"Es gab da dieses Hotelzimmer irgendwo im Schwarzwald. Ich hatte einen freien Tag vor einem Konzert und mir einen Stapel CDs mitgenommen. Zufällig griff ich nach einer CD mit Kantaten des Barockkomponisten Dieterich Buxtehude.
Eine der Kantaten hieß 'Ad Genua' und sie begann so, als wäre sie von einem Pop-Komponisten oder von Steve Reich, aber es war Buxtehude. Fantastische, ansteigende Akkorde, dann die Solisten und alles bewegend gespielt. Und als ich den lateinischen Text las, fühlte ich genau dessen Bedeutung. Es geht darum, auf den Knien Gottes zu sitzen, von Gott genährt zu werden wie von einer Mutter und einem Vater - die komplette Abschaffung des patriarchalen Gottesbildes und genauso der Distanz zwischen den Menschen und Gott. Ein Gefühl von zuhause sein und getröstet werden. Es war genau das, was ich in diesem Moment brauchte. Eine musikalisch-spirituelle Erfahrung, die mich seitdem begleitet hat."
Musik und Transzendenz durchziehen sein Leben
Wenn der Jazzpianist Tord Gustavsen von dem Erlebnis erzählt, das ihn in Räume der Transzendenz geführt hat, ist heute noch hörbar, wie stark ihn diese Erfahrung prägt. Doch seine spirituellen und musikalischen Wurzeln durchziehen sein ganzes Leben und reichen weit bis in die Kindheit zurück.
Tord Gustavsen wird am 5. Oktober 1970 in Oslo geboren. Drei Jahre später zieht die Familie in das Dorf Hurdal, achtzig Kilometer nördlich von Oslo, wo seine vier Brüder und Schwestern zur Welt kommen.
In dieser ländlichen Abgeschiedenheit wuchs ich auf, war aber später als Jugendlicher immer mit dem städtisch-kulturellen Leben von Oslo in Kontakt. Mit vier Jahren begann ich Klavier zu üben. Schon bevor ich Noten lesen konnte, spielte ich einfache klassische Stücke und improvisierte. Ohne den Einfluss meines Vaters wäre das nicht möglich gewesen. Bis heute empfinde ich große Dankbarkeit.
Nicht nur musikalisch prägt sein Vater, ein lutherischer Pastor, den Heranwachsenden. Genauso ist er vom spirituellen Klima seiner Jugend beeinflusst.
Choräle singen als Jugendlicher
"Schon in meiner Jugend habe ich in der Kirche und zuhause Choräle gesungen. Das war ein wichtiger Teil meines Alltags. Klassische und lutherische Choräle, aber auch afro-amerikanische Spirituals und norwegische Volksmusik. Das Gesangbuch der lutherischen Kirche Norwegens hat diese drei unterschiedlichen Quellen."
"Für mich war das nicht zu trennen: Ich liebte all diese Melodien und allmählich verstand ich immer mehr über den Hintergrund der Texte. Das war wie eine Reise mit diesen alten Texten. Anfangs habe ich an sie geglaubt, ohne etwas in Frage zu stellen, aber dann fragte ich mich: Kann ich diese Worte wirklich singen? Später kam ich wieder auf sie zurück und differenzierte: Ich glaube an Vers Eins, Zwei und Fünf - aber Drei und Sechs: Nein, die singe ich auf keinen Fall.
Die Melodien und Harmonien der alten norwegischen Hymnen erzeugen in mir ein starkes Gefühl von spiritueller Einheit und universeller Liebe. Aber wenn du in die Texte gehst, sind sie meist in einem dogmatischen Universum von Sünde und Erlösung gefangen.
Die Texte dieser Hymnen tragen ein Paradox in sich: die Jahrhunderte lange Tradition, die Seele zu nähren und zu befreien und auf der anderen Seite die Tradition der Unterdrückung und des Missbrauchs der Macht der Kirchen, indem sie die Menschen glauben macht, dass sie wertlose Sünder sind und dass man als Sünder zur Hölle verdammt ist. Seit frühester Jugend habe ich mit den Gefahren einer Angst einflößenden Theologie gerungen. Wenn man die alten Texte von diesen Dingen befreit, können sie in das postmoderne Leben integriert werden. Man sollte die alten christlichen Lieder nicht vorschnell aufgeben, sondern gewissermaßen entrümpeln.
Mit neunzehn Jahren zieht Tord Gustavsen nach Oslo. Er absolviert ein Jahr lang seinen Ersatzdienst in der "Städtischen Kirchenmission", macht erste Erfahrungen in Jazzbands und studiert neben Soziologie und Psychologie auch Religionsgeschichte, die er mit dem norwegischen Master abschließt. 1993 schreibt Gustavsen sich am renommierten Musikkonservatorium von Trondheim ein, wo er in den nächsten drei Jahren Jazzpiano, Improvisationstechniken und Komposition studiert. Dann geht er zurück an die Osloer Universität, um nach zweieinhalb Jahren noch einen Abschluss in Musikwissenschaften zu machen. Parallel dazu beginnt Gustavsen mit den Größen der norwegischen Jazzszene zu arbeiten und gerät als Pianist der Sängerin Silje Nergaard ins internationale Rampenlicht. Seit er im Jahr 2003 seine erste Solo-CD veröffentlicht hat, gehört der Künstler zu den bekanntesten Jazzpianisten Europas, ohne seine spirituellen Wurzeln zu vergessen.
Das Heilige und die Schönheit der Musik
"Für mich ist Klavier spielen ganz ähnlich wie eine Meditation oder ein Gebet. Es geht darum, sich für die Kräfte der Schönheit und der Transzendenz zu öffnen. Musik kann eine Art tiefster Realität sein, die alles übersteigt, was Worte ausdrücken können. Und die Begegnung mit dem Heiligen, mit der Kraft der Liebe oder mit Gott - wenn man diesen Begriff in der Meditation oder im Gebet gebrauchen will - ist wie die Begegnung mit der absoluten Schönheit in der Musik. Das kann als große Offenbarung geschehen, als erfülltes Gefühl oder nur als ein flüchtiger Blick."
In den letzten Jahren hat es sich deutlich verändert: das Verständnis jener Musik, die offen ist für das Transzendente. Überweltliches kann sich in fast allen Arten zeitgenössischer Musik zeigen. Tord Gustavsen warnt vor der elitären Meinung, nur eine bestimmte Art von Musik besäße spirituelle Kraft.
"Ich denke, es kommt vor allem auf den Zuhörer an. Wenn Du tief genug meditierst, kannst du im Klang von tropfendem Wasser Gott finden. Aktuelle elektronische oder Trance-Musik hat oft eine größere Kraft, dich in einen meditativen Zustand zu führen als zeitgenössischer Jazz. Weil Jazz dazu neigt, sich vor Einfachheit und Wiederholung zu fürchten."
Epochale Musik wie die von Johann Sebastian Bach oder Franz Schubert spiegelt ihre jeweilige Zeit - und scheint gleichzeitig eine zeitlose Dimension zu haben, die moderne Menschen auch heute noch berührt: von den archaischen Klangritualen der indigenen Völker, der religiös gefärbten Musik des Mittelalters, der Gipfelmusik westlicher Klassik bis zu den Improvisationen des Jazz. Tord Gustavsen scheut sich nicht, ausdrücklich von Erfahrungen des 'Heiligen' zu sprechen.
Post-postmoderne Welt und das Heilige
"Ich denke, in der post-postmodernen Welt können wir wieder über das Heilige sprechen, weil uns die damit verbundenen Gefahren bewusst sind. Wir wissen, dass totalitäre Religionen oder politische Systeme die Sehnsucht nach einer letzten Realität missbrauchen. Wir wissen, dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit nicht gibt, verstanden als ein Glaubenssystem, das für alle gilt. Wir wissen, dass alles relativ ist. Aber wir können einen Schritt weiter gehen. Denn in dieser Erkenntnis stehen zu bleiben, tut unserem Bedürfnis nach Kontakt mit etwas, das wirklich zählt, nicht gut. Ich verbinde den Begriff des Heiligen damit, wie man auf bestmögliche Weise den Tee zubereitet."
Norwegische Kirchenmusik trifft auf Sufi-Dichter
Im Jahr 2016 thematisiert Gustavsen auf der CD 'What was said' zum ersten Mal explizit die Erfahrung des Transzendenten. Beeinflusst von den Erfahrungen seiner Jugend schlägt der Pianist eine Brücke zwischen norwegischen Chorälen und spirituellen Texten anderer Kulturen, um so eine konfessionsübergreifende Spiritualität hörbar zu machen.
Er verbindet seine Versionen norwegischer Kirchenmusik mit Vertonungen des berühmten Sufi-Dichters Dschelaleddin Rumi aus dem dreizehnten Jahrhundert - so in den folgenden Texten:
Die Trauer über das, was du verloren hast,
hält dir einen Spiegel vor, in dem du mutig weiter gehen kannst.
Deine tiefste Gegenwart ist in jeder kleinen Kontraktion
und jeder kleinen Ausdehnung.
Beide so wunderbar ausbalanciert
wie Vogelflügel.
(Dschelaleddin Rumi)
Ich möchte mit dir über die Straße des Lebens gehen.
Mein Herz möchte dir folgen bis in den Tod.
Wie eine kleine Blume sich nach dem Tageslicht ausrichtet
so sehnen sich mein Herz und mein Atem nach dir.
O, mein Gott, erblühe in mir.
Möge mich nichts von dir trennen.
(Norwegisches Kirchenlied von Elias Blix)
Was zur Rose gesagt wurde, damit sie sich öffnet,
wurde auch zu mir gesagt, hier in meiner Brust.
Was zur Zypresse gesagt wurde, um stark und gerade zu wachsen,
was zum Jasmin gesagt wurde, damit er das ist, was er ist,
was immer das Zuckerrohr süß macht,
was immer die Granatapfelblüte erröten lässt wie ein Menschenkind:
ist SEIN, das zu mir spricht.
Ich erröte.
(Dschelaleddin Rumi)
"Das Material für das 'What was said'- Album ergab sich überraschend und doch natürlich aus einem Projekt heraus, das aus der Distanz gesehen vielleicht seltsam erscheinen mag. Die alten norwegischen Hymnen spielte ich schon mein Leben lang und dann habe ich Sufi-Gedichte gelesen - von Rumi, von Hafiz - und mit iranischen Musikern zusammen gearbeitet. Diese Gedichte waren Teil ihres kulturellen Erbes. Das hat mich fasziniert und ich fühlte immer stärker, dass die Trennung zwischen liberalem Christentum und zeitgenössischem Sufismus unsinnig ist."
In dieser Zeit trifft Gustavsen im Rahmen einer Tournee die deutsch-afghanische Sängerin Simin Tander, die oft auf Paschtunisch singt, der alten iranischen Sprache ihres Vaters. Der Pianist ist fasziniert von der alten Kultursprache. Er fragt die Sängerin, ob sie sich vorstellen kann, die alten norwegischen Kirchenlieder seiner Kindheit neu zu interpretieren und in einem Musikprojekt mit Gedichten aus der Feder von Rumi zu vereinen.
Simin Tander stimmt begeistert zu. Die beiden entscheiden sich, die alten Choräle auf Paschtunisch erklingen zu lassen.
Die Wahl, uns zu verschließen oder zu öffnen
"Die Verbindung zwischen den norwegischen Chorälen und den Sufi-Gedichten besteht für mich darin, sich für die Kraft der Liebe zu öffnen. Das können Sie ein Klischee nennen, aber für mich ist es wirklich wichtig. Wir haben jeden Tag die Wahl, uns zu verschließen oder zu öffnen, uns ins Ego zu verkriechen oder uns für etwas Größeres einzusetzen. Genau so verstehe ich die Sufi-Gedichte und die neu interpretierten christlichen Choräle."
Drei Jahre nach der CD 'What was said' macht Tord Gustavsen im Jahr 2018 einen neuen Schritt auf dem Weg, Musik und Spiritualität zu verbinden. Schon in früher Jugend hatten den Pianisten die Choräle Johann Sebastian Bachs berührt. Auf der CD 'The Other Side', - die andere Seite - wagt er sich zum ersten Mal an den großen Meister.
Bach-Choräle über Trauer, Licht und Tod
"Auf unserem letzten Album gibt es instrumentale Variationen zu drei Bach-Chorälen. So ist das Stück 'Oh Traurigkeit' ein Klagelied. Es geht um große Sorge und das Ringen damit und die Sehnsucht nach Linderung, nach Frieden. Das kann die Traurigkeit sein, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, wenn eine Beziehung zerbricht oder die Trauer über den Zustand der Welt. Solche Traurigkeit müssen wir alle bewältigen, der eine so, die andere so. Und wir sehnen uns danach, wieder das Licht zu sehen und einen Ausweg zu finden, ohne uns von der Traurigkeit lähmen zu lassen."
"Dann 'Jesu, meine Freude', das von tiefer Freude handelt und davon, wie wir uns öffnen für die Kraft der Liebe im Universum – für die Liebe zu Gott in einer fast intimem Weise."
Sterben – in einem beschwingten Groove
"Und dann der dritte Bach-Choral: 'Schlafes Bruder', bei dem es um den Tod geht: 'Komm, O Tod, Du Schlafes Bruder'. Im Originaltext ist es fast ein Todeswunsch. Unsere instrumentale Umsetzung ist ziemlich paradox: Es geht ums Sterben – und wir spielen es in einem beschwingten Groove."
Tord Gustavsen erzählt, dass bei seinen Konzerten oft ein spezieller geistiger Raum entstehe. In diesem Raum gehe es weniger um die einzelnen Stücke als um ein Erlebnis des Ganzen. Im besten Fall entstehe eine Energie, die christlichen Gottesdiensten ähneln würde.
"In einem Konzert fühlt sich der Beginn wie ein Vorspiel an. Nach dem Vorspiel kommt das Bekenntnis des Kyrie: Hier bin ich mit allem, was ich mitbringe. Es macht keinen Sinn, etwas zu verstecken oder vorzugaukeln. Ich werde so akzeptiert, wie ich bin. So sollte es in einer guten Kirche sein."
Tord Gustavsen: ein begnadeter Jazzpianist und gleichzeitig engagierter Vermittler des Religiösen. Auch wenn der Musiker sich selbst als 'liberalen, undogmatischen Christen' bezeichnet: Der Kern seiner persönlichen Spiritualität übersteigt alle Festlegungen.
"Die Essenz meiner persönlichen Spiritualität ist etwas, das sich mit Worten nicht ausdrücken lässt - genauso wie Musik sich nicht in Worte übersetzen lässt. Sie ist von einem Geheimnis umgeben. Es geht darum, sich diesem Geheimnis zu öffnen und im Angesicht des Lebens demütig zu sein."