Rüdiger Achenbach: Herr Feld, nun war damals in Frankreich die sogenannte Merlin-Prophezeiung sehr populär. Die besagte, dass das verwüstete Frankreich nur durch eine Jungfrau wieder hergestellt werden könne. Johanna selbst bezieht sich mehrfach auf diese Prophezeiung. Welche Rolle spielt die Jungfräulichkeit denn bei ihrer Mission?
Helmut Feld: Der Merlin-Mythos ist ja ein Teil der Artus-Sage und ist zweifellos weiteren Kreisen der Bevölkerung in Frankreich bekannt gewesen.
Achenbach: Das ist das alte keltische Erbe.
Feld: Ja, das keltische Erbe. Es ist ja da auch die Rede von Feen, es kommen ja auch Feen im Artus-Mythos vor, die Fata Morgana.
Achenbach:: Die ja auch in Verbindung mit ihrem Heimatort Domrémy stehen...
Feld: ...ganz sicher. Es gab dort einen Feen-Wald, ursprünglich wahrscheinlich eine keltische Kultstätte, an der noch Veranstaltungen stattfanden, Frühjahrsfeste, Tanzveranstaltungen und so weiter. Es gab auch eine heilige Quelle dort. Also, das spielt alles eine Rolle, und innerhalb dieses Mythos gab es eben eine Prophezeiung, die volkstümliches Erzählgut war, dass Frankreich durch eine Frau in Gefahr geriete und durch eine Jungfrau aber wieder gerettet würde. Jeanne d'Arc erwähnt diese Prophezeiung schon sehr früh in den Gesprächen in Vaucouleurs, die sie dort mit Rittern hatte. Sie erklärt, sie selber sei diese Jungfrau, die Frankreich retten werde. Sie hat sich von Anfang an als die Jungfrau bezeichnet und sagt, als solche sei sie von ihren Heiligen bezeichnet worden - als die Jungfrau la Pucelle und Tochter Gottes. Das war ein empfindlicher Punkt, sie sagte, dass sei mit ihrer Sendung verbunden. Sie mythisiert es nicht. Sie sagte nur für die Zeit ihrer Sendung, müsse sie Jungfrau bleiben. Und sie hat alle verbalen und auch körperlichen Angriffe auf ihre Jungfrauschaft sehr energisch abgewehrt.
Erste Begegnung mit dem König im von Fackeln erleuchteten Saal
Achenbach: Sie hat ihre Sendung, ihre göttliche Mission sehr genau ins Auge gefasst. Mithilfe eines Verwandten gelangt sie zum Festungskommandanten von Vaucouleurs, Robert de Baudricourt, der ihr helfen soll den Thronfolger kennenzulernen. Während ihres Aufenthaltes in Vaucouleurs kommt der Verdacht auf, dass die junge Frau in Männerkleidung, die von einem göttlichen Auftrag spricht, von Dämonen besessen sei.
Feld: Ja, das ist das erste Mal, dass dieser Verdacht auftritt - und zwar aufseiten des Klerus. Der dortige Pfarrer macht eine Probe, ob sie nun unter dämonischem Einfluss oder unter göttlichem Einfluss steht. Sie nimmt das mit großem Humor auf und wehrt also den diesbezüglichen Angriff ab. Der Pfarrer kommt selber in eine lächerliche Lage.
Achenbach: Also, dieser Versuch mit dem Beschwörungsritual durch den Pfarrer, den besteht sie und dann tritt auch die Wende ein. Die Einwohner von Vaucouleurs glauben an ihren göttlichen Auftrag und werden sozusagen zu ihren ersten Anhängern. Sie unterstützen sie. Jeanne d'Arc wird populär, kann man so sagen.
Feld: Ja, der Festungskommandant Baudricourt wehrt sich zunächst noch. Er nimmt sie nicht ganz ernst, er sagt auch zu ihrem Onkel, er solle ihr ein paar Ohrfeigen verpassen und sie wieder auf den Hof ihres Vaters zurückbringen. Aber die Leute reagieren auf sie. Es wird hier zum ersten Mal deutlich, dass sie eine ungeheure persönliche Faszination ausüben kann. Sie ist eine Sympathiegestalt und das zeigt sich hier zum ersten Mal in Vaucouleurs, dass sie auf die Massen wirken kann.
Achenbach: Auch der Festungskommandant Baudricourt gibt ja schließlich nach. Er schreibt ihr eine Empfehlung für den Thronfolger und gibt ihr eine kleine Schutztruppe mit.
Feld: Man muss ja bedenken, Vaucouleurs war ja eine isolierte Festung, eine isolierte königstreue Festung, die von Baudricourt gehalten wurde, und zwar hauptsächlich durch vertragliche Absprachen mit den Burgundern und mit den Engländern. Sie musste sich dann mit ihrer kleinen Truppe, also es waren insgesamt sechs Leute, durch 700 Kilometer feindlich besetztes Gebiet bis zum Loire-Fluss, wo dann der königliche Einflussbereich begann, durchschlagen - hauptsächlich in nächtlichen Ritten. Sehr abenteuerlich - das wird später von den Augenzeugen sehr lebhaft und farbig geschildert.
Achenbach: Wie wurde Johanna denn dann am königlichen Hof in Chinon empfangen, was weiß man darüber?
Feld: Die Berichte sind nicht ganz einhellig. Man weiß nicht, ob sie direkt in die Umgebung des Königs auf das Schloss von Chinon gebracht wurde oder erst nach einer gewissen Wartezeit. Ob da Vorgespräche stattfanden, das weiß man nicht so genau. Jedenfalls, die Szene scheint doch stattgefunden zu haben, dass sie abends in den großen Saal, in dem sich der königliche Hof befand - zwischen 300 und 400 Personen in einem mit Fackeln erleuchteten Saal - zum ersten Mal dem König vorgestellt wurde, ihm entgegen trat. Das heißt, es war Teil der Probe, dass sie den König unter seinen Höflingen erkennen musste.
Achenbach: Sie hat ihn vorher nie gesehen?
Feld: Sie hat ihn vorher nie gesehen, hat ihn aber dann sofort als solchen identifiziert. Es fand dann am gleichen Abend noch ein Gespräch, ein privates Gespräch, ein Vier-Augen-Gespräch, zwischen ihr und dem König statt. Im Verlauf dieses Gespräches muss sie dem König von ihrer Mission und ihren Erfolgsaussichten im Krieg überzeigt haben.
"Der König war ein verunsicherter Mensch"
Achenbach: In diesem Zusammenhang, vor allem was dieses Vier-Augen-Gespräch betrifft, ist immer wieder die Rede von einem geheimen Zeichen, das sie ihm gegeben haben soll. Dieses rätselhafte Zeichen hat unter den Historikern ja viele Spekulationen ausgelöst. Es gibt zahlreiche Hypothesen, denn auch Karl VII. hat bis zu seinem Tode nie darüber gesprochen, was diese geheimen Zeichen gewesen sein könnte.
Feld: Wie Sie ganz richtig sagen, Herr Achenbach, es gibt eben nur Hypothesen und Vermutungen darüber. Mit Sicherheit weiß man nichts. Man muss sich aber vorstellen, der König war ein total verunsicherter Mensch. Man muss bedenken, die eigene Mutter hatte ihm die Legitimität abgesprochen - sie sagte, er sei ein illegitimes Kind, ein Bastard. Die Mutter hatte sich auf die Seite des Gegenkönigs, des Königs von England, geschlagen und hat diesen als legitimen Thronerben von Frankreich, also den König von England Heinrich VI., den Kindkönig - er war ja nicht einmal acht Jahre alt damals, - den hat sie als legitimen Thronfolger angesehen. Und der Dauphin, also Karl der VII., hatte mit Zweifeln an seiner Herkunft zu kämpfen. Man muss ja bedenken, hier war der Mythos des heiligen Blutes sehr wirksam. Also in den Adern des legitimen Thronerben von Frankreich musste das heilige Blut fließen, sonst konnte er gar nicht legitim sein.
Achenbach: Das war eine große Tradition im französischen Königshaus für das gesamte Mittelalter.
Feld: Man spricht von der großen "Religion Royal", also der königlichen Religion. Das war natürlich keine offizielle kirchliche Doktrin. Aber es war doch tief verwurzelt ein Bestandteil der Religion, also der religiösen Legitimation des französischen Königtums und ein Bestandteil der Volksreligion. Und das ist eben wichtig für Jeanne d'Arc. Sie hat Karl dem VII., dem Dauphin, die Gewissheit gegeben, dass er der legitime Thronfolger ist. In irgendeiner Weise hat sie ihm das überzeugend dargelegt oder auch suggeriert, man weiß das nicht so genau. Jedenfalls aus diesem Gespräch ging der König in dem Bewusstsein heraus, der legitime Thronerbe zu sein, der nach Reims geführt werden musste. Davon war Karl VII. wohl noch nicht überzeugt, dass Jeanne d'Arc das fertigbringen würde. Aber davon hat sie ihn in den nächsten Wochen und aber auch seine Höflinge, seine Ratgeber, hat sie dann in den nächsten Wochen von den Erfolgsaussichten ihrer Mission und auch ihren kriegerischen Kenntnissen überzeugt.
Achenbach: Man kann also sagen, sie hat ihn psychologisch und andererseits auch in seinen politischen Plänen aufgebaut.
Feld: Das kann man mit einiger Sicherheit sagen. Dagegen, ob es da ein Zeichen gegeben hat, was das gewesen sein könnte, eine Krone oder was, das weiß man heute nicht mehr.