Es ist ein Dokument mit politischer Sprengkraft. In der "Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus" wird auf vier Seiten und in 15 Punkten mit größtmöglicher Klarheit definiert, was Antisemitismus ist und vor allem, was es nicht ist. Jüdinnen und Juden kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen und sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agenten Israels zu behandeln? – Ja. Faktenbasierte Kritik an Israel als Staat oder der Hinweis auf systematische rassistische Diskriminierung im Umgang mit den Palästinensern – nein. Jedenfalls nicht per se. Und auch die palästinensische Boykottbewegung BDS ist es nicht per se – Boykottaufrufe seien gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten.
Holocaustforscher aus Israel, den USA und Europa
Ein Politikum ist die neue Antisemitismus-Definition vor allem deswegen, weil sie von den renommiertesten Holocaustforschern aus Israel, den USA und Europa verfasst wurde, nach einem Abstimmungsprozess von mehr als einem Jahr, unterzeichnet wurde sie von 200 internationalen Wissenschaftlern aus dem Bereich der Antisemitismusforschung, Judaistik und Nahoststudien.
"Wir haben uns zusammengefunden aus Sorge um den aktuellen Zustand der Antisemitismusdebatte", erklärte Alon Confino, Direktor des Holocaust-Instituts der Amherst-University von Massachusetts bei der gestrigen Vorstellung des Papiers. "Diese Debatte ist voller Streit, Konfusion und Zorn. Und wer, wenn nicht wir, mit unserer Expertise, sind dazu aufgerufen, für Klarheit und Präzision zu sorgen."
Die Jerusalemer Erklärung positioniert sich gegen die sogenannte IHRA-Definition von Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance verfasst wurde – und die einen besonderen Fokus auf israelbezogenen Antisemitismus legt. Sieben von elf angeführten Beispielen beziehen sich auf den Staat Israel. Das verzerre die Debatte und lenke ab von den eigentlichen Gefahren, die durch weltweiten zunehmenden Judenhass und Hassreden von Rechts drohten, so die Wissenschaftler.
"Kritik an Israel wird als Antisemitismus verklagt"
"Das Problem mit der IHRA-Definition sehe ich nicht so sehr in dieser oder jener Formulierung, weil keines der vielen Beispiele absolut falsch ist. Allerdings hat sich in den letzten Jahren erwiesen, dass unter dem IHRA-Deckmantel Kritik an Israel als Antisemitismus verklagt wird", erklärt Mark Roseman, Professor für Geschichte und Jewish Studies an der Indiana University, der zu den Unterzeichnern gehört. Als Beispiele nannte er die Trump-Administration, die mit Verweis auf die IHRA-Definition Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzte. Oder das Simon-Wiesenthal-Zentrum, das die Tatsache, dass Präsident Obama 2016 kein Veto einlegte, sondern sich nur enthielt, als der UN-Sicherheitsrat den Bau neuer Siedlungen im Westjordanland verurteilen wollte, als den antisemitischen Vorfall des Jahres wertete.
Die besonders unversöhnlich geführte BDS-Debatte in Deutschland werde unter seinen Kollegen in den USA mit Sorge betrachtet, sagt Roseman. "Ich verstehe die Ängste auf allen Seiten. Aber als Holocaustforscher, der die Folgen von Antisemitismus sehr klar vor Augen hat, finde ich, dass der Kampf gegen den Hass nicht gefördert wird, sondern im Gegenteil noch untergraben wird, wenn er mit der Einnahme allzu defensiver Positionen gegenüber der Politik Israels begleitet wird."
Vor allem eine innerjüdische Debatte
Die IHRA-Definition verstand sich selbst nur als Arbeitsdefinition, dennoch wurde sie von zahlreichen Regierungen als Grundlage für ihre Politik übernommen – auch der Deutsche Bundestag bezog sich bei seinem Beschluss, die BDS-Bewegung als antisemitisch zu verurteilen, auf die Kriterien der IHRA. Eine Entwicklung, die von der israelischen Regierung nach Kräften befördert wurde.
"Auf eine sehr seltsame Art und Weise hat die IHRA-Definition so eine Art Fetischstatus bekommen. So ein, da darf man nichts dran rütteln, und wenn man das tut, ist man per se israelfeindlich und so weiter. Und ich glaube, dagegen anzugehen, darum geht es in allererster Linie", erklärt Stefanie Schüler-Springorum. Die Historikerin und Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin hat an der Jerusalemer Erklärung mitgearbeitet. Für die aufgeheizte deutsche Debatte erhofft sie sich dadurch mehr Sachlichkeit – und dass in guter deutscher Manier nicht einfach übergangen wird, wenn sich die rennommiertesten jüdischen Holocaustforscher in den USA und Israel in der Antisemitismusdebatte positionieren.
"Gerade hier in Deutschland sind wir angehalten, da gut hinzuhören. Das ist in erster Linie, gerade in den USA, eine innerjüdische Debatte. Und ich denke, da können wir in Deutschland viel von lernen, wenn wir uns erstmal die Zeit nehmen, diese Debatte zu verfolgen und gut zuzuhören."