Während wir im Kino saßen, hatte Schabowski wie beiläufig eine Mitteilung über neue Reiseregelungen verlesen und war beim Wort genommen worden. An diesem Abend hatte das Volk so getan, als könne man dieser Führung glauben. Es war ihr Ende. Die Mauer war gefallen.
Und wie bei so vielen anderen Menschen auch waren die ersten Regungen und Gedanken von Bisky und seinen Freunden angesichts dieses historischen Ereignisses kläglich banal und egoistisch:
Sagen wollte es am Abend keiner, aber die Sorge war doch da, dass in den kommenden Wochen das Publikum lieber in den Westen fahren als ins Kino gehen würde. "Nun hat die DDR ihr Coming out", sagte eine Freundin doppeldeutig. Das Land öffnete sich und offenbarte damit, was und wie es war: zusammengehalten durch die Mauer, den Rechtsgrund der Gewalt.
Es gehört zu den Stärken dieser Autobiografie, dass sie stets auch die heimlichen Selbstsüchte, die eigenen Schwächen bloßlegt. Dabei geht es Bisky nicht nur um eine Ehrlichkeit um der Glaubwürdigkeit willen. Sein demonstrativer Individualismus ist Konzept dieses Buches, das schon im Titel das "Ich" trägt und das vor allem eines zeigt: Wie auch beim Angepasstesten das 'Ich' mit dem verordneten sozialistischen 'Wir' unweigerlich kollidieren musste. Denn Jens Biskys DDR-Geschichte ist nicht die eines Rebellen, Stasi-Opfers und leidvoll Unterdrückten. Es ist die Geschichte eines - wie er schreibt – 'traditionsbewussten Revolutionärs', eines Ideologie-Begeisterten, der die Repressalien des real existierenden Sozialismus für Kinderkrankheiten hält, die im historischen Prozess geheilt werden können.
Zu Staat und Partei pflegte ich ein familiäres, persönliches Verhältnis und eines des Glaubens, kein politisches. Die Folgen waren danach. Wer den Sozialismus am Familientisch Platz nehmen ließ, vertrieb sich selbst davon, behandelte die eigene Person wie ein Funktionär, sah auf das eigene Leben mit technokratischem Blick. Statt Freiheit zu fordern, zu suchen, schränkte ich die eigene ein. Statt nach außen zu wirken, holte ich die Konflikte ins Innere. Ich war lange Zeit ein authentischer Sozialist gewesen. Jetzt tat ich, was für den Sozialismus gut sein sollte, obwohl ich ahnte, dass es für mich schlecht ausgehen würde.
Die erwartete Desillusionierung sollte folgen und hält bis heute an. So war ein Grund für Jens Bisky, dieses Buch zu schreiben, schlicht Ärger.
Vor allem habe ich mich geärgert über diese Ostalgie-Welle, die in den letzten Jahren über uns geschwappt ist, und zwar aus mehreren Gründen. Der eine Grund ist: Da erscheinen Ostdeutsche so als putzige Figuren, mit seltsamen Gewohnheiten, die immer komische Sachen anhaben. Ich bin keine putzige Figur, ich will als Bürger ernst genommen werden. Dann hat mich gestört, dass der Sozialismus da als so eine niedliche Angelegenheit erscheint, als so ne harmlose Sache, aber er war für seine Gegner wie für seine Anhänger keine harmlose und niedliche Sache, sondern 'ne ernste und für manche 'ne todernste.
"Die DDR", schrieb Heiner Müller in seiner Autobiografie, "war ein Traum, den Geschichte zum Alptraum gemacht hat, wie das Preußen Kleists und Shakespeares England." Mit 18 Jahren erlebt Jens Bisky seine intensivste Traumphase und marschiert den zu Schulzeiten als FDJ-Sekretär und Agitator eingeschlagenen Weg schnurstracks weiter in die SED und die NVA: Er lässt sich für vier Jahre als Unterleutnant verpflichten. Erst hier jedoch gelingt seine Flucht vor der Wirklichkeit ins marxistisch-theoretische Ideal nicht mehr, denn Jens Bisky sieht sich gezwungen fortan ein Doppelleben zu führen: Seine Homosexualität ist es, die ihn zum subversiven Subjekt werden lässt, denn nach einer Schikane durch Vorgesetzte gibt es nun zwei Biskys: den privaten Liebhaber des gleichen Geschlechts und den offiziellen Leutnant. Diese schizophrene Trennung ist auch in seiner Biografie noch spürbar. Jens Bisky liebt es, den Leser immer wieder in die Irre zu führen, durch eine Ironie, die nur subtil kommentiert, und durch eine Dramaturgie der Überraschung, mit der Bisky das Skandalöse im Banalen versteckt. Harmlose Oberflächenbeschreibungen, seine detaillierten Wohnungs- und Bekleidungsaufzählungen etwa oder seine humorvoll präsentierten Szenerien aus dem Schulalltag, geraten zu Metaphern für eine schon in der Anlage marode Gesellschaft. Mit dieser deutlich inszenierten Form seiner Erinnerungen wird aus der berichtenden eine literarisierte Autobiografie. Seine Geschichte liest sich stellenweise wie ein Bildungsroman von einem, der auszog, die Welt zu verbessern und sich dann doch lieber selbst verwirklichte. Und der letztlich selbst nie wusste, wo denn die Grenzen zwischen dem Politischen und dem Privaten zu ziehen seien. So blickt der Autor Jens Bisky meist spöttelnd auf seine halb naive, halb strebsam-intelligente Figur Jens Bisky herab, schüttelt freundlicherweise den Kopf über dessen staatstreuen Übereifer und amüsiert sich über dessen heimliches Ausbüxen in die erotische Selbstbehauptung. Schon mit 13 Jahren erweist sich Bisky als ein Meister in der staatlich verordneten Selbstkritik, wenn er unter dem Titel "Wie ich bin – wie will ich werden" offenbart:
Zur Zeit bin ich Freundschaftsratsvorsitzender an meiner Schule und bemühe mich, meine Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen. Doch manchmal mache ich noch zuviel alleine. Diesen Vorwurf haben sie mir schon in der zweiten Klasse gemacht, aber bis heute habe ich mich darin nicht geändert. Auch quatsche ich noch viel, zu viel, und ich nehme mir vor, das zu ändern.
Heute ist Jens Bisky Journalist und Feuilleton-Redakteur. Den "authentischen Sozialisten" seiner Vergangenheit hat er hinter sich gelassen – wie er selbst sagt:
Ich versuche in diesem Buch 'ne Geschichte zu erzählen, wie man sich verändert, wozu es auch gehört, dass man sich selber fremd wird. Und mich macht das eigentlich optimistisch, ich möchte in einer Welt, in der die Menschen sich nicht mehr verändern, eigentlich nicht leben. Und ich glaube auch nicht, dass wenn man einmal Pionier, einmal FDJ-Agitator war, dass man Zeit seines Lebens dann Unsinn in Uniformen reden muss.
Mit lakonischem Ton gelingt Bisky eine sympathische Selbstinszenierung, die bei aller faktischen Offenheit sein Seelenleben schützt. Viele seiner Gefühle bleiben letztlich undurchschaubar, und auch Charakterporträts von Freunden, Lehrern oder Vorgesetzten sind Biskys Sache nicht. Besonders das Verhältnis zu seiner berühmten Familie bleibt seltsam verschwommen. Er hält sich an Tatsachen, berichtet vom erfolgreichen Malerbruder Norbert, von der Kandidatur des Vaters Lothar für die PDS oder von – in ebenso nüchternem Ton – der IM-Tätigkeit der eigenen Mutter. Auch Biskys Lebensgefährte war Stasi-Spitzel. Und selbst bei diesen schockierenden Entdeckungen bleibt sein Ton verständnisvoll, ja gelegentlich geradezu enttäuschend unaggressiv. Trotzdem wird deutlich, wie sehr sich Jens Bisky durch all die nachträglich offenbar gewordenen Irrtümer seiner eigenen Erinnerungen beraubt fühlt. So liest sich diese Lebensgeschichte eines
38-jährigen auch als der Versuch, die Enteignung einer Biografie durch ein menschenfeindliches System rückgängig zu machen. Hier ist einer auf der Suche nach sich selbst, viele Fragen bleiben offen. Aber Jens Biskys Versuch, seine 23 Jahre in der DDR, den Sozialismus und sich selbst zu verstehen, stellt sich den Paradoxien des Lebens. Ein Qualitätsmerkmal für eine Autobiografie.
Nicole Strecker über Jens Bisky: "Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich". Veröffentlicht bei Rowohlt Berlin, das Buch umfasst 252 Seiten und kostet 17,90 Euro.