Eltern kennen die Situation zu genüge: Ein Kind soll essen und spielt stattdessen mit dem Löffel, man sucht die eigenen Pantoffel und findet sie als Schiffchen im Kinderzimmer wieder, und aus den Lautsprecherboxen lassen sich – wie Otto Waalkes bereits empfahl – auch "dufte Hamsterkäfige" basteln.
Gegenstände sind zwar für einen speziellen Gebrauch bestimmt, doch erschöpfen sich keineswegs darin. Kinder schöpfen diese Möglichkeiten stets von neuem aus. Kein Erwachsener wird den Sinn für das Kind dabei in Abrede stellen wollen, nur müsse es sich eben dort an die Spielregeln zu halten lernen, wo es sich selbst, dem Gegenstand oder anderen schaden kann. Ein Pantoffel als Schiff ist noch nicht entstellt, eine auseinandergenommene Stereoanlage schon.
Der Umgang mit den Dingen wird so als vor allem kognitive Frage behandelt: Das Kind teste die Spielregeln aus, um sie zu begreifen. Claus Stieve legt in seiner Studie aber den Akzent auf die Dinge selbst und fragt, inwieweit sie das Verhalten von Kind und Erwachsenem mitbestimmen. Seine Gewichtung ist keineswegs neu: Jean-Jacques Rousseau, Maria Montessori oder Friedrich Fröbel richteten ihr Augenmerk bereits auf die Dinge. Welche Position bezieht Stieve nun selbst? Im Vergleich mit Montessori etwa meint er:
"Also Maria Montessori war eine Pädagogin, die sehr sensibel erspürt hat, dass von Gegenständen ein Aufforderungscharakter ausgeht. Und sie hat ihre Lernmaterialien genau daraufhin entwickelt. Das heißt, der Begriff der Selbsttätigkeit macht sich ganz stark an der Beziehung des Kindes zu den Gegenständen fest. Es soll ja so sein, dass zum Beispiel ein Block mit unterschiedlichen Zylindern, die sich in unterschiedlich große Löcher einsortieren lassen, aus sich heraus das Kind dazu auffordert, dieser Aufgabe nachzukommen. Das war erst mal das, was Montessori sehr schön erkannt hat, nur hat sie eben gewollt, dass sie diesen Aufforderungscharakter nun ihrer pädagogischen Absicht unterstellt, sozusagen, dass nämlich Kinder zum Beispiel abstrakte Formen darüber erwerben, dass sie sie sinnlich nachvollziehen – und alles andere wird von ihr ausgeklammert. Wenn jetzt ein Kind auf die Idee kommt, zwei Zylinder zu nehmen mit einer gewissen Tiefe und den Block hochzuheben und unten drunter zu legen und hin und her zu rollen, dann fordert der Gegenstand auch auf, gewinnt ja auch was Symbolisches für das Kind – wird ein Auto oder Lastwagen –, aber es liegt außerhalb der Aufgabe, die Montessori in dieses Material hineinlegt. Sie möchte eine Eindeutigkeit der Aufforderung."
Das Problem liegt darin, so Stieve, dass der Erwachsene entweder mental oder mit den Gegenständen eine Eindeutigkeit verlangt, welche die Dinge jedoch nicht besitzen. Und so bleibt Frage: Kann man die Vieldeutigkeit der Dinge nicht akzeptieren und zugleich erzieherisch arbeiten? Ein positives Beispiel ist für ihn die sogenannte "Reggiopädagogik", wie sie seit den 60er-Jahren in Kindertagesstätten in der norditalienischen Stadt Reggio Emilia entwickelt wurde, unter anderem von Carla Rinaldi:
"Es gibt ein sehr schönes Projekt, da wird mit Kindern die Stadt erforscht. Und es ist eben nicht so, dass der Erwachsene schon gleich das Ziel vor Augen hat, was bei dem Erforschen der Stadt herauskommen soll, sondern sich auf die Wahrnehmung der Kinder einlässt und diese Wahrnehmungen auch dokumentiert. Er sammelt die Bilder und versucht sie mit den Kinder gemeinsam zu deuten, er sammelt die Äußerungen der Kinder, die sie zu ihren Bildern zeigen, er fotografiert mit den Kindern, was sie sehen, und so weiter."
Die Möglichkeiten von Dingen zu ergründen, geht für Kinder mit Sinnbildung einher, nicht mit bloßer Willkür. Langweilig wird der Gegenstand erst, wenn er keinen Sinn mehr verspricht. Diese eigene Sinnbildung den Kindern bewusster zu machen – indem man sie dokumentiert und mit ihnen bespricht – erscheint dem Autor produktiver, als sie nur als Hürde auf dem Weg zur verlangten Eindeutigkeit zu sehen. Diese Eindeutigkeit werde durch den stets gleichen Gebrauch der Erwachsenen von einem Gegenstand dem Kind nichtsdestotrotz vermittelt: Wer sich selbst die Schuhe anziehen will, wird auch lernen wollen, wie man die Schuhe richtig anzieht, so gern man damit auch Schiffchen gespielt hat:
"Das, was Kinder uns zeigen, ist ja in dieser Antwort, dass sie immer schon versuchen eine Ordnung ihrer Erfahrung auch wieder zu entwickeln. Also von daher, hier geht es überhaupt nicht darum, dass es um ein völlig chaotisches Geschehen geht, sondern es macht einen Sinn. Mir ging es ja nicht darum, eine Magie der Dinge zu beschreiben, sondern überhaupt zu beschreiben, warum so etwas wie eine Magie entstehen kann, was dem voraus geht."
Das Überzeugende an Stieves Darstellung ist, dass er sich bis weit in die philosophischen Voraussetzungen seiner Pädagogik hinein begibt. In Nachfolge von Käte Meyer-Drawe vertieft er sich insbesondere in die responsive Phänomenologie, wie sie Bernhard Waldenfels begründet hat. Zugleich behandelt er sie hinsichtlich der heute prägenden Theorien für die Erziehungswissenschaft: den Konstruktivismus – der das Kind als kompetenten Konstrukteur seiner eigenen Zielvorstellungen beschreibt – und die genannten alternativen Konzepte von Montessori bis hin zur "Reggiopädagogik". Während der Konstruktivismus das Kind nur von seinen Kognitionen und Vorstellungen her deutet, würden Montessori oder Fröbel dagegen der Vieldeutigkeit der Dinge nicht gerecht:
"Also ich möchte, dass dieses Buch auch verstanden wird als eine Kritik am 'hochtourigen Lerner' oder am Kind als Naturwissenschaftler. Ich glaube, dass solche Vorstellungen etwas überspringen. Wir schaffen im Grunde genommen eine Spiegelung unserer selbst, im Kind, mit unserem wissenschaftlichen Verständnis und vergessen, dass die wissenschaftliche Welt, in der wir leben, eine ist, die wir über verschiedene Wege erlernt haben, aber dass ihr etwas vorausgeht, nämlich eine andere Erfahrungsweise. Und dass sich zwischen der wissenschaftlichen Welt und dieser anderen Erfahrungsweise immer wieder Brüche ergeben. Copei hat das sehr schön beschrieben an diesem Bild des Sandhaufens: Er will Kindern zeigen, wie die Höhe zu bemessen ist, eines Berges. Und er geht mit ihnen zu einem Sandhaufen und gibt ihnen einfach die Aufgabe: Ermesst die Höhe dieses Sandhaufens. Und was die Kinder als Erstes tun, ist, dass sie die Zentimetermaße, also die Zollstöcke, die er ihnen mitgegeben hat, auf die Hänge des Sandhaufens legen. Und es geht auch eine ganze Weile, dass sie das tun, er muss sie über mehrere Fragen dahin führen, dass es doch ein Paradox ist, dass sie darüber verschiedene Höhen feststellen. Und irgendwann kommt ein Kind auf die Idee, diesen Stock wirklich hineinzustechen, was ja auch sinnlich in diesem Fall möglich ist, und darüber die Höhe zu ermessen. Was das Beispiel sehr schön zeigt, ist, dass Höhe tatsächlich erst mal eine leibliche Erfahrung ist – es macht Sinn, dass die Kinder die Zollstöcke auf den Hang legen, weil der Hang unserem Aufstieg, also dem Anstieg entspricht, und das ist unsere leibliche Erfahrung von Höhe. Es ist erst mal eine Anstrengung. Und es wäre ein typisches Beispiel dafür, dass es Erfahrungsweisen gibt, die einem wissenschaftlichen Verständnis zuvorkommen, und auf die ein wissenschaftliches Verständnis auch immer wieder zurückkommen muss."
Man wird die Studie von Claus Stieve kaum lesen, ohne nicht im Hintergrund die Debatten um die Kompetenzen auch der Kleinsten, um Exzellenzvorstellungen schon bei Kinderkrippen und PISA-Studien für den weiteren Werdegang vor Augen zu haben. Das Kind muss nicht nur in unsere Welt eingeführt werden, es muss sie auch verändern können, ohne vorbestimmtes Ziel. Und dabei helfen ihm nicht zuletzt die Dinge. "Von den Dingen lernen. Die Gegenstände unserer Kindheit" zeigt ebenso anschaulich wie nuanciert, dass man nicht etwa "das Lernen lernen" muss – wie ein Slogan so schön heißt –, sondern jeder Gegenstand uns etwas lehrt, noch vor jeder Erklärung.
Claus Stieve: "Von den Dingen lernen. Die Gegenstände unserer Kindheit". Wilhelm Fink Verlag, Paderborn
Gegenstände sind zwar für einen speziellen Gebrauch bestimmt, doch erschöpfen sich keineswegs darin. Kinder schöpfen diese Möglichkeiten stets von neuem aus. Kein Erwachsener wird den Sinn für das Kind dabei in Abrede stellen wollen, nur müsse es sich eben dort an die Spielregeln zu halten lernen, wo es sich selbst, dem Gegenstand oder anderen schaden kann. Ein Pantoffel als Schiff ist noch nicht entstellt, eine auseinandergenommene Stereoanlage schon.
Der Umgang mit den Dingen wird so als vor allem kognitive Frage behandelt: Das Kind teste die Spielregeln aus, um sie zu begreifen. Claus Stieve legt in seiner Studie aber den Akzent auf die Dinge selbst und fragt, inwieweit sie das Verhalten von Kind und Erwachsenem mitbestimmen. Seine Gewichtung ist keineswegs neu: Jean-Jacques Rousseau, Maria Montessori oder Friedrich Fröbel richteten ihr Augenmerk bereits auf die Dinge. Welche Position bezieht Stieve nun selbst? Im Vergleich mit Montessori etwa meint er:
"Also Maria Montessori war eine Pädagogin, die sehr sensibel erspürt hat, dass von Gegenständen ein Aufforderungscharakter ausgeht. Und sie hat ihre Lernmaterialien genau daraufhin entwickelt. Das heißt, der Begriff der Selbsttätigkeit macht sich ganz stark an der Beziehung des Kindes zu den Gegenständen fest. Es soll ja so sein, dass zum Beispiel ein Block mit unterschiedlichen Zylindern, die sich in unterschiedlich große Löcher einsortieren lassen, aus sich heraus das Kind dazu auffordert, dieser Aufgabe nachzukommen. Das war erst mal das, was Montessori sehr schön erkannt hat, nur hat sie eben gewollt, dass sie diesen Aufforderungscharakter nun ihrer pädagogischen Absicht unterstellt, sozusagen, dass nämlich Kinder zum Beispiel abstrakte Formen darüber erwerben, dass sie sie sinnlich nachvollziehen – und alles andere wird von ihr ausgeklammert. Wenn jetzt ein Kind auf die Idee kommt, zwei Zylinder zu nehmen mit einer gewissen Tiefe und den Block hochzuheben und unten drunter zu legen und hin und her zu rollen, dann fordert der Gegenstand auch auf, gewinnt ja auch was Symbolisches für das Kind – wird ein Auto oder Lastwagen –, aber es liegt außerhalb der Aufgabe, die Montessori in dieses Material hineinlegt. Sie möchte eine Eindeutigkeit der Aufforderung."
Das Problem liegt darin, so Stieve, dass der Erwachsene entweder mental oder mit den Gegenständen eine Eindeutigkeit verlangt, welche die Dinge jedoch nicht besitzen. Und so bleibt Frage: Kann man die Vieldeutigkeit der Dinge nicht akzeptieren und zugleich erzieherisch arbeiten? Ein positives Beispiel ist für ihn die sogenannte "Reggiopädagogik", wie sie seit den 60er-Jahren in Kindertagesstätten in der norditalienischen Stadt Reggio Emilia entwickelt wurde, unter anderem von Carla Rinaldi:
"Es gibt ein sehr schönes Projekt, da wird mit Kindern die Stadt erforscht. Und es ist eben nicht so, dass der Erwachsene schon gleich das Ziel vor Augen hat, was bei dem Erforschen der Stadt herauskommen soll, sondern sich auf die Wahrnehmung der Kinder einlässt und diese Wahrnehmungen auch dokumentiert. Er sammelt die Bilder und versucht sie mit den Kinder gemeinsam zu deuten, er sammelt die Äußerungen der Kinder, die sie zu ihren Bildern zeigen, er fotografiert mit den Kindern, was sie sehen, und so weiter."
Die Möglichkeiten von Dingen zu ergründen, geht für Kinder mit Sinnbildung einher, nicht mit bloßer Willkür. Langweilig wird der Gegenstand erst, wenn er keinen Sinn mehr verspricht. Diese eigene Sinnbildung den Kindern bewusster zu machen – indem man sie dokumentiert und mit ihnen bespricht – erscheint dem Autor produktiver, als sie nur als Hürde auf dem Weg zur verlangten Eindeutigkeit zu sehen. Diese Eindeutigkeit werde durch den stets gleichen Gebrauch der Erwachsenen von einem Gegenstand dem Kind nichtsdestotrotz vermittelt: Wer sich selbst die Schuhe anziehen will, wird auch lernen wollen, wie man die Schuhe richtig anzieht, so gern man damit auch Schiffchen gespielt hat:
"Das, was Kinder uns zeigen, ist ja in dieser Antwort, dass sie immer schon versuchen eine Ordnung ihrer Erfahrung auch wieder zu entwickeln. Also von daher, hier geht es überhaupt nicht darum, dass es um ein völlig chaotisches Geschehen geht, sondern es macht einen Sinn. Mir ging es ja nicht darum, eine Magie der Dinge zu beschreiben, sondern überhaupt zu beschreiben, warum so etwas wie eine Magie entstehen kann, was dem voraus geht."
Das Überzeugende an Stieves Darstellung ist, dass er sich bis weit in die philosophischen Voraussetzungen seiner Pädagogik hinein begibt. In Nachfolge von Käte Meyer-Drawe vertieft er sich insbesondere in die responsive Phänomenologie, wie sie Bernhard Waldenfels begründet hat. Zugleich behandelt er sie hinsichtlich der heute prägenden Theorien für die Erziehungswissenschaft: den Konstruktivismus – der das Kind als kompetenten Konstrukteur seiner eigenen Zielvorstellungen beschreibt – und die genannten alternativen Konzepte von Montessori bis hin zur "Reggiopädagogik". Während der Konstruktivismus das Kind nur von seinen Kognitionen und Vorstellungen her deutet, würden Montessori oder Fröbel dagegen der Vieldeutigkeit der Dinge nicht gerecht:
"Also ich möchte, dass dieses Buch auch verstanden wird als eine Kritik am 'hochtourigen Lerner' oder am Kind als Naturwissenschaftler. Ich glaube, dass solche Vorstellungen etwas überspringen. Wir schaffen im Grunde genommen eine Spiegelung unserer selbst, im Kind, mit unserem wissenschaftlichen Verständnis und vergessen, dass die wissenschaftliche Welt, in der wir leben, eine ist, die wir über verschiedene Wege erlernt haben, aber dass ihr etwas vorausgeht, nämlich eine andere Erfahrungsweise. Und dass sich zwischen der wissenschaftlichen Welt und dieser anderen Erfahrungsweise immer wieder Brüche ergeben. Copei hat das sehr schön beschrieben an diesem Bild des Sandhaufens: Er will Kindern zeigen, wie die Höhe zu bemessen ist, eines Berges. Und er geht mit ihnen zu einem Sandhaufen und gibt ihnen einfach die Aufgabe: Ermesst die Höhe dieses Sandhaufens. Und was die Kinder als Erstes tun, ist, dass sie die Zentimetermaße, also die Zollstöcke, die er ihnen mitgegeben hat, auf die Hänge des Sandhaufens legen. Und es geht auch eine ganze Weile, dass sie das tun, er muss sie über mehrere Fragen dahin führen, dass es doch ein Paradox ist, dass sie darüber verschiedene Höhen feststellen. Und irgendwann kommt ein Kind auf die Idee, diesen Stock wirklich hineinzustechen, was ja auch sinnlich in diesem Fall möglich ist, und darüber die Höhe zu ermessen. Was das Beispiel sehr schön zeigt, ist, dass Höhe tatsächlich erst mal eine leibliche Erfahrung ist – es macht Sinn, dass die Kinder die Zollstöcke auf den Hang legen, weil der Hang unserem Aufstieg, also dem Anstieg entspricht, und das ist unsere leibliche Erfahrung von Höhe. Es ist erst mal eine Anstrengung. Und es wäre ein typisches Beispiel dafür, dass es Erfahrungsweisen gibt, die einem wissenschaftlichen Verständnis zuvorkommen, und auf die ein wissenschaftliches Verständnis auch immer wieder zurückkommen muss."
Man wird die Studie von Claus Stieve kaum lesen, ohne nicht im Hintergrund die Debatten um die Kompetenzen auch der Kleinsten, um Exzellenzvorstellungen schon bei Kinderkrippen und PISA-Studien für den weiteren Werdegang vor Augen zu haben. Das Kind muss nicht nur in unsere Welt eingeführt werden, es muss sie auch verändern können, ohne vorbestimmtes Ziel. Und dabei helfen ihm nicht zuletzt die Dinge. "Von den Dingen lernen. Die Gegenstände unserer Kindheit" zeigt ebenso anschaulich wie nuanciert, dass man nicht etwa "das Lernen lernen" muss – wie ein Slogan so schön heißt –, sondern jeder Gegenstand uns etwas lehrt, noch vor jeder Erklärung.
Claus Stieve: "Von den Dingen lernen. Die Gegenstände unserer Kindheit". Wilhelm Fink Verlag, Paderborn