"Es ist gerade hier eine sehr schöne Szenerie eigentlich: Wir stehen in einem kleinen Flussbett,und links und rechts von uns gehen so geschätzte 20 Meter hoch dicht mit Farnen bewachsene Felswände, während der Boden eben sandig und glatt ist, halt eben Flussbett - und eben sehr szenisch hier, so ein bisschen King Kong Country ist das hier gerade."
Hier wächst der Bambus, den Thorolf Lipp sucht. Zusammen mit mehreren Ni-Vans, so nennt man die Bewohner Vanuatus, durchforstet er den Wald nach den passenden Pflanzen für sein Projekt. Die Lianen und Bambusrohre brauchen die vier Ni-Vans, um dann einen traditionellen Turm vor dem Völkerkundemuseum München zu bauen. Die enorm feuchte Luft dampft mit dreißig Grad. Erschöpft nimmt Thorolf Lipp seinen Lederhut ab und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht. Seine Beine sind verkratzt und mit Dreck bespritzt.
"Ich war jetzt einen Monat hier und weil ich einfach sehr, sehr viel unterwegs war jetzt wirklich zehn Kilo an Gewicht verloren, weil es enorm heiß ist und feucht, man schwitzt permanent, also es ist einfach wirklich anstrengend gewesen."
Proviant hat die Gruppe keinen dabei. Braucht sie auch nicht. Denn auf einer kleinen Lichtung stehen Grapefruitbäume. Während ein junger Mann Früchte vom Baum rüttelt, ist ein anderer schnell am Stamm einer Kokosnusspalme hoch- und wieder runtergeklettert. Er öffnet eine Nuss und nimmt einen Schluck frischen Kokosnusssaft.
Die beschwerliche Dschungelwanderung ist das kleinste Hindernis, das sich Thorolf Lipp bei seinem Projekt in den Weg stellte. Zunächst war es enorm schwer eine Finanzierung zu finden. Als die stand, gab es zeitweise Widerstände von Seiten eines Chiefs, des mächtigsten Mannes im Süden der Insel Pentecost. Doch Thorolf Lipp gab nicht auf. Er wollte die Ursprünglichkeit, die ihn an dem Land so fasziniert, in seiner Heimat zeigen:
"Darauf aufmerksam zu machen, dass auch in einer globalisierten Welt andere Wege tatsächlich möglich sind. Und auch dann möglich sind, wenn man die Welt draußen durchaus auch kennt. Und die Kastom Sa kennen die Welt da draußen. Die waren alle schon Mal in der Hauptstadt. Die haben alle schon Mal Fern gesehen oder einen Film gesehen. Und trotzdem haben sie sich aber dazu entschlossen, weit gehend ihren wichtigsten Traditionen treu zu bleiben."
Denn die Sa, eine Menschengruppe auf der nördlichen Insel Pentecost lebt sehr einfach und naturnah. Es gibt keine Schulen, keine Fernseher, die Menschen tragen kaum westliche Kleidung.
Das Projekt "Ursprung in der Südsee" will aber keine Völkerschau sein, sagt Thorolf Lipp. Die Ni-Vans sollen in München nicht als unberührte Wilde vorgeführt werden. Vielmehr geht es ihm um den persönlichen Kontakt - die Deutschen haben die Möglichkeit selbst Ni-Vans kennen zu lernen:
"Menschen wollen gerne Menschen treffen, wollen anderen Menschen begegnen, von ihnen lernen, mit ihnen zusammen sein. Und deshalb ist das Kernstück dieses Projekts, dass wir Freunde von mir aus Vanuatu, die ich jetzt seit fast 15 Jahren kenne, nach Deutschland einladen um immer wieder in verschiedensten Konstellationen Raum für Begegnungen zu schaffen."
Der Titel "Ursprung in der Südsee" bezieht sich auch auf den Nagol, den die vier Ni-Vans vor dem Münchner Völkerkundemuseum errichten werden. Er ist ein Sprungturm und Teil einer wichtigen Zeremonie der Bewohner der Insel Pentecost.
"Einmal im Jahr bauen die Sa einen bis zu 30 Meter hohen Turm aus Holz von dem sie sich nur mit Lianen an den Füßen befestigt kopfüber hinunter stürzen und dann kurz vor dem Boden von den Lianen aufgefangen werden. Das gehört zu den staunenswertesten Erfindungen der vormodernen Menschheit. Man kann sich im Grunde nicht genug wundern wie und warum diese Veranstaltung zustande kam und bis heute praktiziert wird."
Während sich die Jungen und Männer des Dorfes auf die Sprünge vorbereiten, tanzen die Frauen zu den Füßen des Turms. Dieser Brauch, der wahrscheinlich eine Art Männlichkeitsritual darstellt, gilt auch als Urform des Bungee-Jumpings.
Es ist nur eins von vielen althergebrachten Festen, die zum Leben auf Pentecost dazu gehören. In den Dörfern - meist einzelne, mit Palmenblättern bedeckte Hütten - wird auf dem Nakamal, dem zentralen Platz gefeiert. In der Regel umgeben ihn riesige, Jahrhunderte alte Banyan-Bäume, deren Luftwurzeln miteinander verbunden sind. Am Abend wird Kava getrunken. Ein Saft aus zerstoßenen Wurzeln, der eine leicht benebelnde Wirkung hat.
Hier gibt es klare Hierarchie, der mächtigste Mann im Ort - der Chief - hat die Rolle eines Dorfpatriarchen:
"Demokratie existiert nur in unserer Hauptstadt Port Vila, nicht auf den [anderen] Inseln. Die Menschen unterliegen immer noch der Autorität des Chiefs. Er ist es, der das letzte Wort hat."
Erklärt Hilaire Bule, ein Journalist, der von der Insel Pentecost kommt. Der Chief entscheidet über wichtigen Fragen im Dorf: er lässt Ehebrecher bestrafen und vermittelt wenn es Streit zwischen Familien gibt. Um Chief zu werden, braucht man vor allem ein Händchen für die Schweinezucht, erklärt Jacob Kapere vom National Museum Vanuatu:
"Um in Südpentecost gesellschaftlich aufzusteigen, muss man einen Schritt oder eine Stufe im System der Chiefs nehmen und das geschieht durch die sogenannten "grade taking"-Zeremonien. Dabei muss man viele Schweine töten und dazu ein Fest organisieren. Die Schweine müssen möglichst große Stoßzähne haben und je mehr Schweine mit großen Stoßzähnen du tötest, je höher wirst du aufsteigen."
Die Schweine sind in Vanuatu ein Statussymbol und auch fürs Heiraten wichtig. Denn der Vater der Braut erhält mehrere Tiere als sogenannten Brautpreis - der Ersatz für den Verlust seiner Tochter.
Es ist ein Netz aus Regeln und Traditionen, das das Leben besonders auf den kleineren Inseln des Landes prägt. Das betrifft auch die Kommunikation, erklärt der Journalist Hilaire Bule. Zum Beispiel wenn das Muschelhorn geblasen wird:
"Wenn du eine Zeremonie zum Schweine töten veranstaltest und ich dir ein Schwein dafür gebe und komme dann mit dem Schwein zu dir, wirst du über Kilometer den Klang des Muschelhorns hören. Und du wirst an dem Klang erkennen, dass ich, Hilaire, mit einem Schwein komme, dass sooo große Stoßzähne hat."
Auch die Tamtam, eine traditionelle Trommel kann viele unterschiedliche Nachrichten übermitteln. Von einer Einladung zur Besprechung, bis zu Todesmeldungen - je nach Länge und Art der Schläge. Man muss die Zeichen nur verstehen können, sagt Hilaire Bule.
"Wenn du mich treffen willst und sagst, du kommst morgen vorbei. Und du kommst am nächsten Tag zu meinem Haus und ich bin nicht da, nimmst du ein Blatt eines bestimmten Baumes und legst es vor meine Tür. Und wenn ich zurück komme und das Blatt an meiner Türschwelle sehe, verstehe ich, dass du da warst, als ich nicht da war."
Eine Studie kürte die Ni-Vans vor ein paar Jahren zu den glücklichsten Menschen der Welt. Das klingt nicht übertrieben, denn immer wieder hört man sie sagen: Wir leben im Paradies und haben alles, was wir brauchen. Wenn wir Hunger haben essen wir das, was auf den Bäumen wächst oder Fische aus dem Meer.
Dass Geld kaum zu den Besitztümern der Ni-Vans gehört, fällt hier nur den europäischen und ziemlich neidischen Besuchern aus Europa auf.
Wer sich selbst einen Eindruck von Vanuatu verschaffen möchte, hat dazu bis zum 13. September im Völkerkundemuseum München die Gelegenheit. Bis dahin läuft die am 19. Juni eröffnete Ausstellung "Ursprung in der Südsee", die unter anderem von dem Ethnologen Thorolf Lipp kuratiert wurde. Zu sehen ist zum Beispiel ein Abbild eines Nagol, eines traditionellen Turms von der Insel Pentecost.