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Jerusalem im Fernen Osten
Jüdisches Leben in Birobidschan

Im Sommer sengende Hitze und Heerscharen von Mücken - im Winter klirrende Kälte. So sieht es aus in Birobidschan, mehr als 6.000 Kilometer östlich von Moskau. 1928 wurde Birobidschan vom sowjetischen Diktator Stalin zum jüdischen Siedlungsgebiet erklärt. Das "Autonome Jüdische Gebiet Birobidschan" gibt es noch heute, doch nur wenige Juden haben ausgeharrt.

Von Gesine Dornblüth | 16.11.2016
    Die alte Synagoge in Birobidschan
    Die alte Synagoge in Birobidschan (Gesine Dornblüth)
    Eine Frau singt ein Lied. Es ist ein Vormittag in der Jüdischen Gemeinde in Birobidschan, der Hauptstadt des gleichnamigen autonomen jüdischen Gebietes im Fernen Osten Russlands. Der Altenkreis trifft sich, wie jeden Tag. Acht Frauen lesen einander vor, lösen Rätsel, essen, machen Gymnastik, singen. Die Frauen applaudieren.
    "Das Lied haben wir schon 1947 gesungen", sagt Tselja Tschjornych.
    Sie kam 1947 als Fünfjährige nach Birobidschan. Mit ihrer Mutter hatte sie den Holocaust in der heutigen Ukraine überlebt.
    "Wir waren alle im Getto. Als wir befreit wurden, waren unsere Häuser niedergebrannt, und so sind wir in den Fernen Osten gefahren. Hier haben wir zuerst in einem Dorf gelebt, nur Juden. In der Schule haben wir in den ersten Jahren Jiddisch gesprochen und geschrieben."
    Stalin setzte auf jüdische Siedler
    Jawits Awá ist mit 84 Jahren die älteste in der Runde. Ihre Augen blicken warm und fröhlich:
    "Ich bin schon 1934 nach Birobidschan gekommen … Hier war damals Sumpf. Wir haben in niedrigen Hütten gewohnt. Der Fluss Bira war viel breiter als jetzt. Wo heute die Philharmonie steht, haben wir geangelt und Kühe gehütet."
    Das Jüdische Gemeindezentrum in Birobidschan
    Das Jüdische Gemeindezentrum in Birobidschan (Gesine Dornblüth)
    Rund 40.000 jüdische Siedler ließen sich Ende der 20er- und Anfang der 30er-Jahre in Birobidschan nieder, gründeten Kommunen und landwirtschaftliche Gemeinschaftsbetriebe. Religiös waren die wenigsten. Juden stellten dabei nie die Bevölkerungsmehrheit in Birobidschan, das waren stets Russen. Und die Utopie einer prosperierenden jüdischen Gemeinschaft auf sowjetischem Boden scheiterte schnell. In den 30er-Jahren ließ Stalin viele Juden ermorden. In einer zweiten Repressionswelle Ende der 40er-Jahre wurde das jiddische Theater geschlossen, Jiddisch aus dem Lehrplan der Schulen gestrichen, die jüdische Bibliothek verbrannt. Der gewöhnliche sowjetische Antisemitismus kam auch nach Birobidschan.
    Rachmil Leder schaut herein. Er ist der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. Er ist 74 Jahre alt. Sein Vater kam als überzeugter Kommunist nach Birobidschan, die Mutter floh vor dem Holodomor, dem großen Hungersterben, aus der Ukraine.
    "Meine Eltern sprachen Jiddisch miteinander, aber nur zuhause. Als ich Kind war, wurde mir eingeschärft, lieber nicht zu sagen, dass ich Jude bin. In den 50er-, 60er-, 70er-Jahren war es auch hier schwierig, Jude zu sein", sagt Rachmil Leder.
    Zu Sowjetzeiten gab es in der Stadt nur eine Synagoge. Das unscheinbare Holzhaus steht noch immer. Die neue Synagoge wurde 2004 errichtet, mit Mitteln aus den USA.
    Auswanderung nach Israel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
    In 90er-Jahren, als die Sowjetunion auseinanderbrach, wanderten viele Juden aus wirtschaftlichen Gründen aus, auch aus Birobidschan. Jawits Awá, die Älteste in der Runde, ging mit einem Sohn nach Israel:
    "Dort hatte ich einen Schlaganfall. Eine Freundin hat meinen anderen Sohn, der hier lebt, angerufen und gesagt, dass ich sterbe, ob er mich noch mal sehen wolle. Daraufhin hat er ein Flugticket für mich gekauft. Und seit ich wieder hier bin, werde ich immer jünger."
    Juden in Birobidschan heute
    Zwei Frauen lachen. Es herrscht ein fröhliches Durcheinander beim Treffen in der Jüdischen Gemeinde.
    Der Gemeindevorsitzende Rachmil Leder schätzt, dass heute noch etwa 5.000 Juden im Autonomen Gebiet Birobidschan leben, rund 6 Prozent der Bevölkerung. Er zählt allerdings recht großzügig:
    "Unsere Gemeinde ist zwar chassidisch. Da gilt nur als Jude, wer eine jüdische Mutter hat. Aber wir sehen diese Tradition nicht so eng. Für uns ist jeder ein Jude, der Juden in der Familie hat und sich für einen Juden hält."
    Birobidschan Jawits Awa und Tselja Tschjornych im Altenkreis der Jüdischen Gemeinde in Birobidschan
    Jawits Awa und Tselja Tschjornych im Altenkreis der Jüdischen Gemeinde in Birobidschan (Gesine Dornblüth)
    Das Autonome Jüdische Gebiet Birobidschan ist noch immer eine der ärmsten Regionen Russlands. Die Jüdische Gemeinde versorgt rund 500 Bedürftige mit Lebensmitteln, Kleidung, Medikamenten. Rachmil Leder:
    "Wir lassen die Leute nicht im Stich. Das macht uns attraktiv (…). Und in unserer Gemeinde ist einfach etwas los. Wir haben mehrere Tanzensembles mit 200 bis 300 Kindern. Eine Gruppe war neulich in Weißrussland bei einem Festival jüdischer Kultur, (…) davor in Deutschland und in Frankreich. Wir feiern viele Feste."
    Der Versuch, Jiddisch lebendig zu halten
    Die lange Hauptstraße mit den mehrstöckigen grauen Wohnhäusern rechts und links trägt den Namen des jiddischen Schriftstellers Scholem Alejchem. Im Stadtzentrum sind Figuren seiner Erzählungen in Bronze gegossen: ein Mann mit Akkordeon, ein anderer mit Geige. Die Tafeln an offiziellen Gebäuden sind zweisprachig: Russisch und Jiddisch. Jiddisch wird mit hebräischen Zeichen geschrieben, die kann hier kaum jemand lesen. Die Stadtverwaltung gibt eine zweisprachige Wochenzeitung heraus, den "Birobidschaner Shtern", mit einer Auflage von 1.500 Exemplaren.
    Die Chefredakteurin, Jelena Saraschewskaja, blättert kurz und schlägt die aktuelle Ausgabe auf. Aufmacher ist ein Nachruf auf die Witwe eines in den USA verstorbenen sowjetisch-jüdischen Schauspielers. Ein Autor hat ihn aus New York geschickt. Saraschewskaja liest den Artikel vor.
    Das Scholem-Alejchem-Denkmal in Birobidschan
    Das Scholem-Alejchem-Denkmal in Birobidschan (Gesine Dornblüth)
    Sie ist selbst keine Jüdin. Sie hat Jiddisch studiert, ist die einzige in der Redaktion, die in der Sprache schreibt:
    "Das Jiddische ist nichts, bei dem du jeden Tag Unterstützung findest, bei dem dir jeder sagt: Toll, dass du das machst, weiter so. Ich mache das, weil ich selbst die Energie dazu aufbringe. Ich finde es wichtig."
    Auch die jüdische Gemeinde Birobidschans will jetzt Jiddisch-Kurse anbieten, erzählt der Vorsitzende, Rachmil Leder. Aber auch ihm ist klar:
    "Natürlich wird es nie wieder so wie früher. Aber ich denke, wir können verhindern, dass das Jiddische ausstirbt."