Bushra al-Maktari ist fassungslos. Bis zuletzt war sie davon überzeugt, dass die zivilisierte Welt einschreiten würde. Doch die schaut weg.
"Am Donnerstag, den 26. März, nachts um zwei Uhr wurde der Krieg Wirklichkeit. Besonders eingeprägt von jenen Morgenstunden hat sich mir nicht etwa das Dröhnen der Explosionen oder der unheimliche Lärm der Kampfjets […] Vielmehr war es mein Erschrecken über die plötzliche Gegenwart des Krieges und über das schlagartige Zusammenbrechen allen normalen Lebens."
Bushra al-Maktari wird ihr Land nicht verlassen. Sie bleibt, wird Augenzeugin eines Krieges, der die Jemeniten entzweit und zum Spielball der Regionalmächte macht. Sie sieht unfassbare Not, Tod und Zerstörung. Wie in der Hafenstadt al-Hudaida, als eine Kriegspartei abzieht und eine andere einmarschiert...
"Die Krankenhäuser quollen über vor Opfern. Zivilisten, die bei den Luftangriffen verwundet worden waren. Mit eigenen Augen konnte ich sehen, was eine Splitterbombe einem armen Fischhändler angetan hatte. Konnte sehen, was Hunger mit den Körpern von Männern, Frauen und Kindern angerichtet hatte, […] konnte die Angst in den Augen der Menschen sehen, die eines ungewissen Schicksals harrten. Dutzende von ihnen sollten später unter Folter sterben. Dabei bildet al-Hudaida in diesem Riesengefängnis namens Jemen keine Ausnahme."
Kriegsschichten über Angst, Verlust und Trauer
Doch al-Maktaris Thema ist nicht die Politik, sie will nicht Partei ergreifen, will nicht einordnen und analysieren. Sie will zuhören: All jenen ansonsten "stimmlosen Wesen", wie sie in ihrem Vorwort schreibt. Einfache Menschen sind es: Fischer, Hausfrauen, Bauern, Fabrikarbeiterinnen... Zivilisten eben, die Opfer eines jeden Krieges, versteckt hinter Zahlen und Ziffern, der sogenannte "Kollateralschaden".
Al-Maktari gibt ihnen ihre Stimme zurück, lässt sie erzählen, fertigt für sie Protokolle an, schreibt ihre Geschichten nieder, Kriegsgeschichten. Sie zeugen von ständiger Flucht, der Angst vor Luftangriffen und Scharfschützen, von Trauer und Verlust. Yassin Abdelqaui Saleh al-Dschaberi:
"Kannst du dir das vorstellen? Eine ganze Familie, einfach ausgelöscht. Mir blieb nicht ein Andenken an meine Familie. Etwas, um sie zu spüren, zu riechen, mich an ihre Gesichter zu erinnern, um mich davon zu überzeugen, dass es sie überhaupt gegeben hat in dieser Welt. Nicht ein Foto hat die Katastrophe überstanden."
Es sind Menschen, die nicht wissen, wie sie mit den Bildern weiterleben sollen, Bilder des Schreckens. Nabila Abdelkarim Ahmad Farhan:
"Es muss etwa nachts um halb drei gewesen sein. Ich rannte panisch ins Wohnzimmer und sah meine Mutter in ihrem Blut liegen. Teile ihres Kopfes klebten an der Wand auf der anderen Seite des Zimmers. Meine Tante und ihre Töchter weinten. Genauso wie mein kleiner Bruder Ammar, der versuchte, meiner Mutter die Hirnmasse zurück in ihren Kopf zu pressen."
Dokumente für die spätere Aufarbeitung von Kriegsverbrechen
Der Scharfschütze, der Kinder in ihrem Bett tötet und die Eltern in den Gassen wie Hasen jagt. Der Folterer, der sein Opfer spüren lässt, wie sehr ihn seine ‚Arbeit’ freut. Der Kampf-Hubschrauber, der so lange kreist und feuert, bis auch das letzte Fahrzeug, das letzte Fischerboot von Schüssen durchsiebt ist. Die Protokolle machen deutlich: Krieg ist kein Naturereignis. Es gibt die Täter. Und es gibt die Opfer, unzählige, auf allen Seiten. Verzweifelte Menschen, die vergeblich zu verstehen suchen. Und manchmal klagen sie auch an. Haschem Mohammad Thabet al-Qudsi:
"Jedes Mal werden die Taten der Mörder gerechtfertigt und unsere Tragödien heruntergespielt. […] Stell dir vor: In dem Verbrechen an meiner Familie hat niemand ermittelt, kein Ausschuss getagt, kein Politiker sich erkundigt, was uns passiert ist. [...] Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, dass die Opfer genau solche Menschen sind wie sie selbst. Menschen, die ein eigenes Leben hatten."
Mehr als fünf Jahre des Grauens; Kriegsparteien und Regionalmächte ohne eine Spur von Gewissen; westliche Staaten, die ihren Verbündeten Waffen liefern und dann lieber wegschauen.
Bushra al-Maktari schreibt gegen das Vergessen an. Sie will, dass das, was den Menschen im Jemen angetan wird, als Kriegsverbrechen wahrgenommen wird. Akribisch bringt sie daher zu Papier, was die Opfer ihr berichten. Sie dokumentiert, damit die Täter später zur Rechenschaft gezogen werden. Die Protokolle, die sie niederschreibt, gehen unter die Haut, sie erschrecken, rühren zu Tränen. Frei von Theatralik, schlicht und einfühlsam verfasst, machen sie deutlich, was Krieg bedeutet.
Ein mutiger Weckruf
"Was hast Du hinter Dir gelassen?"- al-Maktaris Buch - ist Störfeuer und Weckruf zugleich, es reißt aus Gleichmut und Bequemlichkeit. Ein wichtiges und herausragendes Buch, ein schreckliches Buch - eindringlich und in seiner Intensität kaum auszuhalten.
"Jetzt schreibe ich wieder im Kerzenschein, wie damals, zu Kriegsbeginn. Das Dröhnen der Explosionen schwillt an, die Fenster meiner Wohnung klirren."
Bushra al-Maktari, 41 Jahre alt, lebt bis heute im Jemen. Um ihre Augenzeugen aufsuchen zu können, ist sie in den vergangenen Jahren inkognito von Ort zu Ort gereist, immer den Gefahren der Kampfhandlungen ausgesetzt. Für ihre Arbeit gebühren ihr Respekt und Hochachtung. Eine Schriftstellerin und Journalistin, die zuhört, tröstet und hinter ihren Protagonisten zurücktritt. Nur selten lässt sie in ihr Innerstes schauen, wie hier, in ihrem Schlusswort, als sie über den Verlust ihrer Freundin Riham spricht.
"Der Krieg hat dich umgebracht. Mich ließ er mit einer maßlosen Sprachlosigkeit zurück, die sich tausendfach im Spiegel deiner Abwesenheit bricht. Ruhe in Frieden, meine Freundin."
Bushra al-Maktari: "Was hast Du hinter Dir gelassen? Stimmen aus dem vergessenen Krieg im Jemen!",
Econ Verlag, herausgegeben von Constantin Schreiber, übersetzt von Sandra Hetzl, 320 Seiten, 24,99 Euro.
Econ Verlag, herausgegeben von Constantin Schreiber, übersetzt von Sandra Hetzl, 320 Seiten, 24,99 Euro.