Strafe neu denken
Jenseits von Schuld und Sühne

Gut 44.000 Menschen saßen 2023 in Deutschland im Gefängnis. Soll die Strafe die Tat sanktionieren, den Täter läutern, oder andere abschrecken? Der Sinn von Strafen ist umstritten - ein Plädoyer für eine neue Sichtweise.

Von Frauke Rostalski |
In einer Zelle der JVA Rheinbach blickt ein Gefangener aus dem Fenster.
Kein Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen ist so schwerwiegend wie eine Haftstrafe. (IMAGO / Funke / Lars Heidrich)
Welchen Sinn Strafen haben, darüber gehen die Auffassungen von Rechtstheoretikern, aber auch von Resozialisierungspraktikern, weit auseinander. Ist Strafe schlicht die Antwort des Staates auf eine begangene Tat, eine Antwort, die das Unrecht ausgleicht und Recht durchsetzt? Oder muss man Strafe als reine Abschreckung für andere Täter denken? Oder soll die Strafe den Täter oder die Täterin auf den Weg der Besserung bringen?
Die Juristin Frauke Rostalski sucht in dieser verzweigten Debatte nach einem neuen, zeitgemäßen Verständnis von Strafe, jenseits von „Schuld und Sühne“. Sie plädiert dafür, dass Strafe eine Kommunikation mit dem Täter oder der Täterin ist.
Durch Strafe erhält er oder sie eine Resonanz auf die Tat. Diese ist ihr oder ihm geschuldet, weil er oder sie - trotz der Straftat - weiterhin gleichberechtigtes Mitglied der rechtsstaatlichen Gemeinschaft ist. Ein solches Verständnis lässt sich besser als andere Theorien mit den Vorgaben eines freiheitlichen Rechtsstaats, in welchem stets das Individuum im Mittelpunkt zu stehen hat, in Einklang bringen.
Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln. Zuletzt sind von ihr die Bücher „Der Tatbegriff im Strafrecht“ (2019) und – vielbeachtet – „Die vulnerable Gesellschaft – Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“ (2024) erschienen. Seit 2020 ist sie zudem Mitglied des Deutschen Ethikrats.

„Strafe muss sein!“ – Was vielleicht noch gerade mal im Kinderzimmer gesagt werden kann, wenn es um ein Smartphone-Verbot nach einer durchzockten Youtube-Nacht geht, scheitert als Begründung für Strafen spätestens dann, wenn es um den Staat im Umgang mit seinen mündigen Bürgern geht. Strafe, das leuchtet uns heutzutage unmittelbar ein, darf kein Selbstzweck sein. In der Moderne bestraft ein Staat seine Bürger nicht um der Strafe willen. Warum also darf der Staat seine Bürger überhaupt bestrafen? Diese Frage bewegt uns aus zwei Gründen: Zum einen ist die Strafe das „schärfste Schwert“ des Staates. Kein Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen ist so schwerwiegend wie Strafe. Der Verurteilte muss dulden, dass er schuldig gesprochen wird. Außerdem wird ihm fühlbar Freiheit genommen – durch eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe. In einem freiheitlichen Rechtsstaat muss sich dies rechtfertigen lassen. Angesichts der Härte des Eingriffs ist der Rechtfertigungsdruck hier sogar besonders hoch.
Der zweite Grund dafür, weshalb wir uns bis heute mit der Frage nach einer Legitimation von Strafe befassen, liegt schlicht und einfach – man getraut es sich als Rechtswissenschaftlerin kaum zu sagen – in der verbreiteten Unzufriedenheit mit den bisherigen Erklärungsansätzen. Es scheint, als lasse sich in Bezug auf jedwede bislang vorgeschlagene Theorie dazu, warum ein Staat seine Bürger bestrafen darf, ein „Haar in der Suppe“ finden. Und – was noch schlimmer ist – das Problem lässt sich nicht dadurch lösen, einfach alle vorhandenen Theorien irgendwie zu kombinieren. Denn sie widersprechen sich gegenseitig.
Dieser Befund ist mehr als ein Betriebsunfall in der ansonsten gut geölten Maschine des Strafrechts, er stürzt das Strafrecht geradezu in eine Krise. Ohne einen tragfähigen Legitimationsgrund lässt es sich überhaupt nicht rechtfertigen, auch nur einen einzigen Bürger zu bestrafen. Es lohnt daher, sich erneut auf die Suche zu begeben nach einer tragfähigen Legitimationsbasis für die härtesten Zumutungen, die moderne, freiheitliche Rechtstaaten für ihre Bürger bereithalten.
Weshalb also haben uns die bisherigen Ansätze zur Rechtfertigung von Strafe nicht überzeugt? Und welche sind das eigentlich? Unterscheiden lassen sich hier im Wesentlichen zwei Perspektiven, die Theoretiker und Theoretikerinnen einnehmen: Die einen sehen in der Bestrafung eine Reaktion auf eine begangene Tat, durch die geschehenes Unrecht vergolten oder ausgeglichen werden soll. Hier wird gewissermaßen zurück geschaut auf das Ereignis des Rechtsbruchs, sei es eine gestohlene Handtasche oder der Einbruch im Museum.
Die anderen dagegen schauen buchstäblich nach vorne, indem sie die Straftat zum Anlass wählen, durch die Bestrafung Effekte innerhalb der Bevölkerung zu erzielen, die künftig Straftaten vermeiden sollen, Abschreckung oder Besserung durch Strafe.
Was stört uns an dem klassischen Gedanken der Vergeltung, der nicht zuletzt biblische Wurzeln geschlagen hat? Sie erinnern sich: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Antwort, warum das heute nicht mehr funktioniert, ist schnell gefunden: Vergeltung ist nämlich kein Zweck an sich. Wer einen Gesetzesübertritt mit Strafe vergelten will, muss sich die Frage gefallen lassen, warum er vergelten will. Welchen zusätzlichen Zweck verfolgt er damit? Die Frage muss schon deshalb beantwortet werden, um die Vorgaben eines freiheitlichen Rechtsstaats zu wahren. Denn darin hat sich der Staat für Eingriffe in die Freiheit der Bürger zu rechtfertigen. Verfassungsrechtlich ist er etwa an das Gebot der Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen gebunden. Nimmt er Freiheitseingriffe vor, müssen diese also einen rechtmäßigen Zweck verfolgen. Sie müssen zudem zur Erreichung dieses Zweckes geeignet sein. Und sie müssen wirklich erforderlich und angemessen sein. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz trägt den Zweckgedanken ins Strafrecht hinein. Vergeltung kann also gar nicht ein Selbstzweck sein. Wer mit Strafe eine Tat vergelten will, muss daher begründen, weshalb es dieser Vergeltung bedarf. Außerdem muss er erklären können, wie eine – wie es juristisch heißt – „Übelszufügung“ in Gestalt von Strafe dazu geeignet sein soll, ein anderes Übel – die Straftat – auszugleichen. Ist das nicht ein komischer Gedanke, dass ein Übel ein anderes vergelten kann? Ist es nicht vielmehr so, dass dann zwei Übel in der Welt sind? Solange vernünftige Antworten auf diese Fragen ausbleiben, und sie sind bislang ausgeblieben, sind auch Vergeltungstheorien keine tragfähigen Ansätze, um Strafe in einem freiheitlichen Rechtsstaat zu rechtfertigen.
Eine Alternative hierzu bieten präventive Legitimationsmodelle. Entsprechende Theorien gibt es in vielen Spielarten. Sie alle eint das Bestreben, durch Strafe auf den Täter oder die Gesellschaft einzuwirken, um dadurch künftige Straftaten zu vermeiden. Dies soll zum Beispiel dadurch gelingen, dass erzieherisch oder zumindest bessernd auf den Täter eingewirkt wird. Weil er sich durch die Tat als gefährliche Person erwiesen habe, müsse diese Gefährlichkeit zunächst beseitigt werden, um weitere Straftaten durch diese Person zu verhindern. Andere präventive Straftheorien meinen, die Bestrafung diene der Abschreckung – entweder des Täters oder anderer Gesellschaftsmitglieder, die sonst auf den Gedanken kommen könnten, selbst Straftaten zu begehen.
Mit Strafrecht haben Präventionstheorien allerdings im Grunde genommen gar nichts zu tun. Denn auf die individuelle Verantwortlichkeit, die Schuld des Täters, kommt es darin überhaupt nicht an. In den Fokus rückt stattdessen die Gefährlichkeit als maßgebliches Kriterium dafür, ob eine „Bestrafung“ zu erfolgen hat. Wer gefährlich ist, auf den müsse reagiert werden, um die Gesellschaft vor ihm zu schützen. Ob er dabei für sein Verhalten überhaupt verantwortlich ist, spielt keine Rolle. Gefährlichkeit lässt sich stattdessen an sehr vielen anderen Parametern bestimmen – schlechten Gedanken, einer verwerflichen Gesinnung, schädlichen Plänen. Und das ist doch höchst merkwürdig. Denn auf die Begehung einer Straftat kommt es dann ja nicht an, sie ist allenfalls noch die Bestätigung dafür, dass die Person tatsächlich gefährlich ist.
Und das verzerrt letzten Endes das gesamte strafrechtliche Geschehen: Neben dem Schuldprinzip fällt den präventiven Straftheorien eben auch das Tatprinzip zum Opfer. Denn wenn es im Kern darum geht, mit Strafe auf gefährliche Personen zu reagieren, ergibt es wenig Sinn, die Begehung der jeweiligen Straftat überhaupt erst abzuwarten. Effektive Straftatenvermeidung setzt viel weiter im Vorfeld an. Warum abwarten, bis das Kind buchstäblich in den Brunnen gefallen oder geschubst worden ist?
Schuld- und Tatprinzip gehören aber zu den Kerngrundsätzen dessen, was allgemein als „Strafrecht“ verstanden wird. Wer die Bestrafung präventiv begründen will, müsste also ein in Gänze andersartiges Strafrechtssystem entwerfen. Dem stehen dann allerdings rechtsstaatliche Bedenken entgegen. Verhältnismäßigkeit kann kaum gewährleistet werden innerhalb eines Systems, das wohl notwendig paranoide Züge annehmen muss, um seine Ziele effektiv umzusetzen. Nicht zuletzt dürfte ein solches Strafrechtskonzept auf wenig Akzeptanz stoßen. Müsste es etwa nicht denjenigen freisprechen, der seinen Erzfeind ermordet hat und nunmehr nachweislich nicht länger im Verdacht steht, noch für irgendeinen anderen Menschen gefährlich zu sein? Und müsste ein solches System nicht gerade denjenigen besonders hart bestrafen, der eine Sache von mittlerem Wert gestohlen hat, aber klare Anzeichen dafür zeigt, sein Verhalten künftig zu wiederholen oder andere Anzeichen von Gefährlichkeit aufweist? Wenn also auf die Gefährlichkeit abgestellt wird, kommt es bei der Bestrafung nicht mehr auf das Unrecht an, das verwirklicht wurde. Die wenigsten dürften ein solches Modell für überzeugend erachten.
Das hängt zuletzt noch mit einem wichtigen, vielleicht dem wichtigsten Punkt zusammen: Präventive Straftheorien tauschen unter der Hand das Menschenbild aus, das dem Strafrecht zugrunde liegt. Der Einzelne gilt darin nämlich nicht länger als Person, die sich kraft ihrer Vernunft für das Recht entscheiden kann. Selbst wenn ein Einzelner eine Straftat begeht, sprechen wir ihm nicht grundsätzlich die Fähigkeit ab, das Unrecht seiner Tat anzuerkennen und sich künftig wieder an das Recht zu halten. Anders verfahren präventive Straftheorien. Der Bürger verkommt darin zu einem prinzipiell gefährlichen Wesen, dem nicht länger zugetraut wird, vom Recht und dessen Gründen angesprochen zu werden. Besonders deutlich zeigt sich dies bei dem Gedanken der Abschreckung: Abgeschreckt werden müssen nur solche Individuen, die sich nicht vom Recht ansprechen lassen, die also grundsätzlich nicht die Vernunft aufweisen zu verstehen, dass das Recht mit seinen Normen eigentlich auch für sie besser ist als ein Zustand, in dem keine Regeln gelten und jeder der Willkür des Stärkeren schonungslos ausgesetzt ist. Wer auf Abschreckung setzt, meint also, dass nicht mehr die Verbote selbst – wie das Tötungsverbot, das Körperverletzungsverbot und so weiter – den Ausschlag dafür geben, dass sich die Menschen rechtskonform verhalten. Dieses Vertrauen in den Mitbürger ist in solchen Theorien offenbar verloren gegangen. Stattdessen wird auf Gewalt gesetzt, wobei zugleich klar ist, dass auch Abschreckungslehren die Höhe der Strafe nicht vom Gewicht des verwirklichten Unrechts abhängig machen. Auch hier geht also die Vorstellung irgendeiner Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe flöten. Denn am effektivsten dürfte Abschreckung schließlich dann sein, wenn die Gewalt, die abschrecken soll, besonders hart ausfällt. Wer also die Bevölkerung durch Abschreckung davon abhalten möchte, Diebstähle zu begehen, wird den einzelnen Diebstahl einer geringwertigen Sache mit besonderer Härte ahnden – obwohl dies dem Gewicht des Fehlverhaltens nicht ansatzweise gerecht wird. Der einzelne Täter und seine Straftat verkommen dann aber zum bloßen Mittel zum Zweck, um bestimmte gesellschaftliche Effekte auszulösen. Hierin läge aber ein Verstoß gegen seine Menschenwürde, weil er zum Objekt staatlichen Handelns degradiert würde.
Auch dies dürfte auf wenig Akzeptanz stoßen. Dass der Einzelne grundsätzlich verantwortlich für seine Taten ist, entspricht einer nicht zuletzt kulturell tief verwurzelten Grundannahme. Dahinter steht die Anerkennung des anderen als Person, mit der die Zuschreibung von Verantwortung einher geht. Von eben jenen Grundüberzeugungen müsste ein allgemeines Sicherungsrecht als Alternative zum geltenden Strafrecht die Gesellschaftsmitglieder abbringen, um an deren Stelle das Bild vom Menschen zu setzen, der nicht Herr seiner eigenen Tage ist, gegen den daher Gewalt ausgeübt werden muss, weil auf seine vernunftgemäße Einsicht nicht mehr gesetzt werden kann. Eine solche Entwicklung würde zweifelsohne einen gravierenden geistesgeschichtlichen Rückschritt bedeuten. Statt in diese Richtung weiter zu denken, können wir zu der Einsicht gelangen, dass die Antworten der gängigen Straftheorien auf die Frage nach dem legitimen Zweck von Strafe schlicht und einfach enttäuschend sind. Ihre Erklärungsversuche entstammen nämlich einer anderen Welt – einer Welt, die ein Bild vom Bürger als Untertan des staatlichen Souveräns zeichnet. Ganz deutlich zeigt sich das in den schon diskutierten Vergeltungslehren, die dem Staat nicht einmal die Pflicht auferlegen, sich für sein Tun zu rechtfertigen. Der Staat darf danach bestrafen, weil er es für relevant erachtet, Unrecht zu vergelten.
Doch auch die präventiven Straftheorien bedeuten insoweit keinen Fortschritt. Im Gegenteil ließe sich sogar sagen, dass sie in spezifischer Weise noch hinter den Standard von Vergeltungslehren zurückfallen. Das liegt daran, dass sie das Menschenbild eines freiheitlichen Rechtsstaats pervertieren. In den Worten des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel behandeln sie den Einzelnen wie einen zur Vernunft nicht begabten „Hund“, gegen den der „Stock“ erhoben werden muss. Sowohl Vergeltungslehren als auch präventive Straftheorien wurzeln daher der Idee nach in einer Staatsform, die anders als der freiheitliche Rechtsstaat gerade nicht die Freiheit des Einzelnen zum Ausgangspunkt seiner Ordnung wählt. Es bedarf einer Straftheorie, die den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt rückt.
Die Kernidee einer solchen Straftheorie liegt darin, dass die Bestrafung – und das klingt vielleicht erst einmal paradox – im Interesse des Täters selbst erfolgt. Lässt sich dies aber begründen?
Ich glaube schon. Und zwar dann, wenn man das Verhältnis von Staat und Täterin oder Täter als eine Resonanzbeziehung versteht. Ganz im Sinne der soziologischen Resonanztheorie von Hartmut Rosa wird Strafe zu so etwas wie einem Resonanzinstrument bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders. Um Strafe als Resonanz zu verstehen, müssen wir uns darüber klar werden, welche kommunikative Bedeutung sowohl der Straftat als auch der Bestrafung zukommt. Rechtliche Normen garantieren das friedliche Miteinander der Bürger im Staat. In einem Naturzustand menschlicher Koexistenz gibt es demgegenüber keine für alle verbindlichen Regeln. Der Einzelne ist damit der Willkür des Stärkeren schonungslos ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als vernunftgemäßer Schritt, den Naturzustand zu verlassen und einen Staat zu gründen. In einem freiheitlichen Rechtsstaat ordnet das Recht die Freiheit der Bürger. Den Rechtsnormen kommt dabei also eine entscheidende Bedeutung zu. Sie konstituieren das gemeinsame Friedensprojekt.
Durch eine Straftat verstößt der Täter allerdings gegen eine Norm – zum Beispiel das Diebstahlsverbot oder das Tötungsverbot. Hierin liegt ein Akt der Kommunikation gegenüber den anderen Gesellschaftsmitgliedern. Der Täter teilt ihnen in gewisser Weise mit, dass er zumindest in dieser konkreten Situation seine eigenen Maximen höher gewichtet als die der Gesellschaft. Er bestreitet, dass die übertretene Vorschrift für ihn Gültigkeit besitzt. Er stellt buchstäblich das Recht infrage.
Auf diese Weise nimmt sich der Täter mehr Freiheit, als ihm eigentlich zusteht. Hierin liegt ein folgenschwerer Selbstwiderspruch: Der Täter verstößt gegen eine Ordnung, die für ihn selbst wie für alle anderen Bürger vorzugswürdig ist gegenüber einem Naturzustand ungeregelter menschlicher Koexistenz. Durch Strafe antwortet die Gesellschaft auf diese unberechtigte Anmaßung des Einzelnen. In ihrer Antwort teilt sie ihm mit, dass er falsch liegt – dass sein Verhalten nämlich nichts anderes ist als ein Verstoß gegen das Recht und dass er hierzu nicht befugt war, weil die gemeinsamen Regeln für ihn jederzeit genauso gelten wie für alle anderen.
Straftat und Strafe lassen sich damit als Akte der Kommunikation, als Rede und Antwort, verstehen. Warum aber hat auf die Infragestellung des Rechts durch den Straftäter eine gesellschaftliche Antwort zu erfolgen? Der Grund hierfür und damit der Zweck von Strafe liegt im Gedanken der dem Straftäter zustehenden Resonanz. Bei der Resonanz übertragen sich die Schwingungen des einen Körpers auf die des anderen und umgekehrt. Bezogen auf das Verhältnis von Täter und Staat heißt das: Trotz der Straftat bleibt der Einzelne ein gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft. Er wird nicht aus ihr ausgeschlossen. Als nach wie vor gleichberechtigtes Gesellschaftsmitglied hat er aber ein Recht darauf, gehört zu werden und eine Antwort zu erhalten. Wer sich durch die Begehung einer Straftat an die übrigen Bürger wendet, ob gewollt oder ungewollt, darf in seinem kommunikativen Ausspruch nicht überhört beziehungsweise ignoriert werden. Stattdessen muss er als Person anerkannt werden. Diese Anerkennung verlangt, dass er ernstgenommen wird und auf sein Verhalten eine angemessene Reaktion erfolgt. Geschieht dies nicht, liegt darin die Aussage, dass dem Täter und seiner kommunikativen Botschaft keine Bedeutung beigemessen wird. Ihm wird dann sein Rang als gleichberechtigter Kommunikationspartner und damit sein Person-Sein abgesprochen. Es muss daher auf die Straftat des Einzelnen eine Reaktion erfolgen, nicht aus Gründen der Vergeltung, nicht aus Gründen der Prävention, sondern aus Gründen der Anerkennung. In diesem und in keinem anderen Sinne liegt Strafe im originären Interesse des Täters. Die Strafe ist die Resonanz auf seine Tat. Durch sie findet er eine Rückvergewisserung als Bürger und wird bildlich gesprochen „in der Welt“ gehalten – verstanden im Sinne eines Gehaltenseins als gleichberechtigtes und mit Würde ausgestattetes Mitglied des Verfassungsstaats. Hierauf hat er ein Anrecht.
Aber was gilt, wenn der Straftäter tatsächlich gar nicht kommunizieren möchte beziehungsweise keine Antwort auf sein Fehlverhalten wünscht? Es ist durchaus denkbar und wahrscheinlich ist es sogar sehr oft so, dass der Betreffende hofft, seine Tat möge nie entdeckt oder zumindest nicht bestraft werden. Der strafrechtlichen Resonanztheorie könnte also entgegnet werden, dass sie am fehlenden Resonanzbedürfnis vieler Straftäter scheitere.
Ist es aber überhaupt so, dass sich die meisten Straftäter weder die Tatentdeckung noch deren Bestrafung wünschen? Dagegen sprechen nicht zuletzt neuere Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung, die sich mit dem Phänomen der Resonanz beschäftigen. Darin wird Resonanz als ein normativer Faktor für ein gelingendes Leben eingestuft. Hartmut Rosa definiert Resonanz als durch eine Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren. Selbstwirksamkeitserwartung meint als Begriff, dass es für das Eingehen und die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen und die gesamte Lebenszufriedenheit bedeutsam ist, dass der Betreffende es sich zutraut, auf seine Umwelt und seine eigenen Lebensbedingungen Einfluss zu nehmen. Rosa geht davon aus, dass die Entwicklung einer eigenen Identität und Sozialität entscheidend auf Resonanz angewiesen ist. Der Einzelne kann also weder er selbst noch Teil der Gemeinschaft sein, wenn ihm die Resonanz fehlt. Resonanz hält ihn gewissermaßen in der Welt. Verliert der Einzelne seine Beziehung zur Welt, führt dies zur Entfremdung von sich und anderen mit besonders negativen Einflüssen auf seine Lebensqualität.
Für unseren Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass die Erfahrung von Selbstwirksamkeit beziehungsweise Resonanz nicht bloß durch positive Reaktionen herbeigeführt werden kann. Bei der Resonanz handelt es sich nämlich nicht um einen Gefühls-, sondern um einen Beziehungszustand, der die Relation des Einzelnen zur Welt erfasst. Daher kann selbst „irritierender und erschütternder Widerspruch Element einer Resonanzbeziehung sein“. Rosa schreibt: „Widerspruchsfähigkeit und -bereitschaft, nicht blinde Übereinstimmung, sind geradezu eine Voraussetzung für Resonanzbeziehungen, erst sie ermöglichen es dem Subjekt, einen Widerhall in der Welt zu finden, der mehr ist als ein Echo.“
Hieraus lassen sich wichtige Rückschlüsse für die strafrechtliche Resonanztheorie ziehen. Strafe antwortet als Widerspruch auf die Straftat des Einzelnen. Dieser Widerspruch ist alles andere als positiv. Er kann beim Täter sogar erheblich negative Gefühle hervorrufen, schließlich wird ihm ein persönlicher Vorwurf gemacht, der ihn von allen anderen Gesellschaftsmitgliedern unterscheidet und dabei in gewissem Umfang stigmatisiert. Gleichwohl hält die Bestrafung eine intensive Selbstwirksamkeitserfahrung bereit. Der Täter selbst ist es, der durch seine Tat in Kommunikation mit den übrigen Gesellschaftsmitgliedern getreten ist. In der Folge bleibt die Welt um ihn herum nicht stumm. Im Gegenteil: Er löst einen Widerhall aus, der seine eigene Weltwirksamkeit zum Ausdruck bringt.
Man stelle sich die umgekehrte Situation vor: eine Welt, die infolge der Straftat verstummt, dem Täter die Antwort verweigert. Gerade dies kann sich für den Betreffenden zur Last entwickeln, vor allem dann, wenn er seine Tat reut. Er bleibt mit dem Geschehenen allein. Hieraus kann sich für ihn ein Hindernis ergeben, wieder mit der Gesellschaft in positiven Kontakt zu treten. Das Schweigen auf seine Infragestellung des Rechts steht dann buchstäblich zwischen ihm und den anderen. Resonanz aber ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Es liegt daher nahe, dass er die Befriedigung seines Bedürfnisses selbst – oder gerade? – dann wünscht, wenn es um erhebliche Angriffe geht, die er auf das gesellschaftliche Wertebild verübt hat. Schwerwiegende Kommunikationsakte sind in besonderem Maße auf eine angemessene Reaktion gerichtet.
Selbst wenn aber kein einziger Straftäter überführt und bestraft werden wollte, stünde dieser empirische Befund der strafrechtlichen Resonanztheorie nicht entgegen. Denn entscheidend ist, ob diesem Begehren eine normative Bedeutung zukommt. Dies ist aber nicht der Fall. Wer eine Straftat begeht, tritt in unmittelbare Kommunikation mit der rechtlich verfassten Gesellschaft. Diese Art der Kommunikation ist aber nie einseitig. Wer durch seine Straftat in diesem kommunikativen Sinne eine falsche Behauptung aufstellt, hat den eigenen Rechtskreis verlassen und sich dabei – ob er will oder nicht – an die Rechtsgemeinschaft gewandt. Straftaten haben eine Bedeutung, die noch über den Eingriff in die Rechtsgüter einer anderen Person hinausgehen. Sie haben daher eines zumindest nicht: den Charakter eines bloßen Selbstgesprächs. Schließlich gehört auch und gerade die Achtung der Rechte anderer zum für den Straftäter geltenden Recht. Wer also tatsächlich keine Antwort wünscht, verkennt, dass er als Teil der Gesellschaft durch die Straftat in eine rechtlich relevante Kommunikation mit den anderen getreten ist. Er erhält hierfür Resonanz, die seinen Status als gleichberechtigter Bürger bestätigt – ob er will oder nicht.
Die Resonanztheorie der Strafe hat aber noch eine ganz andere, wirklich wichtige Folge: Wer Strafe als Resonanz gegenüber dem Straftäter begreift, rückt nämlich zugleich das Opfer in den Fokus. In der durch die Bestrafung formulierten Botschaft wird das Opfer gleich in mehrfacher Hinsicht mit adressiert. Der Widerspruch gegenüber dem Täter drückt aus, dass die Tat ernstgenommen wird – und zwar nicht nur deshalb, weil der Täter als gleichberechtigter Bürger auf diese Weise in Kommunikation mit der Gesellschaft getreten ist, sondern gerade auch deswegen, weil dem Opfer der Kommunikationsakt des Täters besonderes Leid zugefügt hat. Die Straftat ist nämlich eben dies: ein Unrecht gegenüber dem Opfer. Schließlich sind es die Rechte des Opfers, die der Täter verletzt hat. Der Kommunikationsakt, der in der Straftat liegt, ist also in besonderer Weise bezogen auf die Rechtsposition des Opfers. Die Infragestellung des Rechts erfolgt gerade anhand der Interessen des Verletzten. Insoweit ist bereits die kommunikative Botschaft des Täters nicht ohne das Opfer zu denken. Es ist klar, dass auch die gesellschaftliche Antwort auf die Straftat – die Bestrafung – besonderen Bezug zu nehmen hat auf das Opfer. Wäre es anders und würde die Rechtsgemeinschaft auf die Straftat nicht reagieren, hätte dies einen unhaltbaren Aussagegehalt vor allem gegenüber dem Opfer. Gerade bei schwerwiegenden Rechtsverletzungen hieße es nämlich, das Opfer sei es nicht wert, dass sich der Staat um seine Belange kümmert. Die durch die Bestrafung erfolgende Resonanz betrifft daher also nicht allein den Straftäter. Sie erstreckt sich zugleich auf das Tatopfer, das in seinem erlittenen Leid nicht allein gelassen wird.
Es ist somit allerhöchste Zeit für ein Umdenken in Sachen Straftheorie. Und es wäre falsch zu glauben, dass es hier nur um eine rechtstheoretische Frage geht. Nein, mit der Legitimation des Strafrechts wird auch an der Legitimation des freiheitlichen Rechtsstaats im Ganzen gearbeitet. Die gängigen Modelle zur Begründung von Strafe legen ein Menschen- und Staatsbild zugrunde, das weit entfernt ist von einem humanistischen Ideal, das das Denken an der Würde des Einzelnen ausrichtet und staatsphilosophisch übersetzt werden kann in ein Gemeinwesen, in dessen Mittelpunkt das Individuum steht. Sowohl präventive Straftheorien als auch Vergeltungslehren fügen sich – bewusst oder unbewusst – der Vorstellung von einem starken Staat, dem sich der Einzelne unterzuordnen hat. Was bislang gefehlt hat, ist eine Straftheorie, die mit dieser Tradition bricht und stattdessen auch auf dem (so wichtigen) Gebiet der Legitimation von Strafe rechtsstaatlichen Grundsätzen stärker Rechnung trägt. Die strafrechtliche Resonanztheorie kann genau das leisten.