"Das ist unser Viertel. Wir lieben es. Es ist einzigartig. Wenn ich durch diese Gassen gehe, wir werden sehen, was heute passiert, treffe ich immer Bekannte. Ständig. Es ist ein sehr freundliches Umfeld."
Ich gehe mit Shana Neril durch Nachlaot und später über den Mahane Yehuda Markt. Zentral gelegen, im Westen Jerusalems. Hier schlägt für mich das Herz der Stadt. Denn auf diesem Markt kommt das ganze bunte Jerusalem zusammen, zumindest das jüdische. Die meisten Israel-Reisenden verpassen dieses Gassengewirr von Nachlaot mit seinen einfachen alten Steinhäusern, die sich an den Hügel ducken. Hier sind nur Fußgänger unterwegs. Alles andere geht nicht. Es ist zu eng. Parks, Hinterhöfe, Synagogen – sie scheinen sich zu verstecken. Seit den 1870er Jahren haben sich hier einfache Leute niedergelassen, vor allem Juden aus arabischen Ländern.
"Wir holen jetzt meinen Sohn von der Vorschule ab. Das wird hier Gan genannt. Er ist vier Jahre alt. Es ist sein erstes Schul-Jahr."
Shana Neril lebt mit Shachariya, ihrem kleinen Sohn und ihrem Mann Yonathan in Nachlaot. Sie trägt einen langen Rock, die Arme sind bedeckt, auch ihr Haar - mit einem Tuch. Jeder kann es sehen: Diese junge Frau ist eine Jüdin, traditionell religiös. Zugleich wirkt sie modisch und weltoffen.
Angekommen in Shachariyas Schule: Auch die anderen Eltern wirken so: Es gibt eine starke alternativ-jüdische Szene hier. Vor acht Jahren ist Shana Neril von Kalifornien nach Jerusalem gezogen. Ihr Mann ist Rabbiner, ein Öko-Rabbiner, der eine jüdische Umweltschutz-Akademie gegründet hat. Shana ist Yoga-Lehrerin, Naturheilkundlerin.
"Die ganze Nachbarschaft wird gentrifiziert. Das ist schade. Es wird zu teuer für normale Leute, hier zu leben."
Wir überqueren einmal die Aggrippa Straße und sind im Mahane Yehuda Markt.
"Was wir wirklich gern machen: Wir kaufen uns frisch gepressten Saft. Das ist gesund und lecker. Ich möchte, dass Shacharyia gesund aufwächst. Das ist nicht einfach, weil in der Schule nicht so viel Wert auf gesunde Ernährung gelegt wird. Ich tue aber, was ich kann."
Am Freitagabend lädt die alternative Rabbinerfamilie mich zum Shabbat-Mahl ein. Mein Mikro bleibt aus.
Alternatives Wohnen in Israel - Besuch im Kibuzz-Viertel
"Hier ist ein typische Kibbuz-Wohnviertel. Sie können sehen: ist kein Zaun, ist einfach so offen. Und auch keine Parkplatz für die Autos. Das ist einfach offen und grün und schön. Jetzt ist Shabbat. Also, die Samstag, die Leute schlafen vielleicht noch. Sehr ruhig."
Eli Kedem kommt aus einem sozialistischen Milieu. Wir sind am See Genezareth. Im Kibbuz Maagan. Eli Kedem ist Mitte 60, ein drahtiger, kleiner Mann. Seine Eltern haben diesen Kibbuz vor rund 75 Jahren gegründet. Ungefähr 20 Frauen und Männer der Gründergeneration leben noch. Seine Eltern sind 1941 und 1944 vor den Nazis geflohen. Sie waren Sozialisten und Zionisten. Sie haben in ihren neuen Dörfern alles geteilt. Gleiches Gehalt, direkte Demokratie. Eli lebt seit seiner Geburt im Kibbuz: seit 1948, dem Jahr, in dem auch Israel geboren wurde.
"Also, hier haben wir dieses Kinderhaus oder Kindergarten. Erziehung war immer sehr wichtig im Kibbuzleben. Also, sie erwachsen in Gruppen. Das ist eine kleine Kindergarten. Sie kommen hier morgens um sieben bis vier. Um vier sie gehen zu den Eltern. In meiner Zeit wir haben auch geschlafen in diesem Kinderhaus. Ich erinnere das nur als ein Vater. Als Vater war das nicht so einfach."
Jedes Kibbuzmitglied hat ein Grundeinkommen. Wer außerhalb arbeiten geht, darf was dazu verdienen. Alle Ländereien sowie das Hotel gehören dem Kibbuz. Immobilienspekulation ist ausgeschlossen. Bei wichtigen Entscheidungen braucht es Mehrheiten von 70 Prozent. "Wir suchen eine neue Balance zwischen Freiheit und Sozialismus," sagt Eli Kedem.
"Das ist hier ist das Zentrum von unserem Kibbuz. Wir haben ein kleinen Laden hier, Mini-Market, unser Informationsbord. Wir können lesen, was geschieht, kulturelle Aktivitäten, private Informationen - jemand will sein Fahrrad verkaufen oder seinen Hund verloren oder so was. Ist alles hier geschrieben; und die Leute kommen zu dem Laden und können hier lesen."
Der Kibbuz Maagan ist einer von rund 260 im Land – mit rund 120.000 Israelis, die so leben. Wir stehen an der Südspitze des Sees Genezareth. Die Nachbarn sind zum Greifen nah: hier Jordanien, dort der Libanon – und da hinten Syrien. Bergketten um uns herum mit Nachbarn, die nur zum Teil Frieden geschlossen haben mit Israel. Wenn Eli Kedem Gäste durch den Kibbuz führt, dann sagt er von sich aus nichts zu den Bunkern, die über den Kibbuz verteilt sind – so, dass jeder möglichst schnell Schutz findet. Man muss ihn schon drauf ansprechen.
"Weil wir so in der Nähe von der Grenze sind, von Syrien und Jordanien, wir haben hier hier Bunkers. Ungefähr 20 Bunkers in dem Kibbuz. Jedes Wohnviertel, jeder Platz hat einen Bunker und Platz für 25, 30 Leute da unten."
Besonders vor 1967, der Eroberung der Golan-Höhen, haben sie viele Nächte dort verbracht, erinnert sich Eli Kedem. Dann noch mal 2006: im Libanonkrieg.
"Hizbollah und Syrien haben viele Raketen. Darum wir müssen bereit sein, wir halten diese Bunkers ganze Zeit. Wir hoffen, dass wir brauchen nicht zu gebrauchen; aber muss bereit sein für jeden Fall."
Und erst bei meinem zweiten Besuch – ein Jahr später - zeigt er uns einen dieser Bunker von innen.
"So, das ist eine Bunker für die Kindern von den Kindergarten. Ist nicht für lange - aber für ein paar Stunden - sie können hier bleiben, wenn es nötig. Wir ein Mitglied, die ist verantwortlich für den Kontakt mit der israelischen Armee. Und so er kann sagen: Jetzt wird es gefährlich. Oder jetzt müssen wir in die Bunker gehen."
Wir sind wieder an der frischen Luft. Eli Kedem hat drei erwachsene Kinder.
"Dies war unsere Speisesaal. Und ich kann erinnern, dass wir essen hier, haben hier gegessen dreimal pro Zeit: Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Alles. Treffen von alle 200 Leute dreimal pro Tag."
Es gibt fast nur Fuß- und Radwege im Kibbuz. Dann ruft Eli Kedem seine Frau an, sagt was von Deutschlandfunk oder deutschem Radio und fragt, ob wir vorbeikommen können. Immer wieder lassen mich Menschen teilhaben an ihrem Leben.
Hin- und hergerissen zwischen den Kulturen - Suche nach einer eigenen Identität
Das gilt auch für Shefaa Abu Jabal. Sie stammt vom Golan. Dort werden wir sie treffen. Vom Kibbuz aus steigt die Straße steil an. Ein atemberaubender Blick. Von diesen Bergketten aus regnete es Granaten und Raketen – bis 1967. Seit die Golanhöhen von Israel kontrolliert werden, wirken sie wie ein Puffer. Für die arabischen Bewohner des Golan stellt sich das anders dar. Sie betrachten Israel als Besatzer. Als Reisender kann man sich völlig frei bewegen auf dem Golan. Wenn es nicht mehr weiter geht, im nördlichsten Zipfel. Hier leben mehrheitlich drusische Familien. Wir sind in Majdal Shams.
"Mein Name ist Shefaa. Ich bin aus Majdal Shams. 28 Jahre alt. Ich bin Juristin. Ich mache gerade meinen Abschluss als Kriminologin. Und ich bin Aktivistin hier auf dem Golan – gegen Syriens Präsident Baschar al-Assad."
Wir stehen etwa hundert Meter entfernt vom Grenzzaun, der die Golan-Höhen von Syrien trennt. Damaskus ist nah. 60 Kilometer entfernt. Der Zaun glänzt silbern. Shefaa Abu Jabal lebt in Haifa, also im israelischen Kernland. Nur an den Wochenenden kommt sie hier nach Majdal Shams.
"Majdal ist meine Heimat. Vieles im Leben kann man sich aussuchen – aber nicht wo man geboren ist. Das muss ich akzeptieren: Ich in Majdal Shams geboren – als Syrerin. Und auch 60 Jahre israelische Besatzung würden das nicht wegwischen: Ich lebe zwar nicht wie eine Syrerin, aber ich kann meine Wurzeln spüren."
Shefaa hat keinen israelischen Pass, obwohl sie einen haben könnte. Sie hat nur eine Reise-Erlaubnis. Mehr will sie nicht.
"Ich bin hineingeboren in eine drusische Familie, in ein drusisches Umfeld. Die meisten meiner Freunde sind gläubige Drusen. Ich kann und will nichts daran ändern. Aber ich lebe meinen eigenen Weg – besonders, wenn es um religiöse Fragen geht. Im Mittleren Osten prägt die Religion alles: wer einen liebt und wer einen hasst, wer mit einem redet und wer nicht. Die Menschen hier nehmen Religion zu ernst, finde ich."
Shefaa hat langes schwarzes Haar. Sie trägt es offen. Sie ist schlank, modisch angezogen. Sie ist 28 und unverheiratet. Schon deshalb fällt sie aus dem Rahmen - in ihrem ländlich-drusischen Umfeld. Es führt zu Familienkonflikten, wenn junge Frauen sich von drusischer Religion, Kultur, Tradition entfernen. Die Familie Abu Jabal aber unterstützt Shefaa. Wir fahren jetzt durchs Dorf.
"Das ist der zentrale Platz von Majdal."
Es gibt kaum klassische Sehenswürdigkeiten im Majdal Shams. Wer hier hin fährt, will Menschen wie Shefaa kennenlernen oder einfach mal in einem Ort sein, der so anders ist. Es fühlt sich an wie am Ende der Welt.
Eine Hipster-Metropole wird geboren - Tel Aviv
"Ich heiße Tair. Ich lebe in Tel Aviv, seit fast 20 Jahren, habe zwei kleine Kinder und einen wunderbaren Mann. Wir leben im Jemenitischen Viertel. Ich bin Designerin, eigentlich Schuhdesignerin. Aber ich musste mal was Neues machen. Und nun vermiete ich Zimmer über die Internetplattform "Airbnb". Und direkt daneben habe ich ein Atelier. Da biete ich Makramee- und Strick-Arbeiten an."
Das natürlich nicht im Stil von früher. Tair Avni führt mich durch ihr Viertel. Auch durch die Seitenstraßen, sozusagen in die Eingeweide dieses Viertels, in dem sich vor mehr als 100 Jahren jemenitische jüdische Einwanderer angesiedelt haben. Sie bauten einfache kleine Häuser, brachten ihren Lebensstil mit. Als ob die Vergangenheit noch zu spüren sei. Auch wenn sie überlagert wird von Graffiti und dem Marktgeschrei von nebenan. Weiße Vögel sitzen auf Kabeln: Aasfresser, die auf Fleischreste der koscheren Metzger warten. Eine Zeitlang traute sich die Polizei nicht ins Viertel. Dafür umso mehr Kriminelle.
"Langsam, aber sicher wird das hier zu einer Edelnachbarschaft. Jeder will hier hin, weil hier mehr Platz zu sein scheint. Es ist zu spüren, dass der Strand nicht weit ist. Ich zumindest spüre das. Auch der Karmel Markt ist nah."
Im Jemenitischen Viertel gibt es günstige und wirklich coole Restaurans. Zum Teil sind es Privatküchen, geöffnet für Gäste. Es gibt nur ein oder zwei Tagesgerichte. Wenn alles aufgegessen ist, dann wird die Küche zu gemacht.
"Ein paar chaotische Orte in einer Stadt zu haben, das ist doch super. Ohne solche Orte sieht überall alles gleich aus. Hier Einkaufszentren und Restaurants, dort Wohnviertel. Doch hier im Jemenitischen Viertel haben wir das totale Durcheinander. Ich hoffe, das bleibt so. Ich fürchte aber, in fünf Jahren ist alles ganz anders. Das wird ein bisschen traurig sein. Klar."
Wir sind im Markt angekommen. Alles ist frisch. Alles schmeckt nach Sonne. Und doch differenziert Tair Avni und geht zu bestimmtern Händlern - und zu anderen nicht:
"Einige sind wirklich unfreundlich. Das brauche ich nicht. Ich kaufe lieber bei Frauen als bei Männern. Selbst wenn es etwas teurer ist. Zum Beispiel diese Frau da, die frische Fruchtsäfte presst. Tikhwa ist eine Magierin. Ich gehe zu ihr, sage, dass ich mich etwas schwanger fühle. Dann sagt sie: Dann braucht Du dies und das. Und macht es."
Tair muss langsam wieder zu ihren Kindern. Ich beobachte weiter diese Menschen, diese oftmals so unverschämt gut aussehenden jungen und alten Menschen, diese bunte Vielfalt.