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Jean Rhys: "Die weite Sargassosee"
Eintauchen in die Karibik

Jean Rhys gehört zu den großen postkolonialen Autorinnen wie Doris Lessing oder Nadine Gordimer, auch wenn ihr Werk schmaler ist und sie selbst nie so bekannt wurde. Sie wuchs auf der karibischen Insel Dominica auf und kam mit 16 Jahren nach Europa. Aus Anlass ihres 125. Geburtstages am 24. August legt der Schöffling Verlag nun eine neue Übersetzung ihres Romans "Wide Sargasso-Sea" vor.

Von Eva Pflister |
    Eine Palme an einem Strand - im Hintergrund das Meer.
    Die Karibik steht im Mittelpunkt des Romans (dpa / Stephan Persch)
    Das Sargassomeer liegt im Atlantik, östlich von Florida und der Karibik; also dort, wo sich der Blick von den westindischen Inseln nach Europa richtet. Auf einer dieser Inseln, Dominica, ist am 24. August 1890 Ella Gwendolen Rees Williams geboren. Sie kam mit 16 Jahren nach England und nannte sich als Schriftstellerin Jean Rhys. Ihre frühen Romane, die vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen sind, erzählen von jungen Frauen, die eine prekäre Existenz führen. In schäbigen Cafés und drittklassigen Pensionszimmern warten sie auf ihre mehr oder weniger großzügigen Liebhaber, sie haben kein eigenes Geld, keinen Beruf und vor allem keine Energie, etwas daran zu ändern. Wie Anna im Roman "Irrfahrt im Dunkel".
    "Das ist doch kein Leben für ein junges Mädchen", sagte Mrs Dawes.
    Sie sagte es, weil ich, nachdem Walter weggefahren war, eine Woche lang nicht aus dem Haus gegangen war; ich hatte keine Lust dazu. Lieber blieb ich lange im Bett liegen, weil ich die ganze Zeit müde war, und ließ mir das Essen ans Bett bringen und blieb Nachmittags lange im Bad. Ich hielt meinen Kopf unter Wasser und hörte dem Rauschen des Wasserhahns zu. Ich stellte mir vor, es sei ein Wasserfall, wie der, der in den Teich rauscht, in dem wir in Morgan's Rest badeten."
    Jean Rhys kannte diese Situation; sie kannte auch den Trost, den die Erinnerung an die tropische Welt ihrer Kindheit spendete. Als Fremde ohne familiären Rückhalt versuchte sie vergeblich, in der englischen Gesellschaft anzukommen. Eine Ausbildung zur Schauspielerin musste sie abbrechen, weil sie nach dem Tod ihres Vaters keine Unterstützung mehr erhielt, und landete als Revuegirl bei einer Tourneebühne. Später schlug sie sich mit den unterschiedlichsten Gelegenheitsjobs durch, von Kantinenhilfe bis Aktmodell.
    In Paris wurde Jean Rhys von dem englischen Autor und Verleger Ford Madox Ford entdeckt. Unter seinem Einfluss schrieb sie 1927 erste Kurzgeschichten und den Roman "Quartett", in dem sie ihn als – eher unsympathischen – Liebhaber porträtiert haben soll. In ihren Texten steckt viel Autobiographisches, was dazu verführt, die Figuren mit der Autorin und ihren Freunden zu verwechseln. Noch mit 86 Jahren wehrte sich Jean Rhys gegen dieses Missverständnis:
    "Ich finde es fast unmöglich, Sachen vollkommen zu erfinden. Es muss irgendetwas sein, das ich kenne. Aber ich finde, dass wenn man erst einmal angefangen hat, die erfundene Person tatsächlich ein eigenes Leben bekommt und ihren eigenen Weg geht. (Ganz getrennt von einem selbst.) Ich meine, sie macht Sachen, die man sie überhaupt nicht machen lassen wollte. "
    Bis 1939 erschienen Kurzgeschichten und vier Romane, danach verschwand Jean Rhys so vollständig aus der literarischen Öffentlichkeit, dass man sie für tot hielt. 1957 suchte ein Verlag über eine Anzeige Menschen, die Auskunft über Jean Rhys geben könnten. Zu seiner Überraschung meldete sie sich selbst - aus einem kleinen Dorf in Südengland, wo sie an einem neuen Roman arbeitete.
    1966 erschien "Wide Sargasso-Sea", ihr Meisterwerk und ihr größter Erfolg. Rhys wurde dafür mit dem W.H. Smith Literary Award ausgezeichnet und von "Time" zu den 100 besten Autorinnen des Jahrhunderts erwählt.
    Während die Karibik im frühen Werk eher am Rande vorkommt, rückt die Welt ihrer Kindheit in diesem Roman ins Zentrum. 1980 erschien er unter dem Titel "Das Sargassomeer" erstmals auf Deutsch. Jetzt ist eine Neuübersetzung mit dem korrekteren Titel "Die weite Sargassosee" erschienen. Die neue, frische Übersetzung von Brigitte Walitzek ist dem heutigen Sprachgefühl angepasst und zugleich näher am englischen Original.

    Die Handlung spielt auf Jamaika um das Jahr 1840 und ist von der Krisenstimmung geprägt, die sich nach der Abschaffung der Sklaverei unter den Briten dort ausbreitete.
    "Wenn Gefahr droht, schließt die Reihen", heißt es, und genau das taten die Weißen. Doch wir waren kein Teil ihrer Reihen. Die jamaikanischen Damen hatten meine Mutter immer abgelehnt, "weil sie hübscher is wie hübsch", sagte Christophine.
    Sie war die zweite Frau meines Vaters, viel zu jung für ihn, fanden sie, und dazu noch stammte sie aus Martinique. Als ich sie fragte, warum so wenig Leute uns besuchten, sagte sie, die Straße von Spanish Town nach Coulibri, wo wir lebten, sei sehr schlecht und das Ausbessern von Straßen gehöre nun der Vergangenheit an. (Mein Vater, Besucher, Pferde, das Gefühl von Sicherheit im Bett – alles gehörte der Vergangenheit an.)
    Ich-Erzählerin ist das Mädchen Antoinette, das sich in der tropischen Natur ebenso zuhause fühlt wie in den halbverfallenen Landhäusern. Aus ihrer naiven, daher unverstellten Sicht wird die postkoloniale Gesellschaft der Karibik geschildert: die verunsicherte britische Oberschicht, die zunehmend selbstbewussten und oft auch aggressiven Einheimischen. Antoinette sympathisiert mit den Schwarzen; sie findet Geborgenheit bei den Dienstboten, vor allem bei der Haushälterin Christophine.
    Mit 18 Jahren wird Antoinette mit einem Mitgiftjäger aus England verheiratet. Sie verliebt sich und zeigt ihrem Mann selbstbewusst ihre schöne Insel. Aber er fühlt sich durch die karibische Welt tief verunsichert:
    "Ich hasste die Berge und die Hügel, die Flüsse und den Regen. Ich hasste die Sonnenuntergänge, egal, welche Farbe sie hatten, ich hasste die Schönheit des Ortes und seine Magie und das Geheimnis, das ich nie erfahren würde. Ich hasste seine Gleichgültigkeit und seine Grausamkeit, die Teil des Liebreizes war. Vor allem aber hasste ich sie. Denn sie gehörte zu der Magie und zu der Schönheit. "
    Auf seine Ablehnung reagiert Antoinette mit hysterischer Verzweiflung und versucht, mit Hilfe magischer Voodoo-Praktiken, die Liebe ihres Mannes zurückzugewinnen. Das verstärkt aber nur seine Abneigung. Obwohl Christophine – die originelle feministische Stimme des Romans - versucht, dem Mann die Augen zu öffnen für die Situation seiner Frau, nimmt er Antoinette mit nach England und sperrt die psychisch Kranke auf dem Dachboden seines Hauses ein.
    Das erinnert an die versteckte Ehefrau von Mr Rochester in Charlotte Brontës Roman "Jane Eyre". Tatsächlich erzählt Jean Rhys in "Die weite Sargassosee" die Vorgeschichte dieser Figur. Auch Mrs Rochester stammt von den westindischen Inseln und wurde des Geldes wegen geheiratet. Aber die LeserInnen lernen sie nur aus der Sicht von Jane Eyre kennen: Als wilde Bestie, die sich auf ihren Ehemann stürzt, sobald dieser den geheimen Raum unter dem Dach betritt.
    "Die Wahnsinnige brüllte auf. Sie strich sich ihre zerzausten Locken aus dem Gesicht und starrte die Besucher wild an. ... Herr Rochester stieß mich hinter sich, die Wahnsinnige sprang ihn an, umklammerte seine Kehle und versuchte, ihn in die Wange zu beißen."
    Jean Rhys konnte es sicher nur schwer ertragen, dass in einem der großen Klassiker der britischen Literatur eine Person aus ihrer Heimat dermaßen diffamierend gezeichnet ist. In "Die weite Sargassosee" lässt sie dieser Figur Gerechtigkeit widerfahren und kritisiert das Unverständnis der Briten für die Lebenswelt der Karibik. Ein Unverständnis, an dem auch die Autorin ihr Leben lang litt. Aber gerade aus ihrer Außenseiterposition heraus lieferte Jean Rhys großartige Schilderungen von kultureller Reibung und von Ausschlusspraktiken einer mitleidlosen Gesellschaft.
    Jean Rhys: "Die weite Sargassosee."
    Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.
    Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2015. 232 Seiten, 21,95 Euro.