"Konsum ist Zwang. Konsum bringt uns um. Konsum macht unfrei!" Wer heute so spricht, kritisiert den Überfluss in den westlichen Industrie- und Wohlstandsgesellschaften. Konsumkritik als Wachstumskritik ist allerdings nur möglich, wo Grundbedürfnisse schon befriedigt sind. Längst ist aber Kritik am Konsum in die Produkte eingebaut. Mehr noch, Konsumverzicht, Konsumaskese sind die neuen prämierten Konsumgüter. Kritik am Konsum ist also nichts Besonderes. Sie ist kein "Gegendiskurs", sie zählt zum System. Denn Konsum ist nicht nur eine Frage des Umgangs mit Waren und Gütern, sondern ein Kommunikationssystem, ein Zeichensystem, eine gesellschaftliche Sprache. Das ist, kurz gesagt, der Zugang, den der Stardenker der französischen Postmoderne, der Medientheoretiker Jean Baudrillrad, in seiner 1970 publizierten "Konsumgesellschaft" entfaltet hat.
Was Jean Baudrillard hier betreibt, ist nicht die soziologische Beschreibung von Produktverbilligung und Wohlstandsmehrung. Konsum ist für ihn "gesellschaftliche Arbeit". Jean Baudrillard lässt neomarxistische, ethnologische, strukturalistische und semiotische Ansätze in seine Betrachtung einfließen. Das war damals, Ende der sechziger Jahre, wild und neu.
Konsum formatiert uns
"Der Konsum ist ein Mythos. Das heißt, er ist eine Aussage, welche die gegenwärtige Gesellschaft über sich selber trifft, er ist die Art und Weise, in der sie zu sich selber spricht. Die einzig objektive Realität des Konsums ist gewissermaßen die Idee des Konsums(). Unsere Gesellschaft begreift sich selbst und redet mit sich selbst als Konsumgesellschaft."
Konsum ist für Baudrillard strukturiert wie eine Sprache. Es geht ihm um einen Perspektivwechsel, der den Konsum nicht mehr nur als Fortsetzung von Produktion versteht. Konsum erstreckt sich demnach auf alle Lebensbereiche und formatiert uns. Körper bringen sich buchstäblich in Form, in Fitness-Form. Der Konsum macht vor Körpern keinen Halt, im Gegenteil. Welche Rolle der Körper in diesem Prozess spielt, das hat Jean Baudrillard vor bald einem halben Jahrhundert vorausschauend und scharfsinnig analysiert. Es sind Narzissmus und Prestigewunsch, die den Konsum treiben.
Theorie-Sound der späten Sechzigerjahre
"Die Verführung wäre für mich nicht so sehr eine Sache des Begehrens – wie sagt man 'le désir'? – ja, Begehrens als eine Sache des Spiels. Es ist ein großes Spiel. Und ein Spiel mit dem Begehren. Es wird mit dieser physischen und mentalen Realität, es wird gespielt. Es muss aufs Spiel gesetzt werden."
Baudrillard zufolge gibt es nur eine scheinbare Freiheit der Verbraucher: Der Massenkonsum ist ein gesellschaftliches System zur Stabilisierung der kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung. Der Überfluss an Objekten und Konsummöglichkeiten ist einem magischen Denken verhaftet, meint Baudrillard. Die Opulenz voller Regale lebt nicht vom Versprechen auf Bedürfnisbefriedigung, sondern vom "Überfluss" der Zeichen, die sie ausstrahlt, von der "Akkumulation der Zeichen des Glücks". (Seite 48) "Es geht um das konsumierte Bild des Konsums. Das ist die neue Stammesmythologie, die Moral der Moderne." (Seite 284/5) Konsum ist Kommunikation und umgekehrt. Für heutige Ohren und ungeübte Leser mag der neomarxistische und psychoanalytische Theorie-Sound der späten Sechzigerjahre befremdlich klingen. "Es ist also nicht richtig, dass die Bedürfnisse Ergebnis der Produktion sind, vielmehr ist das System der Bedürfnisse das Produkt des Produktionssystems." (Seite 109)
Kein schönes Buch, sondern ein Arbeitsbuch
Das ist gegen die herkömmliche ökonomische Theorie der Bedürfnisse gerichtet. Objekte sind demnach kein Ziel der Bedürfnisbefriedigung. Die Waschmaschine ist Gerät und präsentiert sich als Element von Komfort und Prestige. Sie ist ein austauschbares Zeichen des Begehrens. Nach Baudrillard ist die Welt der Objekte und Bedürfnisse "die einer generalisierten Hysterie". Im Konsum geht es um eine Art objektloses Verlangen, ein Verlangen, das auch ohne Objektwahl besteht. Wir konsumieren also nicht, weil wir eine Sache brauchen oder haben wollen, sondern des Verlangens wegen.
Der Springer Verlag hat den Klassiker von Baudrillard in der Reihe über "Konsumsoziologie und Massenkultur" herausgebracht. Der Text ist sehr gut übersetzt und ebenso klug und ausführlich eingeleitet. Dieses Gründungswerk der Konsumsoziologie erstmals auf Deutsch verfügbar zu machen, ist verdienstvoll. Der Leser muss nur darüber hinweg sehen, hier kein schönes Buch in der Hand zu halten, sondern ein broschiertes Arbeitsbuch, das wissenschaftlicher Editionspraxis entsprungen ist. Ein bibliophiles Lesevergnügen sieht anders aus. Die Herausgeber Kai Uwe Hellmann und Dominik Schrage schreiben in ihrer Einführung deshalb zutreffend: "Es gilt, die 'Konsumgesellschaft' endlich neu zu lesen und zu entdecken."
Jean Baudrillard: "Die Konsumgesellschaft - Ihre Mythen, ihre Strukturen", 2015, 299 Seiten, 24,99 Euro (D), 25,69 Euro (A), 31,50 sFr, ISBN 978-3-658-00540-5