Es gibt nur die göttliche Herrlichkeit. Keine Hölle. Die Hölle ist schon vor Urzeiten erloschen. Und mit ihr auch der Name des Bösen. Das verkünden die Qewal, die jesidischen Geschichtenerzähler im Nordirak. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Seit Jahrhunderten überliefern sie ihre Lehre von der erloschenen Hölle, manche sagen auch: seit Jahrtausenden. Die Ursprünge der jesidischen Religion reichen so weit zurück, dass sie im Dunkel der orientalischen Schöpfungsmythen verschwinden. Aber vielleicht müssen die Geschichtenerzähler ihre Überlieferung revidieren. Vielleicht gibt es in diesen Zeiten doch einen Namen für das Böse, das sie bedroht: Daisch.
"Bei Gott, wir werden die arabische Halbinsel von allen Ungläubigen säubern. Wir erobern den Irak, Syrien, Jerusalem. Wir töten alle, die uns im Weg stehen."
"Daisch – arabisch: dawla islamiya fi Iraq wa fi schams – das ist der Islamische Staat im Irak und der Levante, kurz IS. Ihre Vision vom Islam stellen die Dschihadisten tausendfach ins Internet: Videoclips, Propaganda und Hasstiraden. Sie lassen sie Wirklichkeit werden, sobald sie ein Dorf, eine Stadt, eine Region kontrollieren. Anfang August stieß der IS mit schwer bewaffneten Fahrzeug-Kolonnen ins irakische Sindschar-Gebirge vor. Weiße Pickup-Trucks mit aufgeschweißten Geschützen, schwarz gekleidete Männer in gepanzerten Humvees. Nichts und niemand hielt sie auf; auch nicht die kurdischen Peschmerga-Milizen, die zum Schutz der Jesiden in der Region stationiert waren. Hals über Kopf verließen sie ihre Stellungen und liefen vor den heranrückenden IS-Kämpfern davon. Die Dschihadisten gingen auf Menschenjagd. Sie jagten Jesiden.
"Als sie in unser Dorf kamen, brachte uns mein Vater ins Haus unseres Onkels. Mein Onkel war ein einflussreicher Scheich. Er glaubte, dort seien wir sicher. Aber dann kamen die Dschihadisten auch zu ihm und stellten uns vor die Wahl: "Ihr habt zwei Tage Zeit, Muslime zu werden", sagten sie. "Wenn ihr euch weigert, werden wir euch töten." Aber wir wollten keine Muslime werden. Wir sind Jesiden. Da haben sie uns alle in ein Schulgebäude getrieben. Sie trennten die Männer von den Frauen und brachten sie weg, gruppenweise. In der letzten Gruppe war mein Vater. Wir haben ihn nie mehr gesehen."
Zehra, 20 Jahre alt, ist die Älteste von fünf Schwestern. Die Kleinste ist zehn. Wochenlang waren sie in der Gewalt der Dschihadisten. Nun sind sie wieder in Freiheit – schwer traumatisiert: Die Köpfe gesenkt sitzen sie da, die Schleier tief ins Gesicht gezogen. Es ist, als schämten sie sich für das, was ihnen angetan wurde.
"Als sie die Männer wegbrachten, fragte ich: 'Warum macht ihr das?' Sie sagten: 'Wir schreiben nur ihre Namen auf, damit die Familien nicht verwechselt werden.' Der Anführer verlangte dann, dass wir alle unseren Schmuck, unser Gold, Geld und Handys abgeben sollten. Von den Männern war nur mein Onkel zurück geblieben. Den zwangen sie, alles einzusammeln. Dann brachten sie ihn auch weg. Ich fragte noch mal: 'Wo sind unsere Männer?' Sie antworteten nicht. Kurz darauf hörten wir dann Schüsse, Gewehrsalven. Ich wollte wissen, was da passiert. Sie sagten: 'Nichts. Da waren nur ein paar unbekannte Autos, auf die wir geschossen haben.'
Bislang 30.000 bis 40.000 IS-Kämpfer
Die Keimzelle des IS entstand 2004 als sunnitische Terrorbande, die Anschläge auf US-Soldaten im Irak verübte. In den folgenden Jahren dehnte der IS seine Angriffe aus: Schiiten, Christen, Jesiden – nun sollten alle Abtrünnigen und Ungläubigen ausgelöscht werden. Inzwischen haben sich 30.000, vielleicht 40.000 Dschihadisten um die schwarze Fahne geschart: Junge, frustrierte, an den Rand gedrängte Sunniten aus Syrien und dem Irak, Salafisten aus Westeuropa und aus Tschetschenien, allesamt angetrieben von Wut und Hass und dem Glauben, jetzt, in diesen Tagen, die Herrschaft des wahren, allein selig machenden Islam zu errichten. Militärisch werden sie von verbitterten, ehemaligen Offizieren Saddam Husseins geführt, ideologisch von Abu Bakr al Baghdadi, ihrem selbst ernannten Kalifen: Abu Bakr.
Früher war Abu Bakr ein dschihadistischer Mörder in schwarzer Montur. Heute nennt er sich Kalif Ibrahim. Bei seinem bislang einzigen öffentlichen Erscheinen trug er ein edles Gewand und einen schwarzen Turban, der ihn als Nachfolger des Propheten ausweisen sollte. Der Auftritt wurde von den Webspezialisten des Islamischen Staates, der mittlerweile auch über eine Art Medienzentrum verfügt, weltweit in Szene gesetzt. Der Kalif predigte in Mossul über die große Schlacht, die bald zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen toben werde.
Abu Bakr: "Im Kampf mit seinen Feinden gewährt Gott seinen Anhängern immer den Sieg. Er ermächtigt sie und befähigt sie zum Heiligen Krieg. Wenn Du also nach dem verlangst, was Gott Dir versprochen hat, dann zieh für ihn in den Dschihad. Gott wird dich belohnen."
Zehra: "Als wir in Mossul ankamen, sagte einer unsrer Entführer: 'Nehmt eure Schleier ab.' Wir waren natürlich alle verschleiert. Aber er bestand darauf, er hatte es vor allem auf Nada abgesehen, meine zweitälteste Schwester. Wir kannten den Mann, ein Araber. Er lebte im gleichen Dorf wie wir. Er besaß eine kleine Drogerie. Wir haben manchmal Seife bei ihm gekauft. Jetzt stand er da und wollte, dass Nada den Schleier abnimmt. Meine Mutter wurde wütend und schrie ihn an: 'Hast Du keine Ehre im Leib, warum soll meine Tochter den Schleier abnehmen und entblößt vor Dir stehen?' Er sagte: 'Wenn sie es nicht tut, werde ich sie töten. 'Meine Mutter fing an zu weinen. Da hat er sie zusammengeschlagen und mitgenommen. Seitdem ist auch sie verschwunden.'
Die IS-Terroristen sind davon überzeugt, in strenger Übereinstimmung mit der islamischen Lehre zu handeln. Der Islam – auch der offizielle – hat das Jesidentum nie als eigenständige Religion anerkannt. Dabei ist dieser altorientalische Glaube tief im Monotheismus verwurzelt und gehört zu den ältesten Religionen der Welt. Der antike Mithraskult, zoroastrische und semitische Lehren fließen in die jesidische Theologie ein, was sie offen und transparent wirken lässt.
Jesiden haben im Islamischen Staat kein Lebensrecht
Die Jesiden glauben an einen Gott und an sieben Lichtwesen, Erzengel, die ihm dienen. Die Erde wurde von Gott aus einer Perle geschaffen, sagen die jesidischen Geschichtenerzähler. Die Perle zersprang und aus ihren Splittern entstanden die Sterne. Es ist eine bildhafte und farbenprächtige Theologie. Aber weil sie vor allem auf mündlichen Überlieferungen beruht, sind die Jesiden aus islamischer Sicht keine "ahle al kitab" – keine Leute des Buches. Das Fehlen einer göttlichen Offenbarungsschrift macht die Jesiden aus Sicht des Islam verwundbar. Juden und Christen, die über Thora und Bibel verfügen, dürfen selbst in den radikalen Denkschulen des Islam noch ihren Glauben behalten, vorausgesetzt sie zahlen Dschizia – eine Art Schutzsteuer. Jesiden hingegen haben kein Lebensrecht im Islamischen Staat. Männer, die nicht konvertieren, werden getötet; ihre Frauen als rechtmäßige Kriegsbeute behandelt:
"In der ersten Nacht, die wir in Mossul verbrachten, haben wir vielleicht zwei Stunden geschlafen. Morgens um vier kamen ein paar Männer und nahmen etwa 80 Mädchen mit. Einer von denen, der Anführer, wollte unbedingt meine Schwester Nada haben. Ich protestierte: 'Wie kannst Du das machen, meine Schwester ist verheiratet und schwanger.' Das war natürlich eine Lüge. Aber was sollte ich tun? Wir wussten ja, was sie mit den Mädchen machten. Zwei hatten sie in der Nacht zurückgebracht. Beide waren vergewaltigt worden.'
Insgesamt wurden etwa 5.000 jesidische Frauen, Mädchen und Kinder verschleppt, als Daisch – der IS – im Morgengrauen des 3. August über die Sindschar-Region herfiel. Von dieser Zahl gehen mittlerweile auch internationale Hilfsorganisationen und westliche Diplomaten aus. Schon Wochen vor dem Angriff hatte der IS in der Region eine Art Netzwerk geschaffen und sunnitische Araber in den Dörfern als Informanten genutzt. Übereinstimmend berichten Flüchtlinge, viele ihrer arabischen Nachbarn hätten beim Einmarsch der IS-Kolonnen jesidische Familien ans Messer geliefert und ihre Häuser geplündert. Zehntausende flohen im August 2014 in die Sindschar-Berge.
Vom Sindschar-Gebirge aus hat es das Flüchtlingsheer der Jesiden in einem weiten Bogen Richtung Dohuk verschlagen, in die autonome Kurdenprovinz nördlich von Mossul. Dort hausen die Vertriebenen nun schon seit Mitte August. Sind es 400.000 oder 500.000 Menschen? Die genauen Zahlen kennt keiner. In den Städten lagern sie in Parkanlagen, Schulen und Rohbauten, auf dem Land in wilden Camps. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR hat bislang drei Lager errichtet; viel zu wenige, um die Menschen vor dem nahenden Winter zu schützen. Also sind viele weitergezogen, von Dohuk aus Richtung Süden. Denn dort liegt Lalisch.
Lalisch: Sehnsuchtsort der Jesiden, heiliger Tempelbezirk, wo alles begann: Schöpfung, Leben, Welt. Lalisch, so berichten die Geschichtenerzähler, sei durch das Licht Gottes entstanden. Es leuchte noch immer. Wer das Bergtal betritt, steigt barfuß über steile, gepflasterte Wege hinauf zur Tempelanlage. Alles hier wird als heilig verehrt, jeder Baum, jeder Stein, jedes Tier. In Lalisch habe die Arche Noah wieder die Erde berührt, sagen die Geschichtenerzähler. Hier habe Gott nach der Sintflut einen neuen Anfang mit den Menschen gewagt. Aber nun scheint die jesidische Chronik wieder an einen Endpunkt zu kommen.
Überall Zeltplanen, Kochgeschirr, Feuerstellen. Lalisch ist voller Flüchtlinge. Selbst in den Mauernischen des Tempels kauern von der Not gezeichnete Menschen.
"Wohin sollen wir gehen, wenn der Winter kommt?", fragt eine Frau? Und ihr Mann sagt: "Wir sollten nach Deutschland gehen. In unsere Dörfer können wir doch sowieso nicht mehr zurück, da ist jetzt der Islamische Staat."
"Ich bin so wütend", meint eine andere, "Gott hat uns alles genommen. Er gibt mir nicht mal mehr Tränen, damit ich uns beweinen kann."
Geistiges Oberhaupt der Jesiden gibt sich resignierend
72 Pogrome habe sein Volk schon erduldet, sagt Baba Scheich, aber dieses sei das Schlimmste von allen. Das geistige Oberhaupt der Jesiden hat kaum mehr die Kraft, die derzeitige Katastrophe in Worte zu fassen. Bedrückte Diener schleichen um ihn herum und flüstern ihm gelegentlich ein paar Worte ins Ohr. Aber er hört schlecht. Und er hat trübe Augen. Baba Scheich ist mit seinen 80 Jahren zu alt und zu matt, um einer verfolgten Gemeinschaft Orientierung zu geben.
"An uns soll ein Genozid verübt werden. Warum? Wir verstehen das nicht. So viele von uns sind schon zerstreut worden. Sie leben in Europa, in Deutschland, in Armenien – überall. Dabei wollen wir doch nur hier bleiben. Wir sind doch schon so lange hier. Seit Menschengedenken. Seit Noah und Abraham, der unser aller Stammvater ist. Warum sollen wir nicht hier in unserem Land bleiben dürfen?"
Organisierte Hilfe gibt es kaum für die Jesiden. Anders als die Christen wissen sie keine einflussreichen Weltkirchen hinter sich. An der Rückwand seines Empfangsraumes hängt ein Foto, das Baba Scheich im Gespräch mit Papst Benedikt zeigt. Das war 2011, beim interreligiösen Weltgebetstreffen in Assisi. Christen und Juden, Buddhisten und Hindus, Muslime und Jesiden trafen sich damals, um für den Frieden zu beten. Schön sei das gewesen, sagt Baba Scheich. Und nun ist die Welt so aus den Fugen geraten:
Der Zugang zum heiligen Tal von Lalisch wird derzeit von Peschmerga-Milizionären bewacht. Sie seien die Beschützer der verfolgten Jesiden. Das hatte Masud Barzani, der Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, immer wieder erklärt. Sindschar fiel dennoch in die Hände der Dschihadisten. Kann man den Peschmerga noch trauen, fragen die Flüchtlinge hinter vorgehaltener Hand? Wird Lalisch nicht auch von den Dschihadisten bedroht? Gerade mal 40 Kilometer sind es von hier nach Mossul. Der Islamische Staat ist viel zu nah.
"In Mossul hat man uns in ein großes Gebäude eingesperrt. Einige der Mädchen aus unserer Gruppe waren schon abgeholt worden. Ich war noch immer mit meinen Schwestern zusammen. Da kam einer, den wir nie zuvor gesehen hatten. Er sagte: 'Ich bin ein enger Mitarbeiter von Abu Bakr al Baghdadi, ihr wisst, wer das ist.' Ich sagte: 'Ja, das ist der Kalif'. Er sagte: 'Du hast großes Glück: Ich werde Dich zur Frau nehmen und ein Freund von mir wird Deine Schwester Nada nehmen.' Wir könnten uns glücklich schätzen, meinte er, so könnten wir wenigstens zusammenbleiben. Er könne natürlich auch anordnen, dass wir getrennt werden und jede von uns in eine andere Stadt gebracht wird. Ich habe mich dann scheinbar darauf eingelassen."
Zehra, die älteste der fünf Schwestern, redet und redet: Von einem Handy, das sie in Gefangenschaft fand, von einem Onkel, mit dem sie Kontakt aufnehmen konnte. Von immer neuen und immer abgewehrten Versuchen, ihr und ihren Schwestern Gewalt anzutun:
"Ich habe ständig neue Lügen erfunden, damit sie uns nichts tun: Ich habe ihnen gesagt: 'Meine jüngste Schwester ist blind, die Zweite hat Rheuma, die Dritte kann kaum laufen, Nada ist schwanger.' Das war alles gelogen. Aber so konnte ich uns immer irgendwie rausreden."
Etwas erfinden, eine Ausrede, eine Geschichte, die darauf hinausläuft, das Schlimmste nicht sagen zu müssen. Darum geht es auch jetzt, am Ende des Interviews mit den jesidischen Mädchen. Sie können nicht sagen, was wirklich geschah:
"Wir wissen von Frauen, die entkommen sind, dass IS-Kämpfer sie systematisch vergewaltigen. Sie teilen sie gleich nach der Entführung unter sich auf. Wenn sie dann genug von ihnen haben, verkaufen sie die Opfer und holen sich eine neue Gruppe."
Die kurdische Menschenrechtlerin Suzan Aref versucht seit Wochen, etwas über das Schicksal der 5.000 verschleppten Jesidinnen in Erfahrung zu bringen.
"Es ist offenbar so, dass sich der innere Führungszirkel der Dschihadisten die schönsten Mädchen aussucht. Der Rest wird auf einem Frauenmarkt verkauft. Wir wissen, dass es unterschiedliche Preise gibt: Christinnen sind teurer als Jesiden, weil es heißt: Jesidinnen haben keine Religion, das mindert ihren Wert. Angeblich werden junge Christinnen zurzeit für 1.000 Dollar gehandelt, Jesidinnen kosten die Hälfte. Die Frauen werden auch in arabische Nachbarländer verkauft. Es gibt in Mossul offenbar ein Büro, wo das organisiert wird. Dort hängen die Bilder der Frauen mit den dazugehörigen Preisen."
Von den 5.000 verschleppten Frauen kamen angeblich bislang 43 zurück. Wie, auf welchen Wegen und Umwegen, ist unklar. Es heißt, sunnitische Stammesscheichs in Mossul und Faludscha hätten die Freilassung vermittelt, gegen Bezahlung. Womöglich ist das die einzige Hoffnung für die Verschleppten. Womöglich sind auch die fünf Schwestern auf diese Weise freigekauft worden. Sie sagen es nicht.
Suzan Aref: "Wir wissen von freigekauften Frauen, dass sie zwar zurück zu ihren Familien gingen. Aber einige haben sich dann kurz danach umgebracht. Sie kehrten nun mal in eine sehr traditionelle Gesellschaft zurück. Und sie wussten: Als vergewaltigte Frauen waren sie auch in den Augen ihrer Familien entehrt. Das ist der schreckliche Ehrenkodex in dieser Gegend. Die Jesiden machen da keine Ausnahme. Sie können nicht hinnehmen, dass ihre Frauen missbraucht wurden. Sie sehen nur die verlorene Ehre. Sie sehen nicht das Leid, das den Frauen angetan wurde."