Vor zwei Jahren begann die Jagd des IS auf die Jesiden im Nordirak. Frauen wurden vergewaltigt und versklavt. Eine Untersuchungskommission im UN-Auftrag hat im Juni festgestellt, dass der sogenannte Islamische Staat einen Völkermord an den Jesiden begehe. Zwei Jahre später habe sich die Lage nur marginal verbessert, und mit fortnehmender Dauer schwinde die Hoffnung immer mehr, sagte Holger Geisler, Sprecher des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, im DLF.
3.200 Frauen und Kinder seien noch in den Händen des IS. Über das Schicksal vieler Tausend anderer Jesiden wisse man aber nichts. "Die Geschichten sind nicht besser geworden, nur das Leiden ist länger geworden", sagte Geisler.
Für all diese Menschen sei Europa der große Traum. "Nicht weil sie an Wohlstand glauben, sondern weil wir ihnen gesagt haben, hier herrscht Glaubensfreiheit, hier lebt ihr in Sicherheit", betonte der Sprecher des Zentralrats der Jesiden. Denn wer nach Europa komme, sei noch lange nicht in Sicherheit.
Denn die Menschen erlebten in den Flüchtlingslagern genau das, wovor sie weggelaufen seien. "Sie müssen sich auch dort täglich Übergriffen aussetzen. Sie verlassen besser ausgestattete Lager, um in glaubenskonforme Lager zu gehen, wo sie unter so schlechten Bedingungen leben, die ich im Irak oder im Südosten der Türkei so nie vorgefunden habe", sagte Geisler.
Die Menschen seien in Griechenland angekommen und hätten gedacht, sie hätten einen "Sechser im Lotto", doch ihre Reise ende in dem Land – obwohl sie zu 90 Prozent Familie in Deutschland hätten. "Der Familiennachzug ist faktisch ausgesetzt", kritisiert Geisler. Als Beispiel nannte er den Fall eines vierjährigen Kindes. Der Kleine habe mit ansehen müssen, wie die Mutter umgebracht wurde. Seitdem spreche er nicht mehr. Der lange tot geglaubte Vater wurde in Griechenland gefunden. Eine Zusammenführung sei aber nicht möglich gewesen. Nun habe sich der Vater auf den illegalen Weg über die Balkanroute gemacht – und man habe den Kontakt verloren.
Geisler spricht sich klar für ein Sonderaufnahmeprogramm für jesidische Flüchtlinge aus. Es könne nicht angehen, dass das Verbrechen an den Jesiden als Genozid gelte und die Menschen dann wie Wirtschaftsflüchtlinge behandelt würden.
Das Interview in voller Länge:
Christine Heuer: Als IS-Terroristen letzte Woche in der Normandie einem katholischen Priester die Kehle durchschnitten, spätestens da war sie auch inmitten in Europa angekommen, die nicht allein mörderische, sondern bestialische Variante des Islamismus. Als wir solche Szenen erstmals sahen auf Videos aus Syrien und im Irak, da waren wir alle entsetzt und sind es trotz mancher Gewöhnung an immer neue schreckliche Bilder und Ereignisse bis heute.
Vor zwei Jahren genau, da begann der IS seine Jagd auf die Jesiden im Nordirak. Die Menschen dieses Glaubens flohen ins Gebirge und gerieten dort in schwere Not im heißen Sommer 2014. Noch schlimmer erging es den Jesiden, die nicht wegkamen, vor allem den Frauen unter ihnen. Sie wurden entführt, vergewaltigt, zwangsverheiratet, versklavt. Über die Lage der Jesiden zwei Jahre später möchte ich jetzt mit Holger Geisler sprechen, er ist Sprecher der Jesiden in Deutschland. Guten Morgen, Herr Geisler!
Holger Geisler: Schönen guten Morgen nach Köln, Frau Heuer.
Heuer: Unser letztes Interview hatten wir im November 2015, da haben Sie sehr eindrücklich geschildert, wie es den Jesiden geht, auch denen - also die, die dort bleiben mussten, die in den Fängen des IS waren, aber auch denen, die nach Deutschland gekommen sind. Hat sich die Lage der Jesiden im Nordirak seitdem verbessert?
Geisler: Wenn überhaupt, dann marginal. Und das Problem ist ganz einfach, dass mit fortnehmender Dauer natürlich auch die Hoffnung immer mehr schwindet.
Als wir im November zusammen gesprochen haben, war es noch so, dass wir geglaubt haben, gut, es sind anderthalb Jahre ins Land gezogen und es wird irgendwie weitergehen. Nur, irgendwann stellt man sich natürlich die Frage: Wann passiert denn endlich etwas, damit es den Menschen besser geht? Und wie gesagt, dort sehen wir einfach überhaupt kein Vorankommen.
Heuer: Wie viele Jesiden oder Jesidinnen sind noch in der Hand des IS?
Geisler: Also, wir wissen von über 3.200 Frauen und Kindern, die noch in den Fängen des IS sind, wir wissen von vielen tausend Leuten halt nicht, wo sie geblieben sind, ob sie tatsächlich ermordet worden sind, ob es noch Hoffnung gibt. Und das ist immer dann das ganz, ganz große Problem, dass man sich immer an eine Hoffnung klammert, die vielleicht gar keine Hoffnung mehr ist. Und Sie müssen halt auch versuchen, jeden Tag diesen Menschen neue Hoffnung zu geben, weil, irgendwie muss es ja weitergehen.
Heuer: Wenn Jesiden es nach Europa geschafft haben, sind sie dann in Sicherheit?
Geisler: Sie müssen sich das so vorstellen: Für all diese Menschen ist Europa der ganz, ganz große Traum. Und nicht, weil sie hier an Wohlstand oder Ähnliches glauben, sondern weil wir ihnen immer gesagt haben, hier in Europa habt ihr die Glaubensfreiheit, die Meinungsfreiheit, hier lebt ihr in Sicherheit.
Und diese Menschen, die es dann zumeist ja nur bis Griechenland geschafft haben, erleben dann halt genau in diesen Flüchtlingslagern, wo sie unter schrecklichsten Bedingungen leben, das, wovor sie weggelaufen sind. Sie müssen sich auch dort täglichen Übergriffen aussetzen, sie verlassen gut ausgestattete oder besser ausgestattete Lager, um in glaubenskonforme Lager zu gehen, wo sie unter so schlechten Bedingungen, die ich im Irak oder im Südosten der Türkei noch nie vorgefunden habe.
"Das Leiden ist einfach verlängert worden"
Heuer: Ja, und Sie waren tatsächlich in Griechenland in einem Flüchtlingslager, in dem Jesiden leben. Was haben Sie dort erlebt?
Geisler: Wir waren für vier Wochen dort unten und haben einfach erlebt, dass diese Leute erst mal froh waren, dass überhaupt Brüder und Schwestern aus Deutschland gekommen sind, um ihnen zuzuhören.
Wir müssen uns natürlich die ganzen Geschichten anhören, die wir uns vor anderthalb und zwei Jahren im Nordirak angehört haben, die Geschichten sind nicht besser geworden, nur das Leiden ist einfach verlängert worden. Diese Menschen sind in Griechenland angekommen, haben wie gesagt gedacht, sie haben so etwas wie einen Sechser im Lotto, nämlich dieses Leben in Sicherheit und Freiheit, diese Menschen haben zu über 90 Prozent Verwandte in Deutschland und für diese Menschen endet die Reise in Griechenland.
Das heißt, der Familiennachzug, der gesetzlich möglich wäre und eigentlich ja auch bindend ist, ist de facto ausgesetzt mit Wartezeiten, die bis zu drei, vier Jahre dauern können. Sie brauchen ja, bis sie erst mal einen Termin bei der Botschaft kriegen, und dann geht das ganze Prozedere seinen Gang.
Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass wir arbeitstechnisch in vielen Bereichen überfordert sind, aber wir wissen alle: Das Verbrechen an den Jesiden ist als Genozid anerkannt worden, und wenn es mehr als ein Wort sein soll, muss da auch irgendwas passieren, dann muss es mit Leben gefüllt werden. Und in Griechenland bedeutet das einfach für mich, dass man nach den schwersten Fällen guckt, dass man sich um diese Menschen kümmert und dass man die auch so schnell wie möglich nach Deutschland bringt. Weil, was haben von IS-Gefangenschaft befreite Frauen davon, wenn sie sich dann in irgendeinem Lager in Griechenland befinden, was haben Männer davon, wenn sie Scheinhinrichtungen des IS überlebt haben, wenn sie dann ohne medizinisch-psychologische Betreuung in solchen Lagern dort sitzen und einfach nur davon träumen, ihre Familie wiederzusehen?
Heuer: Herr Geisler, ich möchte das noch ein bisschen anschaulicher machen für unsere Hörer. Können Sie einen konkreten Fall schildern?
Geisler: Ich nenne Ihnen einen Fall, der mich sehr, sehr, sehr bewegt. Wie ich damals gesagt habe, haben wir mit dem Land Baden-Württemberg ein Sonderaufnahme-Programm initiiert, wo wir damals über 1.100 traumatisierte Frauen und Kinder nach Deutschland gebracht haben. Darunter war ein damals viereinhalbjähriges Kind, das mit ansehen musste, wie seine Mutter durch IS ermordet wurde.
Der Kleine spricht seitdem kein Wort. Wir haben immer gedacht, der Vater wäre tot, diesen Vater haben wir dann in Griechenland wiedergesehen und haben wirklich alles versucht, um die beiden wieder zusammenzubringen. Es gab rechtlich tatsächlich keine Möglichkeit dafür, weil der Junge sich hier nicht im Asylverfahren befindet, sondern im Sonderaufnahme-Programm ist. Und als wir dem Vater über Wochen hinweg keine Hoffnung machen konnten, hat er sich vor zwei Tagen wieder einmal illegal, zu Fuß auf den Weg über die geschlossene Balkanroute gemacht und ich kann einfach nur hoffen, dass er irgendwie den Weg nach Deutschland findet.
"Es liegt daran, dass Europa versucht, sich so gut wie möglich abzuschotten"
Heuer: Dass dieser Weg nach Deutschland nicht legal beschritten werden kann, liegt das an der Verschärfung des deutschen Asylrechts?
Geisler: Ich glaube, es liegt erst mal daran, dass Europa versucht, sich so gut wie möglich abzuschotten, was wir ja auch mit dem EU-Türkei-Deal gemacht haben. Ich glaube auch, dass die schlechten Voraussetzungen, über die ich gerade berichtet habe, Teil dieser Strategie sind einfach zu sagen, es ist nicht attraktiv, nach Europa zu kommen. Darüber kann man jetzt streiten, ob das sinnvoll ist oder nicht, ich habe da eine ganz klare Meinung zu.
Aber noch einmal: Wenn wir über Menschen sprechen, von denen wir sagen, an ihnen wird ein Völkermord begangen, dann kann es nicht sein, dass diese Leute so behandelt werden wie die in Anführungsstrichen Wirtschaftsflüchtlinge, von denen wir immer in der deutschen Politik sprechen. Und da muss einfach etwas geschehen, da muss einfach Bewegung in die ganze Geschichte rein.
"Ich wünsche mir ein Sonderaufnahme-Programm"
Heuer: Was konkret wünschen Sie sich von der deutschen Regierung, von den deutschen Behörden?
Geisler: Ich wünsche mir ein Sonderaufnahme-Programm. Das, was in Syrien möglich war, muss ja auch möglich sein für ein Volk, bei dem der Genozid anerkannt worden ist. Und noch einmal: Wenn es keine Worthülse sein soll ... Und es gibt eine Genozid-Konvention der UN, die ganz klar sagt, man muss einen Völkermord verhindern und man muss den Völkermord bekämpfen. So, und wenn ich etwas verhindern will, etwas bekämpfen will, dann muss ich doch diese Menschen, die überlebt haben, wieder zusammenbringen, dann müssen dort auch wieder Familien entstehen.
Die sind alle traumatisiert, die sind alle kaputt. Ich habe das beim letzten Interview gesagt, die müssen Stück für Stück zusammengesetzt werden. Aber wenn ich die passenden Teile nicht zusammenführe, wie soll dann eine Familie wieder wachsen können? Wie sollen Kinder, die so Schreckliches erlebt haben, nach fünf Jahren wieder zu einer Familie werden mit Vater oder Mutter, die sie dann wie gesagt so lange nicht gesehen haben?
Und wenn wir wieder zurückgehen zum Nordirak, wenn Sie es dort sehen: Immer wieder kommen Frauen – viel, viel, viel zu wenige – aus dieser Gefangenschaft frei, immer noch gibt es keine Plätze für diese Frauen. Immer noch müssen sie bitten, betteln, hoffen, dass ein Platz in irgendeinem Camp frei ist, dass sie einen Schlafplatz in so einem Zelt kriegen. Immer noch gibt es keine psychologische Betreuung.
Und ich höre immer von den zig Millionen Euro, die investiert werden, um so etwas aufzubauen, und ich sehe dann einfach die Wirklichkeit. Wir betreiben dort seit einem Jahr ein Betreuungszentrum, wo wir jeden Tag weit über hundert Frauen und Kinder betreuen, Kindern ein Lächeln schenken, den Frauen Alphabetisierungskurse geben, ihnen das Schneiderhandwerk beibringen. Ich glaube, wir machen das mit einem Bruchteil dessen, was große Organisationen dafür brauchen, wir brauchen dafür 3.500 Euro im Monat. Dieses Geld geht uns jetzt in diesem Monat aus und das heißt, wir werden es schweren Herzens im September schließen müssen. Also wieder ein Stück Hoffnung weniger.
"Allen Politikern fehlt eine Strategie"
Heuer: Herr Geisler, wenn Sie über all diese Dinge mit Politikern sprechen – und ich weiß, Sie sind mit Politikern darüber im Gespräch, ich glaube, Sigmar Gabriel hat Sie sogar besucht –, wie reagieren die dann?
Geisler: Also, wir haben glaube ich so ziemlich das gesamte Kabinett inzwischen durch, wir haben so ziemlich jede Landesregierung besucht. Ja, wie reagieren sie? Sie reagieren wie wahrscheinlich alle, die das hier hören, die sind alle betroffen, sie sind alle entsetzt, und allen fehlt eine Strategie. Und ich bekomme dann das zu hören, was ja vielleicht auch oft richtig ist, dass man keine Unterschiede machen kann zwischen Religionen, dass man niemanden bevorzugt behandeln kann. Und dann bleibt für mich immer nur die Frage: Wenn diese Frauen und Kinder nicht bevorzugt behandelt werden können, wer dann?
Heuer: Dann lassen Sie uns noch kurz über die Frauen sprechen, auf die sich ja das öffentliche Augenmerk gerichtet hat, weil ihr Schicksal so ganz besonders schrecklich war. Viele dieser verschleppten jesidischen Frauen, Sie kaufen die zum Teil frei vom IS. Die haben es dann doch nach Deutschland geschafft, wie geht es denen heute, die so seit anderthalb Jahren oder seit einem Jahr hier leben?
Geisler: Sehr unterschiedlich. Also, wir haben dort wirklich Geschichten, wo man sagen kann, es ist schön zu sehen, wie sie sich entwickeln, wir haben dort junge Frauen, die sagen, ich will studieren, ich will einfach mich so weit bilden, dass ich meinem Volk helfen kann, dass ich beim Wiederaufbau dabei sein kann.
Also, viele von ihnen wollen irgendwann später wieder zurück in die Heimat. Das prominenteste Beispiel ist glaube ich Nadia Murad, die ja inzwischen auch vom Irak für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden ist, die auch in diesem Sonderprogramm war, die einfach gesagt hat: Ich will nicht schweigen, ich will über das sprechen, was mir passiert ist! Und das macht sie ja bis in die höchsten Stellen, sie war bei der UN, sie war bei der EU und sie vertritt ihre Schwestern wirklich überragend.
"Die deutschen Bürger haben wirklich schon sehr, sehr viel getan"
Heuer: Herr Geisler, über die Politik haben wir gesprochen, über die Menschen, die es betrifft, über die Jesiden in Not. Wie können denn die deutschen Bürger Ihnen helfen?
Geisler: Oh, die deutschen Bürger haben wirklich schon sehr, sehr viel getan. Wir hatten ein unheimlich großes Spendenaufkommen im ersten Jahr der Krise, wir bekommen so viele Mitleidsbekundungen, wir bekommen sehr viel ehrenamtlichen Support. Und trotzdem geht natürlich immer noch viel, viel mehr. Man sucht händeringend nach Ehrenamtlichen, die in Griechenland helfen, man sucht händeringend nach Geldspenden.
Ich habe ja vorhin von diesem Haus in Scharia gesprochen und solche wirklich guten, kleinen Projekte gibt es viele, die es einfach wert sind zu unterstützen. Weil, jeder Euro, den man im Krisengebiet anlegt, ist sicherlich das Gleiche wert wie hier zehn oder 20 Euro. Und wir brauchen einfach Unterstützung. Ich glaube, wenn Druck auf die Politik ausgeübt wird, dass man sagt, wir verstehen nicht, dass ihr diesen Menschen nicht helfen wollt, dann kommt auch Bewegung in die ganze Geschichte. Also, das ist immer so, wenn Sie irgendwo ein Erdbeben haben, dann bauen Sie nach einer gewissen Zeit die ganzen Dinge wieder auf.
Wir können dort nichts aufbauen, die Stadt Sindschar ist befreit, es ist danach kein Meter weitergelaufen worden, mir fehlt da eine große Strategie. Ich höre da manchmal absurde Planungen und ... Ja, es fällt schwer.
Heuer: Viele haben uns jetzt zugehört, Holger Geisler, Sprecher beim Zentralrat der Jesiden. Herr Geisler, ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch!
Geisler: Ich danke Ihnen!
Heuer: Alles Gute!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.