump und Jair Bolsonaro gehörten zu den ersten Gratulanten. Sie haben vorgemacht, wie man eine Demokratie langsam zersetzt.
    Das könnte jetzt auch Argentinien bevorstehen, ausgerechnet einem der politisch progressivsten Länder der gesamten Region. Die Aufarbeitung der Militärdiktatur gilt international als vorbildlich. Jetzt wird als Mileis Vizepräsidentin eine Frau ins Amt kommen, die die Diktatur verharmlost. Victoria Villarruel ist bestens vernetzt mit der internationalen Rechten und soll nun die starke Frau für Sicherheit und Verteidigung werden. Doch nicht nur das ist gefährlich.

    US-Dollar statt Peso

    Ungewiss ist, wie der Anti-Establishment-Politiker Milei überhaupt regieren will. Der studierte Ökonom hat selbst kaum politische Erfahrung, kaum qualifiziertes Personal, um Schlüsselpositionen zu besetzen. Mehrheiten im Kongress hat er nicht. Auch nicht mit der Unterstützung eines Teils der unterlegenen rechtskonservativen Opposition um Expräsident Mauricio Macri, die wahlentscheidend gewesen sein dürfte. Die Kaste lässt grüßen.
    Doch ob man Milei an die Leine nehmen kann, ist unklar. Experten fürchten um die Regierbarkeit des Landes. Denn Mileis radikale Versprechen – allen voran die Abschaffung der Landeswährung Peso und die Einführung des US-Dollar – hält kaum ein Ökonom für umsetzbar.
    Schließlich dürfte der angekündigte massive Sozialabbau zu großem Widerstand auf der Straße führen. Die Einschnitte werden gerade auch einen Großteil der Wähler Mileis schmerzhaft treffen.
    Und wie reagiert der libertäre Populist, wenn seine Popularität auf einmal schwindet? Der 53-Jährige, der in seiner Kindheit von den Eltern schwer misshandelt wurde, gilt als emotional höchst labil. Manche halten ihn schlicht für verrückt, andere zumindest für erratisch und unberechenbar.

    Enttäuschung mit Ansage

    Bis zum Amtsantritt Mileis sind es noch fast drei Wochen – in der instabilen Situation Argentiniens eine gefühlte Ewigkeit. Die abgewählte Regierung hat so gut wie keine Handhabe mehr. Befürchtet wird, dass der Wert des Pesos erneut eine drastische Talfahrt hinlegt.
    Argentinien stehen turbulente Zeiten bevor. Aber genau dafür haben die Wähler gestimmt. Denn was man Milei nicht vorwerfen kann, ist, dass er aus seinen Absichten ein Geheimnis gemacht hätte. Die große Tragik: Genau die, die die größte Hoffnung in ihn gesetzt haben, werden die größten Verlierer sein.