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Jazzland DDR

Individualität, Nonkonformismus und Wahrhaftigkeit - das sind die Attribute des Jazz. Und lange Zeit sahen auch seine politischen Kontrahenten in der Musik eine subversive Kraft: Diktatorische Machtsysteme beargwöhnten den Jazz als einen Gegenentwurf zur durchherrschten Gesellschaft. Rainer Bratfisch hat ein Buch über die Entwicklung des Jazz unter sozialistischen Verhältnissen herausgegeben "Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR."

Michael Rauhut |
    40 Jahre Jazz in der DDR waren eine bewegte, konfliktreiche, aber auch künstlerisch äußerst fruchtbare Zeit. Musiker wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Joachim Kühn oder Konrad Bauer haben dem kleinen Arbeiter-und-Bauern-Staat einen Platz in der Internationale des Jazz gesichert. Was ist für Herausgeber Rainer Bratfisch das Besondere am Jazz in der DDR?

    "Es lässt sich auf keinen Fall stilistisch irgendwo festmachen, an irgendwelchen stilistischen Merkmalen. Es lässt sich nur festmachen an der Stellung, die der Jazz eben in der DDR hatte, als Nischenmusik, immer im Spannungsfeld zwischen Duldung, Förderung, am Anfang sogar Verbot, bis eben hin dann zur Anerkennung. Dieses Spannungsfeld war das Besondere."

    Das Buch zeichnet das Wechselspiel von Musik und Macht chronologisch nach. Wie sehr sich das Verhältnis des Staates zum Jazz änderte, illustrieren die Urteilssprüche der Propaganda. In den 50er Jahren geriet der Jazz zwischen die Fronten des Kalten Krieges und wurde von der SED als ein Mittel der ideologischen Diversion verteufelt. Der Musikwissenschaftler Georg Knepler sah diese These mit der Komposition "Fantasy" von Stan Kenton bestätigt. Knepler 1951:

    "Das ist eine Musik, die das Chaos darstellt, die das Chaos ist, die nicht nur Kriegsvorbereitung, sondern der Krieg ist. Das ist ein Versuch, den Krieg in die Hirne der Menschen einzuschmuggeln."

    Zwei Jahrzehnte später gehörte der Jazz zum Kanon sozialistischer Hochkultur. Schon 1967 wurde das Thema "Jazz" in den Lehrplan der Erweiterten Oberschulen aufgenommen, 1980 erhielt Günther Fischer, Meister des Pop-Jazz mit Arbeitsaufträgen bis nach Hollywood, den Nationalpreis der DDR. Die Propaganda versicherte nun:

    "Der Jazz ist Bestandteil der sozialistischen Musikkultur in der DDR. Er trägt zur Entfaltung sozialistischer Lebensweise bei und kommt dem Anspruch der Werktätigen der DDR nach niveauvoller Unterhaltung und Geselligkeit sowie musikalischer Bildung entgegen."

    Der Jazz geriet in einen Zwiespalt: Zwar wurde er ab den 60er Jahren künstlerisch anerkannt und staatlich subventioniert - seine soziale, gemeinschaftsbildende Kraft blieb aber bis zum Fall der Mauer suspekt. Rainer Bratfisch:

    "Jazz war ja für viele eine Art Nischenmusik. Es gab nirgendwo in Europa so viele Jazzklubs wie in der DDR, genauso wie es nirgendwo so viele Indianerklubs (wie) in der DDR gab, das war einfach ein Phänomen, dass die Leute was gesucht haben, wo sie irgendwo aussteigen konnten. Es war nicht immer unbedingt eine politische Opposition, vielleicht auch mehr eine "gefühlte Opposition".

    Es hatte ja nicht immer diesen politischen Aspekt auch. Die Leute wollten einfach mal raus aus dem Alltag, einfach was anderes hören, was nicht unbedingt auch 100-prozentig kontrolliert oder kontrollierbar war."

    Freiräume dieser Art sah das Gesellschaftskonzept der SED nicht vor. Was sich jenseits der abgesteckten Bahnen bewegte und dem Zugriff des Staates entzog, wurde als Sicherheitsproblem registriert. Die Stasi richtete von Anfang an ihr Visier auf die Szene. Über den Jazzklub in Jena gab sie zu Protokoll:

    "Der Klub entstand durch Eigeninitiative von Jazzanhängern. Ein gesellschaftlicher Einfluss ist nicht gegeben. Es werden Konzerte (bis 300 Personen) im Kulturhaus "Glasarbeiter" und Vorträge zu Lyrik/Prosa/Jazz/Film abgehalten. Besucher sind zum Großteil dekadente Jugendliche und politisch negativ eingestellte Personenkreise. Es bestehen Querverbindungen durch die Leitungsmitglieder zu oppositionellen Kräften. Die Klubleitung ist bestrebt, ihre Arbeit nach außen hin zu konspirieren."

    Neben den großen historischen Bögen und den Interviews mit herausragenden Musikern widmet sich "Freie Töne" wichtigen Veranstaltungsreihen und wirft ein Schlaglicht auf regionale Aktivitäten. Dieser Teil des Buches ist besonders aufschlussreich. Veranstalter und Manager berichten über jazzmusikalische Biotope in der Provinz, über die Netzwerke der Fans und die Schwächen des politischen Apparats.

    Spätestens hier wird klar: Die DDR war ein Jazzland. Rainer Bratfisch listet 58 Städte auf, in denen Jazzklubs existierten. Selbst kleine Orte wie Glauchau, Kamenz oder Plauen haben ostdeutsche Jazzgeschichte geschrieben. Musiker schwärmen bis heute von der Begeisterung und Resonanz, die sie noch im hintersten Winkel der DDR ernteten.

    Dort tourte auch etliche westliche Prominenz. Dass ihre Honorare größtenteils aus mehr oder weniger wertloser DDR-Mark bestanden, war zweitrangig. Wie sie ihre Gagen mitunter anlegten, gehört zum Anekdotenschatz des Buches. Der Hamburger Boogie-Woogie-Pianist Vince Weber zeigte nach einem Konzert in Jena dem verdutzten Veranstalter sein Auto:

    "Schau mal in den Kofferraum, ich habe 300 Ostglühbirnen gekauft, jetzt brauche ich mich im Westen nie mehr um Licht zu kümmern!"

    Das Buch "Freie Töne" bietet eine Fülle von Fakten, lässt aber analytischen Tiefgang vermissen. Der kultur- und sicherheitspolitische Kontext, den der Herausgeber als maßgebliche Prägung beschwört, wird kaum ausgelotet. Dieses Manko trübt vor allem das Kapitel über die 50er.

    Kein anderes Jahrzehnt in der Geschichte des ostdeutschen Jazz war spannungsreicher. Die Auflösung des Radio Berlin Tanzorchesters oder die schleichende Demontage von Kurt Henkels, dem namhaftesten Big-Band-Leader der jungen DDR, hätten einen vielsagenden Blick hinter die Kulissen erlaubt. Doch diese Chance verpasst das Buch.

    Einschlägige Archivquellen bleiben ungenutzt. Ausgeblendet werden auch die Widersprüche und Konflikte der Szene. Das ist umso unverzeihlicher, weil die Autoren hier und da Stichworte liefern. Der Konzertveranstalter Ulli Blobel wirft dem Pianisten Hannes Zerbe Denunziation vor, die zum Ende der Free-Jazz-Hochburg Peitz beitrug. Blobel und sein Mitstreiter Peter Metag verloren 1982 die Lizenz. Wenige Seiten nach Blobels Beitrag bekommt Zerbe die Gelegenheit zu einem "Selbstinterview".

    Er sinniert über Gott und die Welt, bloß nicht über Peitz. Die Dissonanz bleibt im Raum stehen. Dem Leser werden die ästhetischen Glaubenskriege der Künstler und Fans und der Kampf um die Pfründe vorenthalten. Dabei gehören diese Dinge zur Natur der Sache. Denn wie stellt Rainer Bratfisch gleich im ersten Satz seines Buches fest: "Jazz ist eine höchst individualistische Musik."

    Rainer Bratfisch (Herausgeber). Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR.
    Christoph Links Verlag Berlin 2005, 334 Seiten (mit CD), 24,90 Euro.