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Jenseits der Hochzeitsglocken (4/5)
Elend und Trauer in Londons königlichem Bezirk

Ein Schatten liegt über dem Londoner Bezirk Kensington und Chelsea, in dem auch die Enkel der Königin mit ihren Familien leben: Beim Feuer im Grenfell Tower starben vor knapp einem Jahr 71 Menschen. Bis heute hausen Überlebende in provisorischen Unterkünften - die Kritik an der Regierung ist groß.

Von Mareike Aden |
    In Erinnerung an die Brandkatastrophe im Grenfell Tower in Londen stehen Blumen neben einem Zettel mit der Aufschrift "Justice for Grenfell"
    Knapp ein Jahr nach dem Brand im Grenfell Tower mit 71 Toten ist die Aufklärung der Katastrophe noch nicht beendet (AFP/ Niklas Halle'n)
    Die Handtasche aufmachen, Schlüssel und Münzen auf den Tisch legen, den Laptop ebenso. Der Ablauf der Sicherheitskontrolle vor dem Rathaus des Bezirks Kensington und Chelsea ist Tasha Brade längst bekannt. So oft wie möglich geht sie zu den Council Meetings, den Zusammenkünften des Bezirksparlaments. Denn seit dem Sommer 2017 geht es fast in jeder Sitzung irgendwann um das Feuer im Grenfell-Tower und seine Folgen. Als Aktivistin der Gruppe "Justice For Grenfell", die Gerechtigkeit und Aufklärung fordert, will Tasha unbedingt dabei.
    "Es geht darum, den Druck aufrechtzuerhalten und informiert zu sein. Wir müssen immer wissen, was vor sich geht und welche Entscheidungen getroffen werden. Nach dem Motto: Sie sollen nichts über uns sagen, ohne dass wir dabei sind."
    "Justice for Grenfell"-Aktivistin Tasha Brade vor einer mit Herzen bunt bemalten Wand
    Tasha Brade gehört zum Kernteam der Aktivistengruppe "Justice for Grenfell", die nach der Brandkatastrophe in dem Londoner Hochhaus Gerechtigkeit und Aufklärung fordert (Deutschlandradio/ Mareike Aden)
    Superreiche und Sozialwohnungen in einem Bezirk
    Das Rathaus liegt nur 15 Fußminuten entfernt vom Kensington Palast: Prinz William wohnt mit seiner Familie dort und auch Prinz Harry und Meghan Markle leben seit der Verlobung offiziell auf dem Gelände. Wegen des Palastes und der Königsfamilie heißt der Bezirk auch Royal Bourough of Kensington and Chelsea: Königlicher Bezirk Kesington und Chelsea. Er gilt nicht nur als der reichste in London, sondern landesweit. Auch Tasha ist in diesem Bezirk aufgewachsen, allerdings im nördlichen Teil, in dem auch viele Sozialwohnungsbauten stehen. Im Süden, wo Palast und Rathaus stehen, leben nicht nur reiche Briten, sondern auch Superreiche aus dem Ausland.
    "Es ist eine Geschichte aus zwei Städten. Aber bis zu dem Feuer war mir gar nicht klar wie unterschiedlich wir sind."
    Tasha hat die Zuschauertribüne des Sitzungssaales erreicht, unten sitzen schon die Abgeordneten. Sie ist überzeugt: Gerade die Politiker der Konservativen Partei hätten nur die Interessen der Wohlhabenden im Sinn.
    "Ich fühle mich, als ob die Politiker hier uns nicht verstehen, als ob sie keine Empathie haben für jene, die ihr Zuhause und ihre Angehörigen verloren haben. Wir haben immer noch Familien, die in Hotels leben müssen."
    Tasha macht Notizen zum Verlauf des Council Meetings auf ihrem Laptop. Ein Abgeordneter der Labour-Partei kritisiert, dass die Konservativen die Steuern im Bezirk erhöhen wollen, weil die Feuer-Katastrophe so hohe Kosten verursache – für die Kritik kommt Applaus von der Tribüne, auch Tasha nickt.
    "Großes Unrecht, dass die Regierung noch nichts getan hat"
    Sie wohnt in der Nähe vom Grenfell Tower und hat dort als Kind oft gespielt. Als sie am 14. Juni in den frühen Morgenstunden von dem Feuer hörte, eilte sie wie so viele dorthin, mit Kleidung, Wasser, Lebensmitteln. Alle halfen, sagt Tasha, aber von den Behörden sei lange niemand gekommen. Und die Fehler hätten sich fortgesetzt:
    "Landesweit haben fast 300 Gebäude ebenfalls eine leicht entflammbare Außenverkleidung. Es ist großes Unrecht, dass die Regierung immer noch nichts getan hat."
    Nach dem Council Meeting geht Tasha Brade zu Fuß nach Hause. Der Weg führt sie weg von den noblen Häusern und Geschäften des Stadtbezirkes, näher zum Grenfell-Tower, in dem sich auch viele Sozialwohnungen befanden. Die Forderung "Justice for Grenfell" – "Gerechtigkeit für Grenfell" ist oft zu sehen: als Plakat in Fenstern, als Graffiti oder aufwendige Wandmalerei.
    "Gerechtigkeit bedeutet für jeden etwas anderes. Für mich persönlich bedeutet es: Jemand muss strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Denn es sind 71 Menschen gestorben."
    Rund um den Grenfell-Tower an Nachbarhäusern sind immer noch Beileidsbekunden zu sehen, Kuscheltiere und Kerzen stehen vor einer Kirche.
    "Jedes Mal, wenn ich den Grenfell Tower sehe, wird es schlimmer. Es ist niederschmetternd, die schwarzen Überreste zu sehen. Dort gab es so viel Leben, Talent und Liebe – das ist jetzt zu Asche geworden. Und wenn man sieht, wie Bahnen und Autos daran vorbeifahren, versucht man sich zu erinnern, dass das Leben weitergeht. Aber wir stecken noch fest, wir können noch nicht einfach weitermachen."
    Man sieht ein ausgebranntes Gebäude vor wolkenbehangenem Horizont
    Das zerstörte Hochhaus Grenfell Tower in London: "Es ist niederschmetternd, die schwarzen Überreste zu sehen", sagt Aktivistin Tasha Brade (imago stock&people)
    Die Queen und Prinz William kamen
    Tasha gehört zum Kernteam der Aktivistengruppe, ihren eigentlichen Beruf übt sie beinah nebenher aus. Im Moment hat ihr Aktionsbündnis vor allem die öffentliche Untersuchung im Blick, die im Auftrag der Regierung zur Aufklärung der Brandursachen läuft. Aber kaum jemand hat Vertrauen. Die Behörden hätten direkt nach dem Feuer viel Kredit verspielt, sagt Tasha. Vor allem Premierministerin Theresa May habe die wütenden und verzweifelten Überlebenden zu lange gemieden.
    "Sogar beim Trauergottesdienst hat sie die Hintertür benutzt. Das zeigt, was sie für Vorurteile gegenüber uns und den Menschen hier haben. Dass sie nicht einmal zu uns kommen konnten direkt nach dem Feuer, um zu sagen: Wir wissen, dass hier etwas schrecklich falsch gelaufen ist. Aber jetzt leben immer noch Menschen in Hotels und Notunterkünften. Das ist scheußlich. "
    Umso mehr, sagt Tasha, habe es geholfen, dass Königin Elisabeth zusammen mit Prinz William zwei Tage nach dem Feuer eine Sporthalle besuchte, in der Überlebende untergebracht waren.
    Die britische Königin Elizabeth besucht eine Notunterkunft, in der Opfer des Brandes im Grenfell Tower sowie ehrenamtliche Helfer sind.
    Die britische Königin Elizabeth besuchte eine Notunterkunft, in der Opfer des Brandes im Grenfell Tower sowie ehrenamtliche Helfer untergebracht waren (dpa-Bildfunk / AP / Pool / Dominic Lipinski)
    Tasha wünscht sich einen Gedenkgarten
    "Auch weil sie ja die Straße runter wohnen, hier in Kensington und Chelsea. Es hat den Menschen hier viel bedeutet, dass sie kamen – und weiterhin kommen. Ich weiß, dass William und Harry ein paar Mal Überlebende getroffen haben, auch Kinder. Sie haben zugehört. Das war auch nötig, nachdem die Menschen hier sich von der Regierung ignoriert fühlten. Wenigstens ein Teil des Staates kam und sagte damit: Ihr seid uns wichtig, wir verstehen was ihr fühlt."
    Doch was wirklich zähle, sagt Tasha, sei die restlose Aufklärung – und Strafen für die Verantwortlichen. Einen wichtigen Sieg hat ihre Gruppe schon miterrungen: Anwohner und Überlebende sollen federführend entscheiden, was auf dem Gelände geschehen soll, auf dem jetzt noch der verkohlte Grenfell Tower steht. Tasha selbst wüscht sich einen Gedenkgarten.